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Die Unschuld Schwedens: Das Bullerbü-Syndrom

Das Bullerbü-Syndrom bezeichnet die Liebe der Deutschen zum schwedischen Landleben. Doch wie viel Astrid-Lindren-Idylle steckt wirklich in der Realität? Wir fragen Bertholt Franke vom Stockholmer Goethe Institut, der den Begriff geprägt hat.

An einem kühlen Novembertag treffen etwa 70 deutsche Reiseveranstalter in der südlich von Stockholm gelegenen Kleinstadt Nyköping ein. In Schweden ist Nyköping vor allem für sein Mittelalter-Festival „Gästabud“ bekannt. Aber auf der Liste der beliebtesten Ferienorte wird man Nyköping nur bei sehr wenigen Schweden finden. Das gilt auch für die anderen Kleinstädte, denen die deutschen Gäste einen Besuch abstatten: Eskilstuna, Mariefred, Gripsholm und Trosa, alle in der Region Södermanland. Die Tourismusfachleute, die die Gruppe herumführen, sind besorgt wegen des tristen Novemberwetters. Aber einige Monate später erleben sie eine erfreuliche Überraschung: Fast die Hälfte der Veranstalter arrangiert von nun an Reisen ins Södermanland. Besser gesagt, ins Inga-Lindström-Land. Denn in Städtchen wie Nyköping, Mariefred und Trosa ist die Mehrzahl der mittlerweile 23 Inga-Lindström-Filme gedreht worden. In diesem Sommer sollen fünf weitere folgen.

Die Filme, die in Deutschland regelmäßig etwa sieben Millionen Zuschauer vor den Bildschirm locken, werden schon seit 2004 ausgestrahlt. Doch erst jetzt haben die Tourismuszentralen erkannt, welch ein Potential hier verborgen liegt. In Schweden sind diese Filme nämlich völlig unbekannt. Nur ein paar Ausschnitte wurden im schwedischen Fernsehen gezeigt, und zwar in Kultursendungen, die das Phänomen zu deuten versuchten. Wie ist es zu erklären, dass romantisch-idyllische Filme aus dem ländlichen Schweden in Deutschland ein Millionenpublikum erreichen?
Die nächste Frage wird dann mit einem etwas genierten Lächeln gestellt: „Du lieber Gott, glauben die Deutschen wirklich, dass wir die ganze Zeit so nett und lieb miteinander umgehen?“ Die Probleme, die viele Schweden bedrücken, wie die brutale Gewaltkriminalität unter Jugendlichen oder die ökologische Bedrohung der Ostsee, scheinen für das ständig „Hej“ rufende Inga-Lindström-Personal nicht aktuell zu sein. Und doch haben die Bilder einen hohen Wiedererkennungswert. Die meisten Schweden, selbst die eingefleischtesten New-York-Liebhaber, fühlen sich mit diesen Kleinstadt-Idyllen im Grünen irgendwie verbunden.

Entdeckung des Bullerbü-Syndroms

Einer, der versucht hat, das Phänomen „Inga Lindström“ zu analysieren, ist Berthold Franke, der Direktor des Stockholmer Goethe-Instituts. Als jemand, der seit fünf Jahren hier lebt, scheint er qualifiziert für einen nüchternen Blick auf die deutsche Schweden-Faszination. Er selbst hat dafür einen neuen Namen gefunden: Das Bullerbü-Syndrom. Nachdem er einen Essay zu diesem Thema in der Tageszeitung Svenska Dagbladet veröffentlicht hatte, wurde der Begriff im Frühjahr unter schwedischen Kulturjournalisten lebhaft diskutiert. Im Februar wählte ihn der Schwedische Sprachrat sogar zum „Neuen Wort des Monats“.

„Der Begriff hat eine Debatte ausgelöst. Viele Schweden fragten mich z.B. nach der deutschen Übersetzung, die sie offensichtlich ihren deutschen Freunden geben wollten. Das bestätigt meiner Meinung nach, dass es so etwas wie das Bullerbü-Syndrom wirklich gibt“, sagt Franke, als wir ihn in seinem Büro in der obersten Etage des Goethe-Instituts in der Stockholmer Innenstadt besuchen. „Meine Kollegen und ich sind selbst sozusagen Teil dieses Phänomens. Ich kannte die Bücher von Astrid Lindgren, lange bevor ich Abba, Volvo und Ikea kennen lernte. Und als im Jahr 2003 feststand, dass wir hier herziehen, rief meine Tochter sofort: Stockholm – da wohnt doch Karlsson!“ Das Goethe-Institut hat 147 Filialen in aller Welt. Die Chefs werden in regelmäßigen Abständen in andere Städte versetzt, ähnlich wie Diplomaten. „Raten Sie mal, welche Stadt auf unserer internen Wunschliste die begehrteste ist! Stockholm, gefolgt von Barcelona und San Francisco.“

Als das Stockholmer Goethe-Institut eine Ausstellung über Pippi Langstrumpf plante, begann Berthold Franke darüber nachzudenken, warum die Deutschen von der Welt Astrid Lindgrens so fasziniert sind – und von Schweden. Er meint, dass beides untrennbar zusammengehört. Deutschland ist neben Schweden das Land, in dem Astrid Lindgrens Bücher am populärsten sind. Etwa ein Viertel der Gesamtauflage wurde in Deutschland verkauft, und fast zweihundert deutsche Schulen tragen den Namen der Schriftstellerin. Von all ihren Geschichten, findet Franke, bringen „Die Kinder aus Bullerbü“ das Schwedenbild der Deutschen am besten auf den Punkt. „Pippi Langstrumpf hatte vielleicht mehr Leser, aber als eigentlich anarchistische Figur steht sie weniger für den deutschen Traum von Schweden als das kleine Bullerbü, das aus drei wunderhübschen Häusern besteht. Nicht wenige Deutsche stellen sich unter Schweden so eine Art Groß-Bullerbü hoch im Norden vor.“

Sehnsucht nach schwedischer Astrid-Lindgren-Idylle

Laut Berthold Franke wird das Bullerbü-Syndrom allerdings nicht von den Geschichten erzeugt, so gut sie auch erzählt sind, sondern von den Sehnsüchten, die dahinter stehen. Er weiß, wovon er redet: Das Bullerbü-Syndrom ist gleichbedeutend mit der Sehnsucht nach einer verlorenen Kindheit, nach einer unschuldigen Welt, in der Urbanisierung, Industrialisierung und vor allem der Zweite Weltkrieg niemals stattgefunden haben. „So könnte sich der innere Monolog eines deutschen Schweden-Liebhabers anhören: Wenn unsere Geschichte besser verlaufen wäre, wenn wir unsere Natur nicht vergiftet und unsere Dörfer nicht verlassen hätten, um in die Anonymität der Städte zu ziehen, wenn wir keine Kriege geführt und mehr Glück mit unseren Staatsoberhäuptern gehabt hätten, wenn wir uns am Rand Europas befänden statt in der begehrten Mitte, wenn wir nicht so viele gewesen wären … dann hätte so etwas Ähnliches wie Schweden aus uns werden können.“

Das Bullerbü-Syndrom hat also, meint Franke, sehr viel mehr mit Deutschland als mit Schweden zu tun. Es ist die Sehnsucht nach einem anderen Deutschland, eine Empfindung, die sich bis in die Romantik zurückverfolgen lässt. Dass gerade Schweden als Ziel dieser Sehnsucht herhalten muss, ist kein Zufall, glaubt er: In vielen Klischees findet sich ja auch ein Körnchen Wahrheit. „Tatsächlich entspricht Schweden in mancher Hinsicht dem deutschen Traumbild.“ Weil die Natur und das Landleben jener Utopie am nächsten kommen, sind sie das, was sich die Deutschen von Schweden  wünschen. Kaum jemand träumt von den großen Betonvorstädten rund um Stockholm, Göteborg oder Malmö – repräsentativ für den schwedischen Alltag erscheinen vielmehr die Kleinstädte, in denen die Inga-Lindström-Filme spielen. Zur Ikone dieses Naturverständnisses ist der Elch geworden. „Seit der Elch, den Cäsar noch als ein deutsches Tier beschrieben hat, aus unseren Wäldern vertrieben wurde, ist er das Sinnbild für einen schmerzhaften Verlust. Und die schwedische Natur ähnelt durchaus der norddeutschen Landschaft, wie sie früher einmal aussah.“

Deutsche Fiktion versus schwedische Realität

Zugleich sehnt man sich aber auch, erklärt Franke, nach einer sozusagen unschuldigen Kultur und einem sanfteren Gesellschaftsmodell nach schwedischem Vorbild. „Viele Deutsche, die in Schweden leben, staunen manchmal über eine gewisse Weltfremdheit, die sich die Schweden wohl nur erhalten konnten, weil sie seit 200 Jahren an keinem Krieg mehr beteiligt waren. Wenn wir schwedische Zeitungen lesen, wundern wir uns, wie viel Platz hier moralischen Fragen eingeräumt wird. Wie ernsthaft und ausführlich die Schweden über Themen wie Kindererziehung, psychische Probleme oder das Schicksal von Benachteiligten diskutieren, während um sie herum die Welt buchstäblich in die Luft fliegt. Das mag einerseits naiv erscheinen, aber andererseits ist es ein Zeichen dafür, dass diese Gesellschaft in hohem Maße zur Empathie und Solidarität fähig ist.“

So kann womöglich auch der Erfolg schwedischer Kriminalromane in Deutschland als ein Teil des Bullerbü-Syndroms betrachtet werden: Vor idyllischem Hintergrund wirken die schrecklichen Verbrechen um so grausiger. „Eine grauenhaft zugerichtete Leiche in einem Graben im ländlichen Schonen löst stärkere Gefühle aus als das gleiche Opfer in einer Seitenstraße der South Bronx.“, behauptet Franke. Die meisten Einwohner Schwedens – ob schwedisch oder deutsch – finden, dass das Land weder einem Inga-Lindström-Film noch einem Wallander-Krimi ähnelt. Die schwedische Realität ist in vielfacher Hinsicht sowohl besser als auch schlechter als diese Projektionen. Das Bullerbü-Syndrom, sagt Franke, funktioniert wie Verliebtsein. In der ersten, leidenschaftlichen Phase sieht man keine Fehler oder Mängel beim anderen. Mit der Zeit bemerkt man, dass der Partner zu laut lacht, dass er vergisst, seine Rechnungen zu bezahlen, und dass er „Resischör“ statt „Regisseur“ sagt. Dann muss man den Schritt zu einer dauerhafteren und realistischeren Liebesbeziehung wagen. „Nicht alle Deutschen, die in Schweden leben, müssen also ihre Zuneigung zu diesem schönen Land verlieren. Was mich betrifft, so gehöre ich zu den überzeugten Liebhabern Schwedens, aber ich gebe zu: in den langen, dunklen Wintern gibt es jedes Mal eine Beziehungskrise.”, schließt Berthold Franke mit einem Lächeln.