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Begegnungen im Niemandsland: Wandertraum Laponia

Das Naturreservat Sjaunja war einst Siedlungsland, zählt aber dennoch zu den am wenigsten entdeckten Teilen des Weltnaturerbes Laponia. NORR-Autorin Annika Berggren reiste mit dem Zug dorthin, um die grenzenlose Landschaft am Polarkreis zu entdecken und nach Spuren der Vergangenheit zu suchen.

Vom Bahnhof aus sieht man nicht mehr als den mächtigen Fluss Kaitumälven, Birkenwald und zwei Eisenbahnbrücken – eine schöne alte und eine stabile neue. Wenn man den Bahndamm überquert, entdeckt man Häuser und einen Kiesweg, der durch das kleine Dorf mit seinen weit verstreuten Gebäuden führt. Niemand ist zu sehen, als wir am Anfang unserer Wanderung neugierig herumspazieren und uns vorzustellen versuchen, wie das Leben für diejenigen, die immerhin vereinzelt noch hier wohnen, wohl gewesen sein mag und wie es jetzt ist.

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Der Bahnhof von Kaitum ist winzig klein. Er liegt an der Malmbanan, der Eisenerzbahn, zwischen Gällivare und Kiruna und besteht aus einem baufälligen roten Schuppen mit einer großen Uhr. Einer Uhr, die tatsächlich die korrekte Zeit anzeigt.

Kaitum besteht nur aus ein paar Häusern, in denen heute gerade mal eine Handvoll Menschen das ganze Jahr über wohnt. Dann gibt es noch eine Rentierweide – und natürlich die Kapelle von Kaitum. Wie das etwas größere Modell einer Sami-Kote steht sie im Zentrum der versprengten Dorfhäuser zum Gedenken an Dag Hammarskjöld, den früheren UNO-Generalsekretär und Friedensnobelpreisträger. Sie wurde 1964 errichtet, auf Initiative von Anders Labba, einem guten Freund und Wanderführer Hammarskjölds. Die Kapelle verschmilzt so vollkommen mit der Umgebung, dass man, wenn man sie betritt, das Gefühl hat, in die Natur hinauszugehen.

Das große Chorfenster scheint den Besucher sogleich wieder ins Freie zu entlassen. Durch die verglaste Dachöffnung fällt das Licht so natürlich, als wäre man draußen. Man kann dem Wunsch kaum widerstehen, hier eine Weile sitzen zu bleiben, um über das Vergehen der Zeit nachzudenken und darüber, wohin man unterwegs ist. Aber die Entdeckerlust siegt und so spazieren wir weiter.

Gastfreundschaft und Kunsthandwerk

Ein Lapphund kommt auf uns zu und begrüßt uns freudig. Aus dem oberen Stockwerk des Hauses ruft ihn sein Frauchen zurück. Wir kommen näher, wollen eigentlich nur ein paar Worte mit ihr wechseln, um ein wenig mehr über die Gegend, das Dorf und die Wanderwege nach Sjaunja zu erfahren. Kurze Zeit später sitzen wir bei Aina Fankki am Küchentisch. Auf dem Herd köchelt eine Kanne mit echtem Kochkaffee. Als Aina ihr Strickzeug zur Seite schiebt, um den Tassen Platz zu machen, kommt das Gespräch auf das Kunsthandwerk.

»Ich habe mit Zinnstickereien angefangen, aber das war nicht das Richtige für mich«, erzählt Aina. »Als ich es dann mit dem samischen Rotslöjd probiert habe, den Flechtarbeiten aus Birkenwurzeln, merkte ich, dass das etwas war, das ich schon in den Genen hatte und das ich weiterentwickeln konnte.«

Beim Erzählen dreht sie ihre Handflächen nach oben und betrachtet sie. Dann bekommt ihr Gesicht einen sehnsüchtigen Ausdruck. »Leider ist das eine sehr anstrengende Arbeit und meine Hände sind mit gut 80 Jahren nicht mehr das, was sie mal waren. Deshalb beschäftige ich mich jetzt hauptsächlich mit Stricken. Etwas muss man ja machen mit den Händen«, sagt sie, und nun strahlen ihre Augen wieder.

Entfernung ist subjektiv

Die Tassen werden zum zweiten und zum dritten Mal gefüllt. Wir bleiben lange sitzen und reden über alte Zeiten, über die Erinnerung und über das Neue, das auch hier Einzug hält. Die Straße zum Dorf wurde vor knapp vierzig Jahren angelegt, zwar nur als Schotterweg, der vom größeren Nachbardorf Killinge am Kaitumälven entlangführt, aber jedenfalls war es ein Weg. Moderner und noch sehr neu ist die große Windkraftanlage, die auf dem wenige Kilometer entfernten Berg Sjisjka steht.

Dass Entfernung etwas subjektiv Erlebtes, Veränderliches ist, wird deutlich, als Aina vom Umzug innerhalb Sjaunjas erzählt, in die dichter besiedelte Zone nahe der Eisenbahnlinie. »Meine Eltern fanden, dass es an der Zeit sei, zentraler zu wohnen«, sagt sie, und der Schalk in ihren Augen blitzt wieder auf. »Zentral« bedeutete damals ungefähr eine Stunde Fußweg bis zum Bahnhof.

Zur Nomadenschule in Killinge, die Aina besuchte, waren es »nur« etwa neun Kilometer, aber damals gab es die Straße noch nicht und so wohnte sie zusammen mit anderen samischen Kindern in einer der schuleigenen Koten. Rund zwanzig Schüler teilten sich eine Behausung. »Manche fanden es schrecklich, zur Schule zu gehen und von ihren Familien getrennt zu sein. Aber ich fand es spannend«, berichtet Aina. »Ich hatte ein eigenes Bett mit Bettwäsche und durfte Schwedisch lernen.«Ein intensives Leuchten umgibt Aina, während sie erzählt und uns ihr Erwachsenenleben schildert, das begann, als sie mit ihrem Mann nach Kaitum zog. Dann merkt man, dass sie stets wusste, was sie wollte, und dass sie bereit war, hart dafür zu arbeiten.

Naturgenuss auf dem Postpfad

Wir hätten unser Gespräch noch stundenlang fortsetzen können. Zum Abschied empfiehlt Aina uns ein Bad in dem See, in dem sie als Kind immer schwamm. Er liegt an dem Pfad, der uns ins Herz von Sjaunja führt, und war damals der ideale Rastplatz zwischen Påståjaure und Fjällåsen, wie sie berichtet. »Direkt am Weg – mit schönen Stränden und gutem Badewasser«, schwärmt sie. »Nicht mehr als eine gute Stunde von hier, wenn man zügig wandert.« Vom Bahnhof am Fjällåsen führt der Pfad fast direkt nach Westen zum weiter westlich gelegenen Fjäll mit den großen Moorgebieten, für die Sjaunja bekannt ist. Dort draußen gibt es noch einige alte Siedlungen und viele Spuren der Menschen, die hier, in der etwas klischeehaft so genannten »Wildnis«, ihr Leben verbracht haben. Inzwischen sind diese Familien längst weggezogen und haben sich in größeren, komfortableren Ortschaften angesiedelt.

Wir folgen einem der alten Zufahrtswege zum Sami-Dorf Påstavaara. Der Pfad oder Weg, auf dem wir uns befinden, ist in echter Handarbeit angelegt worden – ein sogenannter Postpfad, aufgeschüttet und mit Gräben an beiden Seiten, wo der Boden weicher und feuchter ist, und nur auf den trockenen Abschnitten von Steinen befreit. Besonders dort, wo er über die Moore führt, erkennt man die handwerkliche Machart klar an der Erhöhung, die leider allmählich von der Vegetation überwuchert wird.

Diese Postpfade waren die Kommunikationswege zwischen den im Land verstreuten Siedlungsplätzen und den Dörfern, die an der Eisenbahnlinie entstanden. Nach heutigen Maßstäben ist dies hier ein Fußpfad, aber als er gebaut wurde, galt er als Fahrweg. Aina hat uns erzählt, dass ihr Vater einer von denen war, die daran mitgebaut haben – für ein paar Öre pro Meter.

Wir haben es nicht eilig und der warme Tag liefert uns gute Gründe, sich auszuruhen, die Natur zu genießen und das zwischen Moorstrichen, Heideflächen und Höhenrücken wechselnde Gesicht der Landschaft wirklich zu betrachten. Es ist ein weitläufiges, flaches Terrain, das wir durchwandern. Nadelwald mit kurzen, kräftigen Stämmen, knorrige Fjällbirken und ausgedehnte Moore. Die Aussicht ist nicht wesentlich anders als vom Låpesjvare. Von dort oben sieht man ein Mosaik aus Mooren, Seen und Waldgebieten, das sich vor den niedrigeren Bergen Kussåive und Tuolpuk ausbreitet.

Natur- und Kulturlandschaft verschmelzen

Die Weite der Landschaft ist faszinierend, aber es ist oft nicht leicht, den Pfad wiederzufinden. Wir verirren uns, der Pfad verschwindet und wir müssen den Rückweg suchen. Ainas Badesee haben wir wohl verpasst, oder? Wir grübeln über die Beschreibung nach. Sind wir den Weg gegangen, an den sie sich erinnerte, oder haben wir vielleicht stückweise neuere Strecken benutzt?

Der Pfad durch die Natur ist ein Phänomen der Zeit: Er ist nicht neu, zeigt keine frischen Gebrauchsspuren, doch trotzdem wirkt er so ausgetreten und benutzt, dass mit Ausnahme der feuchteren Abschnitte nichts darauf hindeutet, dass er aufgegeben oder vergessen sein könnte.

Dann treffen wir auf die Gegenwart. Tiefe Vierradspuren haben das Bodengestrüpp aufgerissen und schwarze Streifen im Moos hinterlassen. Waren die Fahrer so rücksichtsvoll, dass sie ganz neue Wege benutzt haben, um die alten, vielbegangenen nicht zu zerstören, oder war es einfach nur zu schwierig, in der alten Spur zu fahren? Bald nähern wir uns unübersehbar dem See Påståjaure und dem Sami-Dorf Påstavaara. Als wir um eine Kurve biegen und plötzlich auf Weideland stehen, begegnen wir einem erstaunten Rentier. Eine ganze Weile schaut es uns abwartend an, dann wendet es sich ab und verschwindet zwischen den Fjällbirken.

Schützenswerte Heimat

In weiter Ferne sehen wir eine weiße Bergwand. Auf einer Linie mit dem Panorama führt die Telefonleitung zu einem abseits stehenden Haus. Wir schlendern weiter, zwischen den Häusern hindurch, tiefer in die Geschichte und tiefer in dieses halbwilde Naturreservat hinein. Wer in Sjaunja wandert, findet sich ständig am Scheideweg wieder. Zwar gibt es Pfade, aber sie sind nicht markiert, und manchmal trifft man auf Gabelungen, die nicht auf der Karte verzeichnet sind. Ohne festes Wanderziel laufen wir weiter, wie es uns gefällt, und versuchen lediglich, besonders nasse Stellen zu meiden.

Das Naturreservat von Sjaunja ist eines der biologisch wertvollsten Feuchtgebiete der Welt und hat einen unglaublich reichen Vogelbestand. Rund 170 Vogelarten wurden hier gezählt, von denen etwa 100 hier auch nisten, darunter auch die selten gesichtete Pfuhlschnepfe.

Wir sehen diesmal keine raren Vögel, aber als wir am Abend unser Zelt an einem See aufbauen, bekommen wir einen kleinen Eindruck von der Vogelwelt. Ein Schwanenpaar kommt aus großer Höhe angeflogen und scheint zur Landung anzusetzen, fliegt aber dann genau über uns hinweg und lässt sich auf dem nächsten kleinen Moorsee nieder. In der hellen Sommernacht hören wir die Schwäne noch lange rufen. Irgendwie klingt es hier viel mehr nach Wildnis, als wenn man den Schwanenruf zu Hause hört.

Die weite Wildnis erforschen

Das Naturreservat Sjaunja ist nach wie vor »unentdecktes « Terrain und hoffentlich darf es das noch lange bleiben. Dass Bergbaugesellschaften hier Prospektionsgenehmigungen beantragen und dass die Wasserkraftregulierung den Lauf der Quellflüsse verändert, gehört leider zu den nicht so schönen Nebenwirkungen der modernen Gesellschaft. Aber noch gibt es sie, die Wildnis, und erleben und erforschen kann sie jeder, der keine Angst vor nassen Füßen oder vor Mücken hat.

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