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Das nasse Finale

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Noch 3 000 Meter trennen Michael Tjelder vom Schwedischen Klassiker. Um sein Ziel zu erreichen, muss er ins nur 16 Grad kalte Wasser des Flusses Vanån steigen und die letzten Kilometer seiner Wettkampf-Odyssee schwimmend zurücklegen.

An einem Vorsommertag im Jahre 1950 saß der 24-jährige Mats Qvarfot mit seinem Freund Einar Anselius am Flussufer des Västerdalälven in Vansbro. Gemeinsam dachten sie darüber nach, wie man dem Schwimmen als Sportart zu größerer Beliebtheit verhelfen könnte. Schnell waren sie sich darüber einig, dass ein drei Kilometer langer Wettkampf, der unter allen sechs Brücken des kleinen Städtchens hindurchführen sollte, ein guter Anfang war. Zwei Kilometer stromabwärts im Vanån und einen Kilometer stromaufwärts im Västerdalälven schienen den beiden Freunden eine gute Streckenkombination zu sein. Ein wenig später kamen dann tatsächlich zehn tapfere Schwimmer zusammen, die bereit waren, die drei Flusskilometer schwimmend zurückzulegen. Auch Mats Qvarfot war dabei. Neun Teilnehmer kamen nach einer anstrengenden Schwimmtour ins Ziel. »Unterwegs stießen wir immer wieder mit schwimmenden Baumstämmen zusammen«, erinnert sich Qvarfot. Im darauffolgenden Jahr wurde der Fluss in der Nacht vor dem Rennen komplett von Flößerei-Holz befreit.

Geburtsstunde des schwedischen Klassikers

Der junge Schwimmenthusiast ahnte noch nicht, dass er mit seiner Wettkampfidee einen Stein ins Rollen gebracht hatte. Ohne das Vansbroschwimmen würde es nämlich gar keinen Schwedischen Klassiker geben. »Ja, ich bin der Vater des Klassikers, das nehme ich gerne auf meine Kappe«, sagt Qvarfot, der mittlerweile altersbedingt dem Wettkampfsport entsagt hat. Mitte der 60er Jahre diskutierte man in schwedischen “Schwimmen sie am besten gemeinsam mit jemandem, der ein ähnliches Tempo wie Sie hat. Dann fühlen Sie sich in dem breiten Fluss weniger allein.”Sportkreisen, wie man Breitensportlern einen Anreiz geben könnte, das ganze Jahr über hart zu trainieren. Im Herbst 1971 wurde aus den Gedankenspielen, Mats Qvarfot sei Dank, Wirklichkeit. Auf einem Treffen von Vertretern der größten Breitensport-Events in Schweden einigte man sich darauf, dass alle Männer, die innerhalb eines Kalenderjahres den Wasa- oder Engelbrektslauf, die Vätternrunde, das Vansbroschwimmen und den Lidingölauf erfolgreich absolvierten, ein Diplom für den »Schwedischen Klassiker« erhalten sollte. Und das sollte nicht einfach irgendein Diplom sein. »Um dem ganzen den richtigen Status zu geben, baten wir Prinz Bertil die Schirmherrschaft für den Schwedischen Klassiker zu übernehmen«, erzählt Mats Qvarfot. Nur ein Jahr später wurden tatsächlich die ersten Diplome verliehen. Einige Leute fragen immer wieder, warum der Engelbrektslauf, der 30 Kilometer kürzer als der Wasalauf ist, auch mitgezählt wird. Qvarfot weiß Bescheid: »Damals als wir mit dem Schwedischen Klassiker anfingen, durften Frauen noch nicht am Wasalauf teilnehmen. Der damalige Generalsekretär warvehement dagegen und wollte den Lauf den Männern vorbehalten. Daher habe ich dann die Veranstalter des Engelbrektslaufes angesprochen –dort durften die Frauen dann mitlaufen.« Fünf Jahre später, 1977, erhielten die ersten Frauen ihre Diplome. Seit 1981 dürfen sie auch beim Wasalauf mitmachen. In Vansbro waren Frauen aber von Anfang an, d.h. seit 1950, mit dabei. Vier von neun Teilnehmern, die das Ziel erreichten, sind Frauen. Heute, etwa ein halbes Jahrhundert später, gehen jährlich rund 5 000–6 000 Schwimmer an den Sandbänken unter der Eisenbahnbrücke in Vansbro an den Start. Ganz besonders interessant fand ich folgende Zeilen aus der Informationsbroschüre: »Schwimmen Sie am besten gemeinsam mit jemandem, der ein ähnliches Tempo wie Sie hat. Dann fühlen Sie sich in dem breiten Fluss weniger allein.«

Gut vorbereitet, ist halb gewonnen

Bevor es dazu kommen kann, versuchen wir jede einzelne Hautpore vor dem Start wasserdicht zu verpacken – mit Neoprenanzug und »Schlangensalbe « – ein Liniment, das den Kreislauf ankurbelt. Diese Hilfsmittel sind für eine halbwegs angenehme Tour in dem kalten Wasser unbedingt erforderlich. Den Neoprenanzug darf man übrigens erst seit 20 Jahren benutzen – eine viel diskutierte und buchstäblich schwere Doch die Wassermassen  des Västerdalälvens sind wie eine mächtige Wand. Keine Umgebung für Experimente.Entscheidung, wenn man außer dem Anzug auch noch die Salbe aufträgt. »Man soll ja nicht drei Kilometer lang frieren, sondern schwimmen «, sagt Gründer Qvarfot. So ist zumindest eine von zwei »Gefahrenquellen« beim Schwimmen eliminiert – die Kälte. Gerade dieses Jahr ist es außerdem ungewöhnlich warm im Vanån, ganze 16 Grad. Doch der Västerdalsälven, auf den wir später stoßen, ist ein paar Grad kälter. Die zweite große Herausforderung beim Schwimmen kann man leider nicht beeinflussen, ist es doch die Natur selber, die einem die Stirn bietet. Nach zwei Kilometern in relativ gemächlichem Takt mit der Strömung, wird die Tonlage des Wassers etwas lauter, soweit ich das unter der Badekappe hören kann. Anfangs bin ich ab und zu auf dem Rücken geschwommen und habe, einem Wal ähnlich, Wasserfontänen in die Luft gesprüht. Doch die Wassermassen des Västerdalälvens sind wie eine mächtige Wand. Keine Umgebung für Experimente. Sobald ichetwas langsamer werde oder anhalte, transportiert mich das Wasser sofort in die falsche Richtung. Ruhepausen sollte
man woanders machen. Auf den letzten tausend Metern sind einige Pontons im Wasser platziert, und die Mehrzahl der Teilnehmer kennt die harten Regeln. Wenn man auf Ansprache nicht reagiert, kann es passieren, dass man aus dem Wasser gezogen wird. Kraulen ist hier wesentlich effektiver als Rückenschwimmen. Dreihundert Meter vor dem Ziel sehe ich einen erschöpften Teilnehmer, der auf ein Ponton gezogen wird. In den Augen meiner Leidensgenossen sehe ich Verzweiflung. Mit dem Geschmack von Blut im Mund lege ich die letzten Meter bis ins Ziel zurück. Als ich endlich wieder festen Boden unter den Füßen habe, gratuliere ich Jörgen Haglund aus Brunfors, der soeben seinen Klassiker geschafft hat. Mir ist schwindlig und zur Sicherheit frage ich eine Frau neben mir, ob sich das so gehört. »Ja«, sagt sie, »mir war nach jedem Training schwindlig.«

Auf der Suche nach Herausforderungen

Mir wird mit einem Mal klar, dass ich noch nicht mal die halbe Strecke vorher probeweise absolviert habe. Das Vansbroschwimmen ist wohl nicht ganz in einer Liga mit den anderen Klassiker- Wettkämpfen. Den Wasalauf ohne Training zu machen, Sie haben einfach alle Wettkämpfe des Klassikers in direkter Folge gemacht.grenzt an eine Unmöglichkeit, doch drei Kilometer schwimmen kann man offensichtlich auch ohne Profiambitionen schaffen. Es gibt in der Geschichte des Klassikers jedoch eine Person, die immer mehr als notwendig trainiert hat. Fast schon legendarisch sind die Erzählungen wie Stig »Grytan« Eriksson zu seinem Namen kam (»Grytan« bedeutet auf Deutsch Kochtopf. Anm. d. Red.). 1960, nach einem besonders kalten Schwimmwettkampf, kroch Eriksson im Ziel in einen Riesenkochtopf mit brühendheißem Wasser, um seine Gliedmaßen wieder aufzutauen. Bei der Gelegenheit wurde er »Grytan« getauft. Eriksson, 1923 geboren, hat den Schwedischen Klassiker ganze 25 Mal absolviert. Außerdem stehen auf seiner Erfolgsliste: 47 Mal Vansbroschwimmen, 76 Marathonläufe, 33 Vätternrunden und 19 Mal Riddarfjärdsschwimmen. Doch es gibt schon einige Kandidaten für seine Nachfolge, die noch schlimmer drauf sind.

Einige Tage nach dem Wasalauf wurden im Fernsehen vier Jungs gezeigt, die etwas, das sie den »Richtigen Klassiker« nennen, absolviert haben. Sie haben einfach alle Wettkämpfe des Klassikers in direkter Folge gemacht. Sofort nach dem Zieleinlauf in Mora fuhren sie mit dem Fahrrad in einer eiskalten und schneereichen Nacht nach Bosön auf Lidingö, um in einem Schwimmbecken drei Kilometer zurückzulegen und danach mit dem Lidingölauf abzuschließen. Und dabei waren sie insgesamt auch noch schneller als ich, der ich ein ganzes Jahr Zeit gehabt hatte! Das fiel mir auf, als ich einige Wochen nach meinem erfolgreich absolvierten Klassiker stolz wie Oskar mein Diplom betrachtete. Ich könnte meine Zeiten noch ein wenig verbessern, fand ich.

Nächstes Mal.