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Die Geheimnisse der Sampo

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Unser schwedischer Reporter Steven Ekholm war mit einem Eisbrecher im Bottnischen Meerbusen unterwegs. Dabei brach auch das Eis zwischen dem Finnland seiner Kindheit und dem Finnisch-Lappland, das er und seine Tochter Rebecka auf dieser Abenteuerreise kennenlernten.

Eisbrecher haben mich schon immer fasziniert. Vielleicht deshalb, weil sie anders sind als alle anderen Schiffe. Die Farbe: der Rumpf immer schwarz mit senfgelben Aufbauten. Die Form: wie zehnstöckige Mietshäuser, breit und imposant. Die Namen: Tor, Ymer, Oden, Atle, Frej – lauter altnordische Muskelberge. Aber vielleicht faszinierten die Eisbrecher im Hafen von Sundsvall einen Jugendlichen in den 70er Jahren vor allem durch das Geheimnis, das sie umgab. Niemand, den ich kannte, hatte je das Innere dieser gewaltigen Schiffe gesehen. Eines Tages lagen sie plötzlich im Hafen. Wenn man Glück hatte, blieben sie wochenlang liegen und lieferten Nahrung für die Fantasie. Aber ebenso oft kam es vor, dass sie am nächsten Morgen verschwunden waren. Die Eisbrecher in der Bucht von Sundsvall waren in mehr als einer Hinsicht ein Teil meiner Kindheit.

FASZINATION EISBRECHER

Noch immer gibt es sehr wenige Orte auf der Welt, an denen man Gelegenheit hat, in das Allerheiligste der Eisbrecher vorzudringen und mit diesen Giganten in See zu stechen. In Skandinavien ist das nur im finnischen Kemi möglich, hoch oben am Bottnischen Meerbusen. Um die Mitte der 80er Jahre beschloss die Stadt in kluger Als Jugendliche fanden wir diese Schiffsreise spannend. Vor allem schenkte sie uns ein Gefühl der Freiheit.Voraussicht, dem finnischen Staat ganz einfach einen Eisbrecher abzukaufen. Die »Sampo«, die fast dreißig Jahre lang das Eis an der Küsten des Bottens zermalmt hatte, sollte ausrangiert werden. Die neuen, größeren Frachtschiffe erforderten größere und breitere Eisbrecher. Kemi griff zu, und seit 1985 besitzt die Stadt eine einzigartige touristische Attraktion: Man kann dort mit einem Eisbrecher für ein paar Stunden auf die zugefrorene Ostsee hinausfahren und bei Wassertemperaturen um null Grad im Rettungsanzug in die frisch aufgebrochene Fahrrinne springen. Es klang ganz einfach zu schön, um wahr zu sein. Deshalb beschlossen meine Tochter Rebecka und ich, die Sache zu testen, und fuhren Ende März mit dem Auto gut 500 Kilometer an der norrländischen Küste entlang, von Örnsköldsvik bis Kemi, knapp 25 Kilometer hinter der schwedisch-finnischen Grenze bei Haparanda.

Ich selbst bin in einer Art Grenzgebiet zwischen Schweden und Finnland aufgewachsen. Im Sundsvall der 70er und 80er Jahre war Finnland stets gegenwärtig. Die Schwerindustrie hatte viele hart arbeitende Männer und Frauen aus dem Nachbarstaat angelockt, und in allen Schulklassen gab es Kinder mit finnischen Eltern. Obwohl sie unseren Alltag teilten, mit uns spielten, Unfug trieben und Krach machten, hatten sie etwas Besonderes an sich, das manchmal exotisch und anziehend wirkte, manchmal hart und destruktiv. Dass man sich in einem Grenzland befand, war überall sichtbar. Aber nirgends wurde es deutlicher als in den Hafenstädten, in denen die Finnlandfähren an- und ablegten. Sowohl Sundsvall als auch Umeå waren stark geprägt durch den Fährverkehr mit dem finnischen Vaasa. Als Jugendliche fanden wir diese Schiffsreise spannend. Vor allem schenkte sie uns ein Gefühl der Freiheit. Sie war der Grenzübertritt zwischen unserer vertrauten, restlos kontrollierten Heimat und dem fremdartigen, wilden Nachbarland. Vaasa war die äußerste Grenze der Zivilisation, verlockend und furchterregend zugleich. Aber in den 70er Jahren war Finnland ja auch noch ein etwas mitgenommener, halb sozialistischer Staat, der unter der starken Hand des Präsidenten Urho Kekkonen versuchte, seine östlichen Nachbarn nicht zu reizen und dabei um jeden Preis die teuer erkaufte Selbstständigkeit zu behalten.

ZWISCHEN BETONBAUTEN UND EISBRECHERN IN KEMI

Inzwischen sind wir in Kemi angekommen. Eine Gruppe fröhlicher Engländerinnen in den Dreißigern sitzt in der Lobby des Hotels Cumulus und wartet darauf, abgeholt zu werden. Alle tragen den gleichen roten Scooter-Overall, bis zur Taille heruntergekrempelt, und haben die Sonnenbrille ins Haar geschoben. Laponia Safaris. The Lapland Connection. Irgendwie hip.

Kemi ist eine Kleinstadt in Finnisch-Lappland, die mit ihren gut 20 000 Einwohnern den Schwerkraftgesetzen der Zeit zu trotzen scheint. Wie ein Freiluftmuseum für Architektur führt die Stadt vor, dass hier in den 50er und 60er Jahren alles beseitigt wurde, was an die Vergangenheit erinnerte. Es scheint, als seien damals sämtliche Gebäude auf einmal abgerissen worden und in jenem sozialfunktionalistischen Stil wieder auferstanden, den die meisten Schweden aus ihren mittelgroßen Städten kennen. Bemerkenswert an Kemi ist, dass die meisten dieser grauen Betonbauten so gut erhalten sind. In Schweden ist eine weitere Abrisswoge über sie hinweggegangen, sie wurden durch Galerien und verglaste Shopping-Malls ersetzt. Aber nicht in Kemi. Und es sind sogar noch ein paar alte Häuser übrig. Im allerschönsten residiert eine Pizzeria. All das gehört zum finnischen Paradox, das für uns Schweden so schwer begreiflich ist.  Die meisten Gäste in unserem Hotel kommen aus Spanien, Israel, Deutschland, China und Italien. Die ganze Organisation atmet professionellen Massentourismus. Große internationale Gruppen, alle können sich zweckmäßige Kleidung ausleihen, alle erhalten Rundum-Betreuung und Führungen in verschiedenen Sprachen. Wir könnten uns ebenso gut auf Spitzbergen befinden. Oder in der Antarktis. Aber wir sind tatsächlich 25 Kilometer östlich von Haparanda.

GEHEIMNIS SAMPO

Es ist 12 Uhr. Wir fahren hinaus zum Eisbrecher »Sampo«, der im Industriehafen liegt, einige Kilometer außerhalb. Ein chinesisches Paar ohne rote Scooter-Overalls steigt aus einem Taxi. Die beiden sehen leicht geschockt aus, nachdem sie den Fahrer bezahlt Die Geräusche, die Krängung, der Ruck gehören eben dazu.haben, und kommen geradewegs auf mich zu. Ihre Fragen sind direkt: »Wir wohnen doch im selben Hotel?« Ja. »Wie sind Sie hierhergekommen?« Mit dem Auto. »Oh!« – »Dürfen wir mit Ihnen nach Kemi zurückfahren?« Natürlich. »Um welche Uhrzeit? Wann fahren wir? «Keine Ahnung. Je nachdem, wann wir zurückkommen. Okay? »Oh!« Ich kann nicht umhin, mich zu wundern, wie diese chinesischen Independent-Reisenden wohl auf eigene Faust hierhergefunden haben.

Auf der »Sampo« finden sich viele schöne Originaldetails mit dem Charme einer vergangenen Epoche, wie Messingteile und Sturmluken. Nur ist das Schiff zu einem tadellosen Restaurant umgebaut worden. An Bord steht uns ein eigener Guide zur Verfügung, der uns alle Geheimnisse des Eisbrechers enthüllen kann. Olli überreicht uns unseren individuellen Stundenplan für den Nachmittag. Da steht, wann wir den Kapitän auf der Brücke besuchen dürfen, wann wir den Maschinenraum besichtigen, wann wir essen, wann wir die Rettungsanzüge anlegen, uns auf das Eis hinausbegeben und in der Fahrrinne baden. »Gut organisiert« ist dafür ein viel zu schwacher Ausdruck.

Die Geräusche, als wir ablegen: ein Knirschen und Zischen tief unter uns und an beiden Seiten. Wie ein heftiger Hagelschauer auf einem Blechdach. Anfangs räumt die »Sampo« vor allem gefrorenen Eismatsch weg, aber dann stößt sie hier und da an die Packeiskante und legt sich schräg. Es kracht, und uns allen wird sehr deutlich bewusst, dass es mehr als einmal in der Geschichte der Seefahrt das Eis war, das Schiffe zum Kentern brachte. Einige Sekunden ist es ganz still, bevor wir beschließen, dass das hier einfach so ist, wie es sein soll. Die Geräusche, die Krängung, der Ruck gehören eben dazu. Zu Håkan, dem Fotografen, sage ich im Scherz etwas über die Titanic. »Ja, brrr!«, lautet seine Antwort. Er hat genau dasselbe gedacht.

Es stellt sich heraus, dass Wilson Tam und Elise Chan, unsere chinesischen Freunde, auf Hochzeitsreise sind. Wie meine Schwiegereltern, die irgendwann in den 60er Jahren ebenfalls Nordfinnland als Reiseziel für ihre Flitterwochen wählten. Ich frage mich, wie sie darauf gekommen sind. »Es ist hier so ruhig und friedlich. Und es ist so weit weg von Hongkong«, antwortet Wilson. »Außerdem ist es von China aus richtig schwer zu erreichen.« »Und wir lieben den Schnee«, sagt Elise. Ihre Route hat sie zuerst nach Rovaniemi geführt, von Kemi geht es wieder zurück nach Rovaniemi und dann hoch in den Norden bis Ivalo. Danach wollen sie Freunde in Oslo besuchen. Das zermahlene Eis gleicht einem Lavastrom, der sich in Zeitlupe voranwälzt. Das Wasser wirkt in dieser Kälte wie Sirup. Alle Bewegungen sind verlangsamt. Die endlose weiße Ebene sieht unglaublich schön aus. Wie eine Wüste aus Eis. Der größte Eisbrecher der Welt wurde, wen wundert es, in Russland gebaut. Die gewaltige, nuklear angetriebene »50 Let Pobedy« (»50. Jahrestag des Sieges«) lief schon 1993 vom Stapel, aber der Zusammenbruch der Sowjetunion, Mangel an Ersatzteilen und ein Brand waren die Ursachen dafür, dass das Schiff erst 2007 in Dienst gestellt wurde. Sein Heimathafen ist Murmansk, und es kann eine fast drei Meter dicke arktische Eisdecke knacken. Die »Sampo« schafft 80 Zentimeter.

GEHEIMNISVOLLES INNENLEBEN

Elli zeigt uns stolz den Maschinenraum und versucht, dessen zahlreiche Geheimnisse zu erklären. 3500 Tonnen, 74 Meter lang, 17 Meter breit, Diesel-Elektromotoren, 5600 Kilowatt, vier Propeller. Aber der gewaltige Lärm macht es im Prinzip unmöglich, zu hören, was er sagt. Rebecka und ich nicken höflich und finden das Gothic-Steampunk-Ambiente, das sich im Inneren der »Sampo« verbirgt, viel faszinierender. Ich spüre richtige Fräulein-Smilla-Schwingungen, als wir zwischen den blanken Maschinen herumklettern, und Rebecka sagt, hier müsste man mal ganz allein sein dürfen. Ich kann ihr nur zustimmen. Dann das Treffen mit dem Kapitän auf der Brücke: Man zeigt uns Karten und Navigationsinstrumente, aber jetzt lockt das Eis mehr als Tonnagen und Dieselmotoren. Es wird Zeit für den eigentlichen Zweck unserer Reise.

Die Guides erklären, in welchem Raum man sich umzieht, je nachdem, ob man einen großen oder einen kleineren Rettungsanzug benötigt. Two sizes fit all, könnte man sagen. Von den fast hundert Passagieren brauchen nur ich und vier andere die »Large«-Größe. Weg mit Schuhen, Schal, Mütze, Handschuhen und Jacke. Unter den dicken Gummianzügen ist zusätzliche Kleidung überflüssig. Meiner riecht wie ein gerade abgestreifter Spülhandschuh. Selbst für mich ist er geräumig, aber bei der Kapuze braucht man Hilfe, denn die Hände sehen in der Gummihülle aus wie riesige Klauen und taugen zu nichts mehr. Eine freundliche Frau zieht mir den Reißverschluss hoch, der Bart wird festgeklemmt und mein Gesicht zusammengedrückt, so dass ich wie ein chinesischer Faltenhund aussehe. Die enormen Beinteile schlottern um die Füße. So eng die Kapuze das Gesicht umschließt, so weit ist der Anzug von der Taille abwärts. Aus der Abteilung für kleinere Größen höre ich Håkans aufmunternden Zuruf: »Barbapapa! Barbapapa! «Ich bin bereit. A small step for humanity, but a giant leap for me. Wir klettern die steile Treppe zum Deck hinauf und steigen wieder hinunter für einen Landgang auf dem Packeis. Die »Sampo« ist bis zur Kante vorgedrungen und dann rückwärts gefahren und hat ein großes schwarzes Loch im Eis hinterlassen.

ROBBE FÜR EINE STUNDE

Ein paar Robben in roten Overalls plätschern schon darin herum. Wir dürfen uns auf die Eiskante setzen und auf dem Hintern ins Wasser gleiten. Ich hatte gedacht, man dürfte hineinspringen, aber man ist ja im Prinzip vollkommen unbeweglich, und man Alle Robben paddeln, stoßen zusammen – aber um zu gucken, mit wem man kollidiert ist, müsste man den Kopf heben, und das geht nicht, also paddeln und wenden. Es macht großen Spaß.weiß nie, wie man landen würde. Außerdem ist das Wasser, das uns ins Gesicht spritzt, kalt. Richtig kalt. Ist man einmal drin, kommt es nur noch darauf an, sich treiben zu lassen. Viel mehr kann man nicht tun. Man bekommt einen guten Eindruck davon, wie sich ein Baby auf dem Wickeltisch fühlt. Wenn man sich richtig anstrengt, kann man sich vielleicht umdrehen, aber man kann weder den Kopf hoch halten noch sich aufsetzen. Und ich habe es wirklich versucht. Nur Paddeln in Rückenlage ist möglich. Alle Robben paddeln, stoßen zusammen – aber um zu gucken, mit wem man kollidiert ist, müsste man den Kopf heben, und das geht nicht – also paddeln und wenden, paddeln und wenden. Es macht großen Spaß! Die Stadt Kemi betreibt die Aktivitäten rund um die »Sampo« in eigener Regie. Inzwischen besuchen jedes Jahr 10 000 bis 12 000 Touristen den Eisbrecher. Die meisten von ihnen kommen aus sehr weit entfernten Ländern. Ich staune darüber, dass ich, der ich doch aus dem Grenzland stamme, bislang nichts davon gehört hatte. Nach Kemi zurückgekehrt, setzen wir unsere Freunde Wilson und Elise am Hotel ab und wünschen ihnen eine glückliche Reise. Wir selbst ziehen für die zweite Nacht ins Hotel Merivalli um, nur einen Steinwurf weit entfernt, aber aus den späten 40er Jahren, nicht aus den kühlen 80ern wie das Cumulus. Die Zimmer sind groß und sehr hübsch, mit original erhaltenen Holzmöbeln. Rebecka hat sogar eine eigene Sauna. Und in der Lobby hängt ein unscharfes Schwarweißfoto des ehemaligen Landesvaters Urho Kekkonen. Alles ist so, wie es sein wollte.