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Siebzig Grad Nord

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Zwischen Lyngen- und Ullsfjord im äußersten Norden von Norwegen liegt die Halbinsel Lyngen. Markante Gebirgszüge und steile Felswände bieten perfekte Bedingungen für Bergsteiger, Skitourengeher, Freerider – und Eiskletterer.

In einem verdächtig hell wirkenden Blauton schimmert die Luft über dem Lyngenfjord. An der Meeresoberfläche breiten sich Rauchschwaden aus – als ob jemand das Meer mit Benzin übergossen und angezündet hätte. Direkt neben der Straße schimmern die Eismassen in tiefem Dunkelblau und verschiedenen Grüntönen. Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen. Alles deutet darauf hin, dass es richtig kalt sein muss. Der Blick auf das Außenthermometer unseres Fahrzeugs bestätigt meine Vermutung: minus 23 Grad und starker Wind aus Südost. Etwas windig, aber ansonsten perfekte Bedingungen. Schon bei unserer Ankunft in Tromsö erwartete uns eine vor Kälte hellbläulich schimmernde Stadt. Sogar die an das raue Klima gewohnten Einheimischen sprachen von abnormalen Temperaturen. Der milde Golfstrom setzt sich in der Regel erfolgreich gegen die arktische Kälte durch. Doch dieses Malwar es  umgekehrt. Direkt aus Russland strömte die pure Kälte in den Norden Norwegens und verwandelte die Landschaft in eine Art Eispark.

DER LOCKRUF DES EISES

Bereits im letzten Winter waren Benedikt Purner und ich zu Besuch in Norwegen, um die einzigartigen Eisklettermöglichkeiten dort genauer unter die Lupe zu nehmen. Doch auf Grund der hohen Temperaturen traten wir damals schon nach wenigen Tagen wieder die Heimreise an. Das Eis war schon kurz davor, sich zu verflüssigen und Klettern war keine gute Idee. Doch dann traf ich kurze Zeit später zufällig einen alten Bekannten wieder: Graham Austick betreibt seit zwei Jahren eine Lodge im Norden von Norwegen und ist auf Skitouren rund um den Lyngenfjord spezialisiert. Er zeigte mir einige Bilder von der atemberaubenden Landschaft und ich war sofort begeistert von dem besonderen Ambiente. Die Bergketten mit ihren markanten Graten und Gipfeln ragen über tausend Meter direkt aus dem Lyngenfjord heraus. Nicht umsonst heißen sie offiziell Lyngsalpene, die Lyngenalpen. Auf einem der Bilder aus Grahams großem Fundus war eine markante Eislinie zu sehen. Eis, so Graham, gäbe es am Lyngenfjord ohne Ende. Sofort breitete sich in meinem Gesicht ein entspanntes Lächeln aus. Wir würden einen zweiten Versuch wagen.

Die Straße Richtung Norden gleicht einem Eislaufplatz. 220 Kilometer müssen wir auf dieser Piste zurücklegen, um unser Basislager in Djupvik zu erreichen. Doch dank der Spikes auf den Reifen unseres japanischen Allradfahrzeugs kommen wir gut voran. Sind die Straßen einmal vereist, bleibt dieser Zustand für einige Zeit erhalten. Die bei knapp Die bei knapp siebzig Grad nördlicher Breite stets tief stehende Sonne schafft es nicht einmal zu Mittag über die Bergketten.
siebzig Grad nördlicher Breite im Winter stets tief stehende Sonne schafft es nicht einmal zu Mittag über die Bergketten. Von diesem Defizit an wärmender Energie sind auch die vertikalen Eisformationen betroffen, die sich neben der Straße auftürmen. Hier hätten wir uns ohne Probleme einige Zeit austoben können. Mit dem Fernglas erspähen wir schier unendlich viele Möglichkeiten zum Klettern. Wir kommen heil in Djupvik an. Graham hat uns hier eine besondere Unterkunft organisiert. Bei Torbjörn, dem Besitzer einer Fischer-Lodge in Sparkenes, einem Drei-Häuser-Dorf irgendwo am nordöstlichen Ende des Lyngenfjords, beziehen wir Quartier. Torbjörn zeigt uns das Haus, mit wenigen Worten ist alles erklärt. Stress scheint hier nicht zu existieren. Direkt am Strand des Lyngenfjords gelegen und umgeben von den eindrucksvollen Gipfeln der Lyngenalpen hatten wir nun ein ganzes Haus inklusive Sauna für uns. Wir sind beeindruckt.

PIONIERARBEIT MIT PICKEL

Unsere erste Tour führt uns nach Nordkjosboten. Trotz der klirrenden Kälte versuchen wir, nicht ganz untätig zu sein. Bei diesen Temperaturen ist das Eis extrem spröde und die Kletterei gestaltet sich äußerst herausfordernd. Die sechzig Meter des »Startfossen« sind uns für diesen Tag anspruchsvoll genug, vor allem der zweieinhalbstündige Zustieg im hüfttiefen Schwimmschnee hat es in sich. Filmemacher Hannes Mair und Fotograf Klaus Kranebitter erwarten uns mit klappernden Zähnen und klammen Fingern am Einstieg zurück. Halb tiefgefroren steigen wir zum Auto ab und freuen uns auf einen halben Liter heißen Kaffees und einen Riesenmuffin. Von Anfang an spüren wir die besondere Stimmung in Lyngen. Neben den mit Eisglasuren überzogenen Steinen am Strand vor unserem Haus, dem vom Sturm aufgewühlten dunkelblauen Meer oder der bizarr geformten Berge im Hintergrund hat vor allem die unglaubliche Ruhe, die über der Landschaft liegt, eine entspannende Wirkung auf uns.

Für uns ist es etwas ganz Besonderes, in eine Region zu kommen, in der es noch keine etablierte Eiskletterszene gibt. Außer auf einigen Bildern von Graham können wir kaum Informationen über die Eisfälle am Lyngenfjord finden. Bei den von uns gekletterten Routen haben wir bis jetzt keine einzige Begehungsspur gefunden. Am zweiten Tag finden wir in Kafjorddalen eine auf den ersten Blick nicht sichtbare Eisspur. An der Wand angekommen entpuppt sich die Linie als ein schmaler, jedoch lohnender Eisfall in einem Gully. Die 130 Meter von »Gullyvers Reisen«, wie wir die Begehung nennen, sind ein wahrer Genuss.

Am nächsten Morgen sind wir bereits sehr früh unterwegs. Mit der Fähre geht es über den Fjord noch Lyngseidet. Dort erwarten uns zwei Eislinen, die wir schon bei unserer Wir haben Glück, kurz vor dem nächsten Schneesturm genießen wir noch die herrliche Aussicht hoch über dem Fjord.Anreise mit dem Fernglas als blaugrün und golden schimmernde Eisspuren erspähen konnten. Bei relativ milden Temperaturen um minus 12 Grad klettern wir »Goldrush« und »Rapunzel«. Hannes und Klaus unternehmen eine Schneeschuhexpedition in dem steilen Gelände, um uns beim Klettern vor dem grandiosen Panorama richtig in Szene setzen zu können. Wir haben Glück, kurz vor dem nächsten Schneesturm genießen wir noch die herrliche Aussicht hoch über dem Fjord, bevor der Tag auch schon zu Ende geht. Bei völliger Dunkelheit tuckern wir mit der Fähre nach Djupvik zurück und bald darauf erleuchten grünlich und violett schimmernde Nordlichter den Himmel über Lyngen. Hannes und Klaus sind hinterher schwer beschäftigt, die vielen Aufnahmen zu sortieren. Das Nordlicht hat sie noch einmal richtig in Stress versetzt.

EIN ECHTER HÄRTEFALL

Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen, im dichten Schneesturm sind die sechs Kilometer zum »Spesiell Canyon« richtig abenteuerlich. Benedikt und ich entdecken diesen mehrere Kilometer langen Canyon Schritt für Schritt. An manchen Stellen ist die Schlucht nur wenige Meter breit und bis zu 200 Meter hoch. Man könnte fast Platzangst bekommen in diesem tiefen Graben. Wir suchen uns eine der schönsten Linien aus dem reichhaltigen Angebot aus und klettern die dünne und steile Linie »Manner mag man eben«. Am nächsten Tag wird uns bei minus 19 Grad die Entscheidung für einen Pausentag leicht gemacht. Die Kälte müsste sich laut den Prognosen eigentlich schon längst nach Russland zurückgezogen haben, aber die Luft schimmert immer noch in eiskalten Blautönen. Bei unserer Endeckungsreise im Canyon haben wir bereits unser nächstes Ziel entdeckt. Ganz hinten im Canyon stürzen im Sommer enorme Wassermassen in die Schlucht, der »Storfossen« ist dann eine spektakuläre Touristenattraktion. Im Winter bleibt der Fall allerdings meist unbeachtet, kaum jemand traut sich in seine Nähe. Während extremer Kälteperioden bildet sich hier ein Eisfall, der durch den großen Wasserdruck ständig seine Gestalt verändert. Wir sind also genau zur richtigen Zeit vor Ort.

Doch zuerst klettern wir zum Aufwärmen die meist frei stehenden Teile des »Kälteschock«. Beim Abseilen spüren wir eine gewisse Nervosität. Wir wissen, was jetzt auf uns zukommt. Ein Eis speiendes, gut 150 Meter großes Ungeheuer wartet darauf, Bereits am Weg zum Einstieg spürt man die Gefahr, sie scheint direkt in der Luft zu liegen.von uns bezwungen zu werden. Bereits am Weg zum Einstieg spürt man die Gefahr, sie scheint direkt in der Luft zu liegen. Am Boden liegen unzählige abgebrochene Eisblöcke, die wie eine Warnung im Canyon herumliegen. Der Eisfall selbst sieht skurril aus. Tausende Tonnen von Eis hängen eher instabil in der Wand. Wir brauchen eine ganze Weile, um eine sicher erscheinende Linie durch den Eisfall zu finden. Doch dann machen wir kurzen Prozess und klettern so schnell wie möglich durch den Giganten. Der »Storfossen« checkt danach als einer der härteren Fälle in unserer Tourenliste ein. Begeistert von der enormen Ausbeute an erstklassigem Eis kaufen wir uns einen tiefgefrorenen Lachs fürs Abendbrot und erweitern unseren Vorrat an Pokalen (norwegische Biersorte). Unser Trip neigt sich dem Ende zu, und wir suchen uns eine entspannte Location in Straßennähe, um noch eine kleine Abendtour zu klettern. Die Sonne scheint direkt auf die Formationen des neuen Spots, den wir »Roadside« taufen. Im zentralen Bereich fällt uns sofort eine besondere Linie auf. Über dünne Glasuren im überhängenden Gelände und frei hängende Zapfen sind wir hier noch einmal richtig gefordert, bevor wir uns mit Lachs und Bier entspannen können.

AUGEN ZU UND DURCH

Als Abschluss haben wir uns für den letzten Tage ein Abenteuer der etwas anderen Art aufgehoben. Wir wollen zur anderen Seite des Fjords, die nur per Boot erreichbar ist. Wir fragen Torbjörn, wo wir ein Boot inklusive Skipper mieten könnten. Er macht uns kurzerhand ein kleines Fischerboot mit 50 PS Außenbordmotor flott und wünscht uns alles Gute. Kurz bevor wir ablegen, informiert er uns noch darüber, dass bei starkem Wind oft keine Rückfahrt möglich ist. Er würde uns dann abholen. Augen zu und durch heißt die Devise – ich drücke den Gashebel ganz nach unten und schon fliegen wir über den Fjord. Das Boot ist richtig schnell, die Gischt spritzt über uns hinweg. Angekommen auf der anderen Seite des Fjords,  klettern wir direkt in der Sonne die 120 Meter von »Lyngen magic« hinauf. Besser könnte diese Reise nicht zu Ende gehen. Der Wind bleibt aus, auf dem Rückweg spiegelt sich die tief stehende Sonne in den Wellen. In meinem Körper breitet sich ein Gefühl vollkommener Zufriedenheit aus. Und Glück und Dankbarkeit.