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Stilles Wasser, blankes Eis

Mit dem Kajak ins Schlittschuh-Abenteuer. Eine eisige und waghalsige Expedition im Schärengarten von St. Anna.

Die Sonne geht hinter Norra Finnö unter, und Dämmerung legt sich über Gäddviken. Es wird eine sternklare, kalte Nacht werden. Die Kufen unserer Schlittschuhe bewegen sich in gleichmäßigem Rhythmus, rechts, links, rechts, links, die Stockgriffe folgen demselben Takt. Die Kajaks, die wir hinter uns herziehen, schlittern über die blanke Eisfläche und verursachen ein Geräusch wie fernes Gewittergrollen. Wir haben ein Zelt, Schlafsäcke, Proviant und Getränke für ein langes Wochenende in den Packluken verstaut. Mit Gepäck wiegen die Kajaks gut fünfzig Kilo. Trotzdem lassen sie sich an den Schleppleinen, die wir an einer Tankstelle gekauft haben, leicht ziehen. Unser Plan besagt, dass wir im äußeren Schärengürtel, an der Grenze zwischen Eis und Meer, abwechselnd Schlittschuh laufen und paddeln wollen. Aber es ist ein Plan, an den wirnoch nicht so recht glauben.

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Seit einigen Jahren träume ich davon, den Missjö-Archipel im Winter zu besuchen. Er gilt als Schwedens kleinteiligstes Schärengebiet, ein dichtes Mosaik von Mini-Inseln und Klippen. Aber zwischen dem Festland und dem Archipel friert das Meer nur selten Ich weiß nicht, ob das Eis für Schlittschuhe fest genug ist, es sieht jedenfalls blank aus.zu, und bislang habe ich das schöne Eis dort immer verpasst. So musste die Schlittschuhtour immer wieder ausfallen, und jedesmal war ich um so stärker besessen von der Idee, lag nächtelang wach und schmiedete Pläne.

Über eine Gruppe von Leuten aus Norrtällje, nördlich von Stockholm, hatte ich gehört, dass sie beim Schlittschuhlaufen manchmal Kajaks auf Rollen hinter sich herziehen. Aber was machen sie, wenn sie durch den Schnee müssen? Ich habe auch Bilder von dem dänischen Abenteurer John Andersen gesehen, dem die erste Kajaktour um Nordgrönland gelang. Streckenweise zog er den Kajak an seinem Rucksackriemen über das Eis. Aber er trug dabei keine Schlittschuhe. Wie ich auf den Gedanken gekommen bin, Schlittschuhe und Kajak zu kombinieren, weiß ich heute nicht mehr.

Im Frühjahr warteten der Fotograf Erik Olsson und ich auf ein Wochenende mit stabilem Hochdruckwetter und passablem Eis. Aber als das Hochdruckgebiet kam, wurde es tagsüber gleich mehr als zehn Grad warm, und die Schlittschuhläufer in Norrköping sagten, die Saison sei zu Ende. Ich telefonierte ein bisschen bei Leuten herum, die ganzjährig im Schärengebiet wohnen. »Ich weiß nicht, ob das Eis für Schlittschuhe fest genug ist, es sieht jedenfalls blank aus!« sagte Anders auf Kallsö.

Während der Autofahrt diskutierten Erik und ich die Schwachstellen unseres Plans. Zum Beispiel, dass es Streckenabschnitte gibt, auf denen das Eis zu dünn für Schlittschuhe und zu dick für Kajaks ist. »Und wenn wir es bis zur äußersten Schäre schaff en, während gleichzeitig das Eis zur Küste hin immer schlechter wird? Wie kommen wir dann zurück?« Auch diese Frage stellten wir uns. Wir einigten uns darauf, nur so weit hinauszufahren, dass wir am nächsten Tag noch ganz sicher den Rückweg schaffen würden. Außerdem beherrschen weder Erik noch ich die Eskimorolle. »Was machen wir, wenn die Kajaks umkippen und das Eis ringsherum so brüchig ist, dass man sich nicht hochziehen kann?« Wir dürfen ganz einfach nicht umkippen.

Auf dem Parkplatz am Ufer von Gäddviken schneiden wir Streifen von unseren Schaumstoff unterlagen und decken die Ruder damit ab, damit sie nicht beschädigt werden. Sicherheitshalber üben wir kurz, die Schleppleinen von den Kajaks abzumontieren, damit wir uns im Wasser nicht darin verwickeln. An diesem späten Freitagnachmittag können wir nur wenige Kilometer zurücklegen, bevor es dunkel wird, und schon bald müssen wir auf einer flachen Schäre unser Lager aufschlagen. Aber das macht nichts. Es ist ein schönes Gefühl, zu merken, dass es funktioniert, Schlittschuhlaufen und dabei die Kajaks ziehen. Wir inspizieren die Unterseiten der Boote, sie scheinen in Ordnung zu sein. Jetzt hängt alles vom Eis ab.

St. Annas eisiger Fußboden

Wir stehen mit der Sonne auf. Als wir noch beim Frühstück sind, kommt aus Richtung Gäddviken ein Paar in den Vierzigern auf Schlittschuhen angelaufen. Die beiden erzählen, dass sie aus Norrköping sind und dass sie vor ihrer Tour mit denselben Inselbewohnern telefoniert haben wie wir. »Heute ist mein Geburtstag, wir können bloß ein paar Stunden laufen, dann müssen wir nach Hause und feiern… Aber das hier ist ja auch ein schönes Geschenk«, sagt die Frau und sieht dabei ganz glücklich aus. Ihr Mann berichtet, dass er ebenfalls daran gedacht habe, ein Kajak im Schlepptau mitzunehmen. »Man könnte einen einfachen Schlitten bauen und Schlittschuhkufen darunter montieren«, sagt er. Unsere primitive Lösung betrachtet er mit skeptischen Blicken.

Erik und ich lassen die Kajaks erst einmal liegen und gehen auf Erkundungstour. Weit und breit nur festes Eis, abwechselnd dunkelgrau und milchweiß. Bei Aspöja im nördlichen Teil der Bucht Hafj ärden sehen wir gluckernde Wellen, in der Fahrrinne, die zum Arkösund führt. Die Fahrrinne ist nicht unterbrochen, aber sie ist hier schmal und hat starke Strömung. »Hier können wir paddeln und dann sehen, wie weit wir nach Norden kommen«, sagen wir uns und gehen zurück, um die Kajaks zu holen.

Wir haben unser Zuggeschirr wieder angelegt und streben nach Osten, auf die Bucht Hafjärden zu. Ein frischer Wind und leichter Nebel vor der Sonne verhindern, dass das Eis so rasch aufweicht, wie wir es befürchtet haben. Es ist schon kurz vor Mittag, und nur ein Schleier von Feuchtigkeit liegt auf der Eisfläche, wie ein silbriger Schatten. An einigen Engstellen brechen unsere Stöcke durch das Eis. Hier und da überqueren wir Risse, unter denen das Wasser gluckert, aber sie sehen nicht so aus, als ob sie sich in den nächsten Tagen zu off enen Rinnen erweitern würden. Das Eis ist stabil. Der Schnee, der es zuvor bedeckt hat, ist geschmolzen, und das Schmelzwasser ist dann von neuem gefroren. Daher rührt die harte Oberfläche, die mal blank, mal ein wenig uneben ist. Das Schärengebiet von St. Anna hat einen soliden Fußboden bekommen, und außer uns weiß kaum jemand davon.

Auf unserem Weg zum Meer sehen wir das Paar aus Norrköping wieder. An einem menschenleeren Wochenende wie diesem kommen wir uns vor wie Nomaden, die sich in einer Eiswüste begegnen. Die beiden haben inzwischen ein anderes Paar getroff en, und die vier sind gemeinsam bis zu den Außenschären gelaufen. »Ihr könnt noch weiter, an Hafjärden vorbei bis Gråskär. Das Eis ist auf der ganzen Strecke fest. Zwischen den äußersten Schären könnt ihr dann paddeln«, berichtet die Gruppe. Der Mann aus Norrköping fragt, ob er mal unter die Kajaks schauen dürfe. »Der Boden scheint ja zu halten«, stellt er verwundert fest.

Unterwegs zum Horizont

Später treff en wir eine Eispatrouille von den Naturfreunden in Norrköping. Sie machen eine Tour »auf gut Glück« und erzählen, dass alle anderen die Hoff nung auf das Eislaufen im Schärengebiet schon aufgegeben hätten. Gerade haben sie über das Mobiltelefon mit ihren Freunden gesprochen. »Die waren ganz neidisch, als sie hörten, wie toll es hier es hier ist!«, sagt der Tourleiter zufrieden. Im Schärengebiet von St. Anna gibt es weniger kleine Inseln und weniger Sommerhäuser als in den Gewässern vor Stockholm. Hier findet man keine aufgebrochenen Fahrrinnen.

Die St.-Anna-Schären sind flach, und sie werden zum offenen Meer hin immer flacher. Auf der anderen Seite von Hafjärden beginnen die eigentlichen Außenschären. Hier ist es so seicht, dass sich im Sommer nur wenige Boote herwagen. Das Inlandseis hat die Schären von Nordwesten her abgeschliffen. Die flachen Felsinseln sehen aus wie eine Walherde in einem Fischschwarm. Je weiter wir hinauslaufen, desto karger wird der Boden auf den Inseln. Die Fichten sind niedrig und krumm. Die übrigen Bäume, meist Ebereschen und Birken, wachsen nur so hoch wie Büsche. Im Sommer breiten sich hier leuchtende Teppiche von gelber Fetthenne aus, jetzt sieht man nur Flechten in matten Farben, Moos und vergilbtes Gras. In den Felsspalten liegt Schnee.

Die Heilige Anna war die Mutter der Jungfrau Maria. Der Name passt gut, denn hier ist alles jungfräulich, unberührt. Der schwedische Staat hilft, die Schönheit und Anmut von Mutter Natur zu bewahren. Wir bewegen uns zwischen Naturreservaten und Vogelschutzgebieten, etwas weiter nördlich befindet sich ein Schutzgebiet für Seehunde. Eiderente, Samtente und Eisente sind nur einige der Wasservögel, die an uns vorüberrauschen. Und wir sehen unglaublich viele Schwäne, so als hätte sich die gesamte Schwanenpopulation Schwedens zu einem vorgezogenen Frühjahrstreff en in den Außenschären von St. Anna versammelt.

Bei Gråskär liegt die Eiskante, wie angekündigt. Wir schirren uns ab, klettern auf die nördliche Landzunge und schauen aufs Meer hinaus. Der Wind hat abgeflaut. Man sieht den Horizont wie einen dünnen, weit entfernten Strich in der blauen, spiegelblanken Fläche. Sonst nur kahle, dunkle Felsinseln, die aus dem Wasser ragen. Weit draußen eine einsame schwarze Klippe. Könnte das eine der Borgarklabbar Klippen sein? Wie weit ist es bis dorthin? Wie groß ist sie? Keine Ahnung. Ich hatte nie geglaubt, dass wir so weit kommen würden. Meine Seekarte hört hundert Meter östlich von Gråskär auf.

Im Kajak zum Sonnenuntergang

Dann wird alles nur noch besser und besser. Als Schlittschuhlangläufer hat man instinktiven Respekt vor der Eiskante. Man kann über zentimeterdickes Eis gleiten, aber man kann nicht über das Wasser gehen. Dennoch möchte man man am liebsten immer weiter. Deshalb ist es ein schwindelerregendes Erlebnis, sich in den Kajak zu setzen, die Plane festzuzurren und vom Eis ins Wasser zu gleiten. Der Instinkt sagt: »Stop, das geht nicht!« Als ob man einen Berggipfel erklimmen und dann aufwärts weiterfliegen könnte.

Wir gleiten durch das klare Wasser, sehen den Blasentang und den stein eigen Grund unter uns. Wir brauchen uns nicht zu beeilen. Wir sind angekommen. Mit leichten Wir paddeln jetzt einfach in Richtung Sonnuntergang, dann werden wir schon sehen, wo wir landen. Nach unzähligen Paddelschlägen erreichen wir die Inselstrände, deren kleine Buchten noch vereist sind.

Die Luft ist hier rauher, fühlt sich in den Lungen frisch und kühl an. Natürlich ist die schwarze Klippe dort draußen unwiderstehlich. Eine schwache Abendbrise kommt auf und versetzt das Wasser in Bewegung. Die glatte Oberfläche verwandelt sich in einen tanzenden Teppich mit verschiedenen hellblauen und türkisen Farbnuancen. Als wir die letzte Schäre hinter uns lassen, wissen wir, dass wir nicht mehr zurückschwimmen können, wenn etwas schiefgeht. Aber was soll schon schiefgehen? fragen wir uns und paddeln weiter. Der Abstand zu der Klippe, deren Namen wir nicht wissen, scheint immer größer zu werden, je länger wir unterwegs sind. »Ist das etwa Gotland?« fragt Erik, der einen Krampf im Bein hat.

Es gibt keinen Orientierungspunkt. Erst als wir ankommen, merken wir, dass die Brandungshöhe inzwischen einen halben Meter beträgt, so dass sich die Wellen am Felsen brechen. Wir ziehen die Kajaks an Land. Von der Klippe aus, die etwa zehn Meter breit ist, schauen wir auf die St.-Anna-Schären, hinter denen gleich die Sonne untergehen wird. »Woher sind wir denn gekommen?« fällt uns plötzlich ein. In unserer Sehnsucht, aufs Meer hinauszupaddeln, haben wir nicht einmal den Kompass kontrolliert.

»Wir fahren jetzt einfach in Richtung Sonnenuntergang, dann werden wir schon sehen, wo wir landen«, schlage ich vor. Eine schmale Wolkenbank färbt sich romantisch lila, gelb und rosa, als die Sonne sie von unten beleuchtet. Vor uns spiegeln sich die Farben im Wasser. Es ist so schön, dass sogar die Seevögel schweigen. Als wir die erste Insel mit Vegetation erreichen, stellt sich heraus, dass wir auf dem richtigen Kurs sind. Es ist unsere Landzunge auf Gråskär. Ein Glück, denn mittlerweile ist es dunkel geworden. Wir ziehen die Kajaks wieder auf das Eis. Eine beachtliche Leistung – wir haben uns wie auf einer Schiene von West nach Ost und wieder zurück bewegt. Von Tyrislöt sind wir auf Schlittschuhen geradewegs nach Osten gelaufen, und jetzt sind wir direkt westwärts zurückgepaddelt. Für uns würde der primitivste Kompass der Welt ausreichen.

Tandoori mit Meeresblick

Ich gehöre zu der ziemlich großen Gruppe von Leuten, die an Fengshui glauben, ohne mehr von dieser Lehre zu wissen, als dass es Orte gibt, die sich »richtig« anfühlen. »Dies muss ein Feng-shui-Ort sein«, denke ich beim Anblick unseres Zeltplatzes, der einige Meter hoch über dem Wasser liegt und eine flache Felsplatte wie einen Altan vor sich hat. Auch der kleine Vogelbeerbaum hinter dem Zelt trägt zu diesem Gefühl bei, und natürlich die Aussicht auf die mondbeschienene Ostsee. Nach einem ausgedehnten Abendessen mit vegetarischem Tandoori-Eintopf, Couscous und ein paar Gläsern guten Rotweins schlafe ich wie ein Kind, das sich geborgen fühlt, obwohl meine Luftmatratze kaputtgegangen ist und sich langsam entleert.

Am nächsten Morgen weckt uns der Sonnenaufgang. Obwohl Rauhreif auf dem Gras liegt und die Wasserpfützen zugefroren sind, spürt man, dass es ein warmer Tag wird. Wir wollen zurückpaddeln und -laufen, bevor das Eis aufweicht. Aber der morgendliche Friede erlaubt weder Eile noch Stress. Heute paddeln wir in südlicher Richtung, immer an der Eiskante entlang. Ein kräftigerer Wind weht vom Land her. Wird das Eis sich lösen und ostwärts treiben? Wir bleiben im Windschatten hinter den Schären und paddeln so langsam, dass Schwäne und Seevögel nicht auffliegen müssen. Die Vogelstimmen vereinigen sich zu einer Natursinfonie.

Lass die Stöcke!

Ungefähr eine Stunde später kehren wir nach Gråskär zurück. Das Gerücht vom wunderbaren Eis scheint sich verbreitet zu haben. Auf der südlichen Landzunge von Gråskär ist eine große Gruppe vom Langlauf-Schlittschuhverein Linköping gerade beim Kaffeetrinken. »Gestern hättet ihr hier sein sollen!« sagen wir, obwohl es heute genauso schön ist. Dann laufen wir weiter nach Süden. »Lass die Stöcke! Einfach nur laufen!« ruft Erik begeistert. Er ist vollgepumpt mit Foto-Endorphinen, seit er den Eisstreifen direkt am Meer gesehen hat. Dort haben die Wellen alle Unebenheiten weggespült, das Eis ist glatt wie flüssiger Honig. Er will nicht, dass ich diese bildschöne Fläche mit meinen Stockspitzen zerstöre. Ich laufe mit Hochgeschwindigkeit und genieße es, nicht anhalten zu müssen. Wenn ich hinfalle, werde ich Erik die Schuld geben.

Bei der Insel Tallskär, die sich von den anderen durch ihren dichten Kiefernbewuchs unterscheidet, wird das Eis langsam schlechter, und die Luft erwärmt sich zusehends. Wir laufen in rascher Fahrt nach Norden, vorbei an Långa Skäret, wir staken vorwärts wie beim Endspurt eines Wettsprintens für Skilangläufer. Aber mehrere kleine Rinnen haben sich schon geöff net. Wir müssen sehen, dass wir nach Hause kommen. Wir haken die Kajaks fest und machen uns dann auf den langen Weg zurück nach Tyrislöt. Es wird ein Kampf gegen die Uhr, oder vielmehr gegen die Sonne. Das Eis taut jetzt schnell, und die Kufen sinken ein. Wir kämpfen uns voran, ohne zu reden und ohne anzuhalten. Der Haken der Zugleine bohrt sich in die Brust, Arme und Beine arbeiten heftig. Als wir schließlich Gäddviken erreichen, dämmert es schon, aber in der Seele ist es hell und warm. Ein heimlicher Schärentraum ist in Erfüllung gegangen.