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Waldgeflüster

Wurzel, Stamm und Moos mit allen Sinnen erleben – Waldbaden ist im baumreichen Skandinavien zu einem gehypten Trend geworden. Ein Selbstversuch im Nationalpark Söderåsen.

Die kleine Lichtung hat etwas Märchenhaftes. Wie eine Bühne in einem von der Natur geschaffenen Amphitheater breitet sie sich vor uns aus, vom milden Licht der schräg durch die Blätter hindurchscheinenden Sonne gänzlich in warme Farben getaucht. Der Waldboden ist von dichtem, grünem Moos überwachsen, das sich wie ein weicher, endloser Teppich über die Erde legt und die herumliegenden Felsbrocken wie versteinerte Fabelwesen aussehen lässt. Es ist fast ganz still. Einzig das unrhythmische Rascheln der Blätter und das knackende Knarzen der Äste im Wind sorgen für eine beruhigende Geräuschkulisse, dann und wann begleitet vom Gesang einiger Vögel.

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»Hier ist es perfekt«, sagt Felicia Eckersten, entledigt sich ihrer Schuhe und breitet ihre dunkelgrüne Yogamatte vor sich aus. Wir tun es ihr gleich, setzen uns im Schneidersitz nieder, schließen unsere Augen und lauschen dem sanften, meditativen Flüstern der Bäume.

Den Wald mit allen Sinnen erleben und in seine angenehme Atmosphäre eintauchen: Waldbaden nennt sich dieser Trend, der ursprünglich aus Japan kommt. »Shinrin-yoku« ist japanisch und bedeutet so viel wie Wald(luft)bad. Bereits seit den 1980er Jahren ist Shinrin-yoku in Fernost offiziell anerkannt: Mit einem staatlich finanzierten Forschungsprogramm hat man die medizinische Wirkung des Waldbadens nachgewiesen. Millionen Japaner vertrauen mittlerweile auf die Heilkräfte der Natur. Seit ein paar Jahren kann man Waldmedizin sogar studieren. Dass der Gesundheitstrend auch in Schweden immer mehr Anhänger findet, liegt nahe: Mit fast 70 Prozent Waldanteil an der Landesfläche gehört es schließlich zu den baumreichsten Nationen der Welt. Geführte Waldbadabenteuer gibt es neuerdings von Skåne im Süden des Landes bis hoch oben in Lappland über dem Polarkreis.

Auf ins waldige Schwimmbecken

»Für mich ist Waldbaden ein Fokus auf das Leben im Hier und Jetzt. Man ist ganz bei sich und in der Natur – frei von Ablenkung, Alltagssorgen und Stress«, erzählt uns Felicia bei unserer Begrüßung am Eingang des Söderåsen-Nationalparks in Südschweden, zwei Stunden, bevor wir die sonnenbeschienene Märchenlichtung erreichen werden. Mit der Schwedin als Guide werden wir unser erstes Waldbad bzw. »Skogsbad«, wie es hierzulande heißt, erleben. Felicia rüstet uns mit weichen Matten aus, die wir an unsere Rucksäcke schnallen. Mit einerausholenden Armbewegung zeigt sie auf einer Übersichtskarte auf eine dünne rote Linie, die sich in einer kleinen Schleife durch das Naturschutzgebiet schlängelt – der Weg, dem wir auf unserer Sinnesreise folgen werden.

Niemand will der Erste sein, der wohlmöglich mit der Zunge über den dicken Baumstamm fährt.

Felicia ist geprüfte Waldbademeisterin – eine Berufsbezeichnung, die noch keinen sehr großen Bekanntheitsgrad in Schweden genießt, ihn in Zukunft aber durchaus bekommen könnte. Denn im Wald zu baden ist etwas, wonach immer mehr Menschen ein innerliches Bedürfnis verspüren, berichtet sie uns, als wir unsere Wanderung durch den Nationalpark starten. »Die Ruhe der Bäume, die Natürlichkeit des Waldes – sie können uns Ausgeglichenheit und Kraft geben, wie man sie in einer hektischen Großstadt nicht finden kann. Und in einer Zeit, in der immer mehr Menschen ständig unter Strom stehen und jederzeit erreichbar sind, ist das Gold wert«, sagt sie, während wir über eine steinerne Treppe in Richtung eines Bergkamms wandern.

Habe ich vor einigen Minuten noch mit dem Gedanken gekämpft, dass es sich bei dem zugegeben etwas merkwürdig klingenden »Bad im Wald« um einen esoterisch angehauchten Hippiehype handeln könnte, muss ich nun zugeben, dass mich die Magie des Nationalparks bereits ein Stück weit in ihren Bann gezogen hat: Immer wieder blinzelt die Sonne durch die dichten Baumkronen, während der Wind die am Boden liegenden Blätter aufwirbelt, nur um sie nach einem kurzen Tanz in der Luft wieder fallenzulassen.

Loslassen und einlassen

Die Sehnsucht nach der Natur – auch sie selbst sei so zum Waldbaden gekommen, erzählt Felicia. Auf dem Land aufgewachsen, war sie bereits als Kind viel draußen unterwegs – so gut wie jeden Tag, zu Fuß oder auf dem Pferd. Doch das änderte sich mit dem Erwachsenwerden – insbesondere, als sie für ihr Studium in die Stadt zog. »Ich habe weiterhin Sport gemacht, aber ich habe trotzdem die Natur vermisst. So sehr, dass es mir irgendwann auch nicht mehr gut ging. Das war der Moment, in dem ich merkte, dass ich etwas ändern muss. Also bin ich wieder zurück aufs Land gezogen und habe mich umorientiert«, erinnert sie sich mit nachdenklichem Blick. Mit dem Waldbaden kam sie kurze Zeit später zum ersten Mal in Berührung: Im Rahmen ihres neuen Studiums im Bereich Natur. Ein Wink des Schicksals, wie sich bald herausstellen sollte: Die Besinnung auf die Natur brachte ihr nämlich nicht nur ihre Gesundheit zurück, sondern leitete fortan auch ihre berufliche Laufbahn.

Mit ihrem Start-up Force of Nature organisiert Felicia Events in freier Wildbahn und Outdoor-Aktivitäten, um Menschen die Natur näherzubringen – unter anderem das »Skogsbad«. Ein wesentlicher Bestandteil ihrer Arbeit ist zu zeigen, dass man sich der Natur in einer Art öffnen kann, wie man es höchstwahrscheinlich nicht gewohnt ist.

Nachdem wir den Bergkamm erreicht haben, bittet Felicia uns darum, uns im Kreis um einen Baum aufzustellen. Eine alte Buche mit breitem Stamm und dichter Krone, bestimmt 25 Meter hoch. Die Aufgabe: Wir sollen den hölzernen Riesen entdecken – mit allen Sinnen. Etwas unsicher, mit leicht hilflosen Blicken schauen wir einander an. Natürlich hat jeder in unserer Gruppe bereits Buchen gesehen – und manche sind diese als Kinder zumindest ein paar Meter emporgeklettert. Doch bewusst ertastet, gerochen oder sogar geschmeckt hat einen Baum von uns Waldbadschülern noch niemand. Unschlüssig schaut jeder in die Runde. Niemand will der Erste sein, der wohlmöglich mit der Zunge über den dicken Baumstamm fährt. Auch ich selbst zögere und merke in diesem Moment, wie seltsam es mir vorkommt, einen Baum zu erschnuppern. Es dauert daher etwas, bis ich mich fallen lassen kann, die anderen Gruppenteilnehmer vergesse und den glatten, vom Wetter und den vielen Jahren gezeichneten Stamm bewusst ertaste.

Doch wie riecht oder schmeckt Rinde? Feucht? Frisch? Harzig? Modrig? Süßlich? Noch nie zuvor habe ich mir diese Frage gestellt. Ich fahre mit meiner Nase am Stamm entlang. Als wir in unserer Gruppe anschließend der Reihe nach unsere Erfahrungen teilen, wird schnell klar: Es gibt keine richtige Antwort, sondern viele verschiedene. Jeder von uns nimmt etwas anderes wahr. Doch diese Übung sollte auch nicht dazu dienen, einen festen Geruch zu definieren. »Die Aufgabe soll euch zeigen, dass ihr der Natur noch viel näherkommen könnt, als ihr es vermutlich gewöhnlicherweise zu tun plfegt«, sagt Felicia.

Den normalen Wanderweg haben wir längst hinter uns gelassen und dringen immer tiefer in das Millionen Jahre alte Gehölz vor. Als Nächstes bittet die Waldbademeisterin uns, unsere Schuhe auszuziehen und barfuß weiter zu laufen. Für mich die nächste Überwindung: Denn normalerweise bin ich höchstens am Strand ohne Schuhe unterwegs – im Wald war ich das noch nie. Auch wenn das kitzelige Gefühl anfangs etwas ungewohnt ist: Auf dem größtenteils mit Laub und Moos bedeckten Waldboden läuft es sich erstaunlich bequem. Und irgendwie sorgt es auch in unserer Gruppe für eine spannende Dynamik: Einige balancieren über herumliegende Baumstämme, andere versuchen mit ihren Zehen kleine Zweige oder Steine aufzuheben. Das Barfußlaufen im Wald sei nicht ohne Grund eine ihrer Lieblingsübungen, sagt Felicia, der man anmerkt, dass sie häufig schuhlos unterwegs ist. »Man ist so direkt mit dem Waldboden verbunden, muss sich darauf konzentrieren, wohin man tritt, und spürt durch den Kontakt seinen Körper deutlich besser.«

Reaktivierung ungenutzter Sinne

In der Tat: Je länger ich durch das dichte Grün wandere, desto entspannter fühle ich mich und merke, wie sich mein Körper immer mehr mit dem Wald synchronisiert und seine Atmosphäre einsaugt: seine Langsamkeit, seine Ruhe und seine Idylle. Bereits beim zweiten Erfahrungsversuch mit einem Baum fällt mir alles viel leichter. Das Ertasten der Stammestextur, das Erschnuppern seines Geruchs, der sich je nach Nähe und Abstand in kleinen Nuancen verändert, und das Erschmecken der knorrigen Rinde, die auf der Zunge kitzelt. So, als ob sich die im hektischen Stadtleben oftmals verkümmerten Sinne wieder reaktivieren würden; die unendlich vielen Grün- und Brauntöne, die mannigfaltigen Geschmacksrichtungen und Gerüche. Unzählig sind die Adjektive, die mir einfallen, um sie zu beschreiben. Doch genau dieses Überlegen und sich dem Wald gänzlich hinzugeben, ist das Geheimrezept beim Waldbaden, betont Felicia immer wieder, während wir unseren Weg durch den südschwedischen Nationalpark fortsetzen.

Mittlerweile genieße ich jeden Schritt, die Unsicherheit vom Anfang ist längst verflogen. Dabei muss ich allerdings auch über mich selbst lächeln. Es ist schon seltsam, dass sich die meisten Menschen aus unseren Breitengraden bereits so weit von der Natur entfernt haben, dass sie erst wieder erlernen müssen, sich auf sie einzulassen. Die kleine märchenhafte Lichtung mit dem weichen, von der Sonne erwärmten Moosteppich ist die letzte große Station auf unserem Weg durch den Nationalpark Söderåsen. Nachdem wir uns auf unsere Matten gelegt haben, lauschen wir dem Flüstern des Waldes. Der Wind raschelt sanft in den Blättern, ganz in der Nähe knacken ein paar Äste unter der behäbigen Schwankbewegung der jahrhundertealten Baumriesen um uns herum.

Auf dem größtenteils mit Laub und Moos bedeckten Waldboden läut es sich erstaunlich bequem.

Einschläfernde Walddüfte

Auf dieser Reise, von der ich vor meinem Selbstversuch nicht ganz überzeugt war, und mich fragte, ob es sich nicht doch um eine esoterische Modeerscheinung handeln könnte, bin ich der Natur so nahegekommen wie nie zuvor. Denn auf unserer Wanderung haben wir der Natur nicht nur zugehört oder ihre unschätzbare Schönheit bewundert, sondern sie mit all unseren Sinnen erlebt: Wir haben an Ästen und Baumstämmen gerochen. Wir haben Baumrinden gespürt und Blätter erschmeckt. Und wir haben uns fallen gelassen – in eine Welt, die im Alltag oftmals in Vergessenheit gerät und die in ihrer urtümlichen Unberührtheit etwas magisch Anziehendes ausstrahlt.

Kurz blinzle ich in die Sonnenstrahlen, die wärmend durch die Bäume fallen, bevor ich die Augen schließe und Worte für die unzähligen Walddüfte in meinen Gedanken vorbeiziehen. Mein Körper wird schwer und ich ertappe mich dabei, wie ich kurz einnicke – mitten im Wald im südschwedischen Nationalpark Söderåsen. Felicia lacht: »Das passiert oft. Und zwar immer dann, wenn man sich komplett entspannt. Dann hat das Waldbad funktioniert.«

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