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Zwitschernder Sommernachtstraum

Die Sommernacht ist nicht still. Sie ist voller Leben, Lust und Geräusche, die bis hierher aus Afrika herübergeweht sind. Wir begleiten den Biologen Bo Söderström auf eine Abendpaddeltour in Fjärdhundraland nördlich von Stockholm und landen inmitten von fröhlichen Nachtgesängen.

Unsere Paddel plätschern leise, während sie durchs klare Wasser des Flusses Örsundaån gleiten. Hinter uns hören wir das Rauschen eines Autos, das durch das Zentrum von Örsundsbro fährt. Und natürlich hören wir auch Vögel, vereinzelte Gesänge von rechts und links, die in der Dämmerung viel klarer zu vernehmen sind. Das wird deutlich, als Bo Söderström eine Artbestimmung macht. Er hört auf zu paddeln und lässt das Kajak eine Weile lautlos gleiten. Er streckt den Kopf ein wenig vor und sagt »Eine Sumpflerche. Jetzt imitiert sie eine Laubsängerin.« Wir starren auf das Schilf neben uns und spitzen die Ohren. »Und jetzt eine Schwalbe«.

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Bo Söderström ist Biologe. Er ist außerdem Chefredakteur einer Umweltzeitschrift und hat mehrere Bücher geschrieben – über Katzen, Hunde, Hummeln und Schmetterlinge. Darüber hinaus war er in den letzten Jahren an der mittlerweile traditionellen Fågelsångsnatt (dt. Vogelgesangsnacht) des schwedischen Radiosenders P1 Naturmorgon beteiligt, einer achtstündigen Live-Sendung aus verschiedenen vogellreichen Gebieten in einer Nacht im Mai – mitten in der Brutzeit. Und deshalb paddeln wir jetzt mit ihm entlang der Örsundaån, an einem Abend Anfang Juni. In Richtung der Bucht Lårstaviken. Hier gibt es viel Schilf, Sumpf und Feuchtgebiete. Strandwiesen und Ackerland. Eine abwechslungsreiche Umgebung, in der sich Nachtvögel wohlfühlen. Ein Geräusch lässt ihn wieder aufhorchen. Aber es ist immer noch die Sumpflerche, die singt. Sie setzt ihr zufälliges Medley fort. Bo legt seine Hand hinter ein Ohr. »Rohrsänger. Großer Specht. Bienenfresser. Und das klang wie die halbe Liedzeile eines Laubsängers.«

Tonband aus Vogelstimmen

Auf Bos Kajak sitzt ein Mikrofon mit einer flauschigen grauen Schutzkappe, das alles eonfängt, was wir hören. Er nimmt oft die Vögel auf, denn obwohl es natürlich faszinierend ist, sie zu sehen, ist es noch faszinierender, ihnen zu hören. Während der Brutzeit, wenn die Vögel am aktivsten sind, ist es hier draußen wie in einem vielstimmigen Konzert ohne Dirigenten. Wenn man gegen Abend den Deckel ein wenig öffnet, singen die gefiederten Nachtsänger aus voller Kehle.

Eine Sumpflerche. Jetzt imitiert sie eine Laubsängerin. Und jetzt eine Schwalbe.

Aber heute hat es geregnet, ein richtiger Wolkenbruch hat den Örsundaån aufgepeitscht, und erst am Abend hat es aufgehört. Jetzt herrscht Ruhe nach dem Sturm, und ein zauberhafter Nebel schwebt über dem stillen Wasser. Die Vögel sind jedoch nach dem Unwetter etwas gedämpft. Sie zanken sich nicht mit ihren Schnäbeln, sondern singen einzeln. Das muss für uns, die wir sie identifizieren wollen, kein Nachteil sein. Aber wann sind eigentlich die besten Bedingungen, um die Nachtgesänge zu hören? »Im Prinzip den ganzen Mai. Am besten bei einer durchschnittlichen Windgeschwindigkeit von unter zwei Metern pro Sekunde«, erklärt Bo.

Der Örsundaån ist ein Fluss in der schwedischen Provinz Uppsala län. Er hat seinen Ursprung im Vansjön nordöstlich von Heby. Von dort fließt er zuerst nach Heby und danach weiter in südsüdöstlicher Richtung. Nahe dem Ort Fjärdhundra wendet er sich nach Osten und durchfließt den Alstasjön und anschließend den Ort Örsundsbro, bevor er in die Lårstaviken-Bucht des Mälaren-Sees mündet.

Anfang Juni ist normalerweise auch eine gute Zeit, aber mit dem Klimawandel beginnen die Vögel immer früher mit ihren Brutvorbereitungen. Bereits Ende Mai lässt der intensivste Vogelgesang nach. »Und die Amseln sind bereits in ihrer zweiten Brutphase. Es ist beängstigend, wie schnell das geht. Für einen Mann wie mich ist das stressig«, sagt Bo und lächelt.

Wenn die Wetter- und Brutbedingungen stimmen, lässt er alles stehen und liegen und macht sich auf den Weg. Aber das bedeutet nicht immer, dass er die ganze Nacht unter einem Busch sitzt. Heutzutage geht er oft hinaus und baut Mikrofone dort auf, wo er weiß, dass es lebhaft zugehen wird. Oft setzt er sogenannte Baumohren ein, das sind zwei kleine Mikrofone an einem Baumstamm, die etwa so breit wie ein menschlicher Kopf sind, um den besten Stereoeffekt zu erzielen. Wenn er am nächsten Morgen die Aufnahmegeräte wieder einholt, ist es wie an Heiligabend. »Dann setze ich mich an den Computer und schaue, ob ich etwas eingefangen habe«, sagt er.

Während der Brutzeit, wenn die Vögel am aktivsten sind, ist es hier draußen wie in einem vielstimmigen Konzert ohne Dirigenten.

Wildes Durcheinander

Am Horizont zeichnen sich rosa Streifen ab, und die Abenddämmerung schleicht sich heran. Die Spiegelungen im zuvor so glänzenden Wasser werden matter. Und wir nähern uns der Biscayabucht des Örsundaån, also dem Ort, an dem die Biber (anstelle der Schwertwale) normalerweise Leute wie uns aufspüren, um zu scherzen. Wir beginnen, über das Wasser zu spähen, um zu sehen, ob ein mürrischer Biber unterwegs ist. Aber dann fliegt eine Schar Kraniche in perfekter V-Formation über die Baumwipfel. »Das sind jüngere Kraniche, die dieses Jahr nicht brüten. Sie sind auf dem Weg zur Bucht Hjälstaviken, um dort zu schlafen«, sagt Bo. Er reagiert blitzschnell auf eine weitere Bewegung aus dem Augenwinkel. »Reiher!« Jetzt passiert wirklich alles auf einmal. »Ein Eisvogel!«, ruft Bo. Er flattert schnell vorbei. Und dann hören wir das zirpende Geräusch von Heuschrecken? »Eine Grasmücke. Die sind so cool. Die können diesen Gesang ewig halten. Man fragt sich, ob sie überhaupt atmen«, sagt Bo. Wahrscheinlich sitzt sie tief in einem Busch. Sie ist schwer zu sehen. Aber – wir sind schließlich hier, um zuzuhören. Und immer mehr abendaktive Vögel melden sich zu Wort. Die Waldschnepfe. Der Kuckuck. Und dann – platsch! Ein Biber zeigt, dass er uns im Auge hat, und schlägt eine ordentliche Fontäne, bevor er unter die Oberfläche taucht.


Die kleinen Wolkenstreifen am Himmel haben eine glühende Unterseite bekommen. Dann ist in der Ferne die Nachtigall zu hören. Und dann eine Rohrsänger auf jeder Seite des Flusses. »Die können die ganze Nacht singen, so lange sie wollen. Sie sind so nervig, dass man sie irgendwann satt hat«, sagt Bo. Die Seggenrohrsänger sind genau wie die Sumpfrohrsänger Nachahmer, aber sie ahmen schlechter nach. Dafür singen sie, gelinde gesagt, intensiv. »Dieses Jahr gibt es deutlich weniger Seggenrohrsänger. Dafür mehr Sumpfrohrsänger. Die Sumpfrohrsänger profitieren von längeren und wärmeren Sommern. Es gab sie schon immer in Skåne, aber hier oben waren sie seltener«, sagt Bo. Und tatsächlich hören wir mehrere Sumprohrsänger. Sie begleiten uns auf unserer gesamten Reise, auf dem Weg zum Lårstaviken und zurück, mit ihrem bunten Potpourri aus nah und fern. »Was war das?«, frage ich, als unser Freund, der Sumpfrohrsänger, zu einem rasselnden Laut übergeht. »Das könnte etwas Afrikanisches sein, das er mitgebracht hat«, sagt Bo. »Er verbringt ja die meiste Zeit in Afrika. Er kommt Ende Mai und fliegt nach der Brutzeit Anfang August wieder weg«, sagt Bo und fährt fort, über die Playlist des Sumpfrohrsängers zu berichten. »Blaumeise. Nachtigall. Es ist typisch für Sumpfrohrsänger, alles gleichzeitig zu mischen. Buschrohrsänger hingegen halten ihre Imitationsgesänge etwas länger.«

Klang von überirdischen Wesen

Bo erzählt, dass vor ein paar Jahren ein anderer talentierter Imitator, die Rubinnachtigal, zu Besuch in Västergötland war und Vogelliebhaber aus nah und fern herbeiströmten, um einen Blick auf ihn zu erhaschen – und nicht zuletzt, um ihn zu fotografieren. »Als er im zweiten Winter zurückkam, fing er an, das Klicken der Kameras zu imitieren.« Die Imitatoren wetteifern darum, wer das vielfältigste Repertoire hat, um einen Partner zu beeindrucken. Je älter sie werden, desto mehr Laute lernen sie. Sie leben maximal drei Saisons. Und werden immer besser und besser. »Der ist gut. Ich komme kaum hinterher«, sagt Bo über den kleinen Künstler, der sich im Schilf versteckt.

Fink. Bachstelze. Dohle. Es hört nie auf. Wir hören so viele Vogelstimmen von diesem Sumpfrohrsänger allein, dass wir schon jetzt nach Hause fahren könnten. Und tatsächlich ist es Zeit, umzukehren. Gegen ein Uhr beenden unsere Nachtvögel ihre Abendvorstellung. Dann kommen die ersten Drosseln, und die Tagvögel übernehmen.

Als wir Lårstaviken erreichen und uns wieder in Richtung Örsundsbro wenden, hören wir ein mystisches Geräusch. Es klingt wie ein Dampfschiff oder wie derdumpfe Laut, wenn jemand in eine Flasche bläst. »Die Rohrdommel. Sie ist ein paar Kilometer entfernt.« Das habe ich noch nie zuvor gehört. Oder vielleicht doch, ohne zu verstehen, dass es ein Vogel ist, der dieses Geräusch erzeugt. In der Dämmerung klingt es noch magischer. Wie ein überirdisches Wesen. »Warum paddelt man nicht öfter nachts?« sagt die Fotografin Emma verträumt, und ich stimme ihr zu.

Eine kleines, fleckiges Sumpfhuhn gibt ein Geräusch von sich, das wie ein Tropfen auf das Wasser klingt. Und schon sind wir wieder in Örsundsbro, umgeben von Dunkelheit. Bo nimmt das Mikrofon vom Kajak. Jetzt wartet die Bearbeitung, und dann veröffentlicht er die Tonaufnahmen auf seiner Website und auf Soundcloud. »Ich kenne Leute auf der ganzen Welt, die Aufnahmen in der Natur machen und sie dort veröffentlichen. Natürlich mache ich das auch ein bisschen für andere, aber hauptsächlich für mich selbst. Weil ich es so toll finde.«

Manche Morgen sind magisch. Wenn sich der Klang ausbreitet. Die ganze Landschaft wird zu einer Echokammer.

Von Oktober bis März hört er sich gerne seine eigenen Aufnahmen an, wenn er sich entspannen oder einfach nur den Vogelgesang genießen möchte. Nach 40 Jahren als Vogelbeobachter hat er viel über verschiedene Arten gelernt, aber gerade durch das Zuhören hat er wichtige Schlüssel zum Verständnis des Vogellebens gefunden. »Ich nehme jetzt seit vier, fünf Jahren auf und habe auf diese Weise viel mehr über Vögel gelernt. Ich hatte ein lokales Eulenpaar in Nåsten, das ich aufgenommen habe. Ich habe alle Laute der Weibchen gehört, wie sie vor der Paarung aggressiv klingen. Laute, die ich noch nie zuvor gehört habe und die bisher kaum dokumentiert sind«, sagt Bo. Er hat auch Infraschall unter 20 Hertz aufgenommen.

Ein Mensch mit perfektem Gehör hört normalerweise zwischen 20 und 20.000 Hertz. Alles unter 20 ist eher ein kaum hörbares Rumpeln. »Ich hatte Glück mit einem Auerhahn, der praktisch auf dem Mikrofon stand, und ich sah, dass etwas brummte. Zuerst dachte ich, es sei ein Geräusch von einem Auto. Aber schließlich wurde mir klar, dass es der Vogel war, der diese Geräusche machte. Durch die tiefen Frequenzen können sie über große Entfernungen kommunizieren«, sagt Bo. Aber auch wenn alle Vögel faszinierend sind, haben die Nachtvögel etwas Besonderes. Wie sie zum Leben erwachen, wenn die meisten von uns schon schlafen gehen. Und wie in der Dämmerung und in der frühen Sommermorgenstunde Magie entsteht. Manche Morgen sind magisch. Wenn sich der Klang ausbreitet. Vielleicht hat das mit der Luftfeuchtigkeit zu tun. Oder mit Inversionswetterlagen in verschiedenen Höhen. Die ganze Landschaft wird zu einer Echokammer.

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