Ein Märchen von Salz und Tang
Die kleine Insel Læsø im Kattegat ist nicht nur bekannt für ihre märchenhaften Bauernhäuser mit Seegrasdächern und die traditionelle Salzsiederei. Auf dem Eiland lassen sich auch viele kleine und große Abenteuer in Küstenwäldern, an Stränden und am Meer mit Kind und Hund erleben.

Der Wind trägt den Geruch von Tang. Sanfte Wellen schäumen ans Ufer, das Meer glitzert bis zum Horizont, wo es nahtlos in den Himmel übergeht. Über den Salzgraswiesen steigt mit trillerndem Gesang eine Feldlerche senkrecht in die Luft und lässt sich im Sturzflug wieder in Deckung fallen. Wir gehen langsam über den Strand, der hier nur noch ein schmaler Streifen ist. Der schneeweiße Sand ist durchzogen von unzähligen Vogelspuren, die vom frühen Morgen erzählen – vom Kommen und Gehen der Austernfischer, Regenpfeifer und Möwen. Meine Tochter Lovisa stapft ein paar Schritte voraus und sucht nach Muscheln. Unser Curly Coated Retriever Lowe läuft hinterher, die Hundenase fast manisch auf den Boden gerichtet, bis er plötzlich triumphierend ein knisterndes, braungrünes Bündel apportiert. Dass sein stolz ergatterter Schatz jedoch keine Rarität ist, muss er feststellen, als sich nur wenige Schritte entfernt kniehohe Wälle aus getrocknetem Aalgras auftürmen – jenem Material, für das diese Insel so bekannt ist.
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Es ist unser erster Tag auf dem dänischen Eiland Læsø – der größten Insel im Kattegat, etwa auf halber Strecke zwischen dem dänischen Frederikshavn und der schwedischen Küste bei Göteborg gelegen. Mit einer Fläche von rund 114 Quadratkilometern und etwa 1.800 Einwohnern ist sie nur spärlich besiedelt. Wir haben uns vorgenommen, über die Strände und durch die Küstenwälder von Læsø zu streifen. Wir möchten mehr über die Geschichte der berühmten Bauernhäuser mit ihren charakteristischen Seegrasdächern erfahren – weltweit einzigartig und ausschließlich hier zu finden. Und wir möchten Menschen treffen, die auf der Insel leben und für ihr ganz eigenes Handwerk brennen.

Die Sonne lugt an diesem Aprilnachmittag schüchtern aus den Wolken. Die Luft ist erfüllt vom Rufen der Küstenseeschwalben, die über das Meer jagen. Wir wandern in ruhigem Tempo, bauen zwischendurch Sandburgen und halten immer wieder inne, um die Wellen zu beobachten, die sich hier – an der Spitze der sichelförmigen Halbinsel – aus mehreren Richtungen schäumend überlagern. Die Landzunge schiebt sich langsam in die See hinaus, und ihre Form ändert sich mit Wind, Strömung und Jahreszeit. Lowe springt genüsslich in die Fluten und apportiert jede Menge weiteres, kurioses Treibgut. Seine Ohren flattern im Wind, als er sein nasses Fell in der Sonne trocknen lässt.
Der schneeweiße Sand ist durchzogen von unzähligen Vogelspuren, die vom frühen Morgen erzählen – vom Kommen und Gehen der Austernfischer, Regenpfeifer und Möwen.
Als wir an die andere Seite der Nehrung gelangen, stehen wir vor einer glitzernden Lagune. In den ruhigen Flachwasserzonen tummeln sich Austernfischer und Regenpfeifer. Die Abendsonne sinkt langsam herab und hüllt Strand und Meer in goldenes Licht. Lovisa wagt sich mit ihren Gummistiefeln immer weiter ins Wasser, wirft kleine Steine und beobachtet fasziniert, wie die Kreise, die sich um sie herum auf der Wasseroberfläche bilden, langsam wieder verschwinden.

Wiederbelebtes Handwerk aus alten Zeiten
Wer die Geschichte dieses pittoresken Eilandes ganz verstehen will, kommt am Handwerk des Salzsiedens nicht vorbei. Also machen wir uns auf den Weg zur Læsø Saltsyderi – einem kulturhistorischen Projekt, wo wir Direktor Jonas Erik Kjellberg zwischen dampfenden Sudpfannen und rekonstruierten Siedehütten aus dem Mittelalter treffen. »Læsø begann sich nach der letzten Eiszeit – vor über 10.000 Jahren – langsam aus dem Kattegat zu heben«, erklärt Jonas. Die junge Insel ruht auf einer dichten Lehmschicht, die Wasser kaum versickern lässt. Nach Sturmfluten sammelte sich salzhaltiges Meerwasser in flachen Senken im Inselinneren. »Durch Verdunstung steigt dort der Salzgehalt – und genau dieses salzhaltige Grundwasser nutzten die Menschen seit dem Mittelalter zum Salzsieden.«
In dunklen Siedehütten verdampfte man die Sole in großen Eisenpfannen über offenen Holzfeuern. Zurück blieb kristallines Salz, das mit Holzschaufeln abgeschöpft und in Körben getrocknet wurde.Das Salz war damals ein bedeutender Wirtschaftszweig für die Insel – es wurde in großen Mengen produziert, getrocknet und per Schiff in andere Teile Dänemarks und Nordeuropas exportiert. Lovisa betrachtet schweigend die dampfenden Pfannen und das flackernde Feuer. »Die Salzproduktion hatte ihren Preis«, sagt Jonas. »Für jede Pfanne brauchte man Unmengen an Holz. Irgendwann war die Insel fast kahl – 1652 musste die Siederei eingestellt werden. Es fehlte schlicht am Brennstoff.«

Da Læsø infolge der Entwaldung über lange Zeit nahezu baumlos war, entstanden charakteristisch offene Landschaften wie Dünenheiden, Feuchtwiesen und Moore. Seit dem frühen 20. Jahrhundert wurde versucht, die Insel wieder zu bewalden – eine der größten systematischen Wiederaufforstungen in Dänemark, aus der ein vielfältiger Küstenwald hervorging. Erst 1991 wurde das alte Handwerk wiederbelebt – nicht aus wirtschaftlichem Interesse, sondern um das Wissen um die Salzsiederei als Teil der Inselgeschichte zu bewahren. Zum Abschied drückt uns Jonas zwei kleine Leinenbeutel mit handgeschöpftem Salz in die Hand.
Baden und Wandern inmitten von Kiefern
Am Badesøen, einem kleinen See inmitten der Læsø Klitplantage, legen wir eine Pause ein. Die stille Wasserfläche liegt umgeben von jungen Küstenwäldern, die sich über Jahrzehnte auf dem einst kargen Sandboden ausgebreitet haben. Ein Windschutz, eine Feuerstelle und ein Trinkwasserhahn thronen am Ufer. Wir schwimmen ein paar Züge im kalten, klaren Wasser, wärmen uns in der Sonne auf und entzünden ein kleines Feuer. Über den Flammen rösten wir Maiskolben und Brot, beträufeln alles mit Öl und bestreuen es mit Salz aus der alten Siedehütte. Der Duft von sonnenwarmen Kiefernnadeln liegt in der Luft. Der Wald hat sich das Land Stück für Stück zurückerobert: Kiefern, Sitkafichten und Birken durchwurzeln heute den Sandboden, bändigen den Wind und schenken dieser Landschaft neues Leben.
Am Nachmittag beschließen wir, eine Wanderung durch die Læsø Klitplantage zu unternehmen, und folgen der Nisseruten – einem 3,6 Kilometer langen Rundpfad, der an der Skovhytten beginnt und mit kleinen Wichtelfiguren als Wegweiser markiert ist. Lovisa ist begeistert von den kleinen Trollen, die hinter Stämmen hocken, auf Pfählen thronen oder im Moos kauern. Immer wieder bleibt sie stehen, spielt mit den Figuren, platziert sie um – und so kommen wir nur im Schneckentempo voran. Der Wind biegt die Bäume, formt ihre Kronen und flüstert durch das Geäst. Die Nachmittagssonne wirft lange Schatten. Der Wald liegt still, das Licht fällt golden durch die Nadeln.

Mal klettern wir über knorrige Wurzeln, vorbei an Sanddorn und Wacholdersträuchern, mal führt uns der Weg über weiche Teppiche aus Moos und Flechten. Manchmal scheint es, als raschle etwas im Dickicht, und Lovisa überlegt, ob es ein Wichtel sein könnte. Wir gelangen auf einen bewachsenen Dünenrücken, machen Pause, essen Kekse und schauen hinunter bis zum Meer. Lovisa rennt juchzend die sandige Dünenseite hinunter – immer wieder, bis ihr die Kräfte schwinden. Ich trage sie das letzte Stück zurück zur Skovhytten, wo andere Wandernde bereits ein kleines Lagerfeuer entzündet haben. Die Glut glimmt, der Rauch zieht langsam zwischen den Bäumen empor – und während das Licht hinter den Kiefern verblasst, klingt der Tag an diesem märchenhaften Ort aus.
Dachdeckkunst und Geschichten vom Aalgras
Nicht nur das Salz hat seine Spuren auf Læsø hinterlassen. Auch die Häuser erzählen von einer Zeit der Knappheit, des Umdenkens – und der Erfindungskraft der Inselbewohner. Als im 17. Jahrhundert fast alle Wälder für die Salzsiederei gefällt worden waren, wurde Holz zum seltenen Gut. Die Menschen begannen, das zu nutzen, was das Meer ihnen anspülte: Überreste gestrandeter Schiffe – und Aalgras.

Wir treffen Henning Johansen am Museumsgården in Byrum, einem vollständig erhaltenen Bauernhof mit originalem Seegrasdach, der heute als Freilichtmuseum dient und das Alltagsleben auf Læsø im 19. Jahrhundert widerspiegelt. Henning ist einer der letzten aktiven Tangtækker (dt. Seegrasdachdecker) und hat mit seiner Arbeit maßgeblich dazu beigetragen, diese einzigartige Handwerkskunst vor dem Vergessen zu bewahren. Er bildet eine neue Generation von Handwerkern auf der Insel aus und setzt sich dafür ein, dass die Seegrashäuser von Læsø eines Tages als UNESCO-Weltkulturerbe anerkannt werden.
Das Gras wird nicht geerntet, nicht ausgegraben, sondern lediglich gesammelt, wenn es vom Meer freigegeben wird.
Henning zeigt uns das alte Gebäude, das aus Lehm und dem Treibgut gestrandeter Wracks gebaut wurde. Die gebogenen Balken erzählen von den Schiffen, die einst vor der Küste strandeten – zur Freude der Insulaner, die daraus ihre Unterkünfte errichteten. Das Dach besteht aus fest gepresstem Aalgras, ist mit Moos bewachsen und schimmert grünlich – als wäre es einer Sage aus vergangenen Zeiten entsprungen. Henning hat für uns eine riesige Holzkiste mitgebracht, randvoll gefüllt mit trockenem, federleichtem Aalgras. Die langen Halme riechen leicht salzig. Er greift hinein, zieht eine Handvoll heraus.
»Das salzhaltige Seegras wird von Hand gesammelt, getrocknet und zu mächtigen Dachdecken verarbeitet – über einen Meter dick, tonnenschwer und nahezu unverwüstlich«, erzählt er uns, während er mit geübten Bewegungen das Gras bündelt. Es wird ausschließlich loses, bereits angespültes Aalgras verwendet. Die empfindlichen Seegraswiesen unter Wasser bleiben dabei vollständig unangetastet. »Das Gras wird nicht geerntet, nicht ausgegraben, sondern lediglich gesammelt, wenn es vom Meer freigegeben wird«, sagt Henning.

Lovisa versucht es selbst, ihre kleine Hand greift in das Aalgras, das wie Heu durch ihre Finger rieselt. Ich frage, warum man nicht einfach Stroh zum Dachdecken verwendet hat, wie in anderen Regionen. »Stroh war zu kostbar«, erklärt Henning. »Das wurde den Tieren verfüttert. Die Leute hier waren sehr arm. Auch durch den Mangel an nahrhaften Lebensmitteln blieben sie zudem eher klein. Die Decken sind daher sehr niedrig – deshalb müsst ihr auch den Kopf einziehen, sobald ihr das Haus betretet«, sagt er.
Mit kräftigen Händen formt Henning aus den Halmen eine dicke Rolle, die er spiralförmig eindreht. »Hier, pack mal mit an und dreh mit aller Kraft. Und bloß nicht loslassen«, fordert Henning mich auf – und ich komme bei der Arbeit ganz schön ins Schwitzen. »Im Gegensatz zu Reet brennt das hier auch nicht«, sagt Henning und demonstriert uns die Nichtbrennbarkeit von Aalgras, indem er es mit einem Feuerzeug vergeblich in Flammen zu setzen versucht. Der hohe Salzgehalt macht das Material resistent gegen Feuer. Wir befestigen das Bündel an einem Dachbalken. »Es waren oft die Frauen, die die Dächer bauten, während die Männer zur See fuhren. Nicht selten arbeiteten über hundert einen Tag lang an einem Dach. Danach wurde gefeiert – und wohl auch ordentlich getrunken«, erzählt Henning mit einem Zwinkern.
In den 1990er-Jahren wuchs das Interesse am Erhalt der Tanghäuser. Viele waren verfallen oder durch Ziegeldächer ersetzt worden. Restaurierungsprojekte, unterstützt vom dänischen Nationalmuseum, sorgten für eine Renaissance des alten Handwerks. Gut verarbeitet halten die Dächer bis zu 200 Jahre. Noch heute gibt es weltweit nur hier auf Læsø diese sogenannten Tanghuse (dt. Seegrashäuser).

Lokale Tapas und Zeit mit Seehunden
Am Hafen von Østerby, wo die Fischkutter mit frischem Fang anlegen und Möwen über den Booten kreisen, schlendern wir mittags entlang der Kaipromenade. Die salzige Brise streicht uns um die Nase, als wolle sie uns Geschichten vom Meer zuflüstern. Die bunten Häuserfassaden leuchten im Sonnenlicht. Zwischen Eimern und Seilen summt ein Fischer beim Flicken seiner Netze, während Möwen am Pier darauf lauern, einen fangfrischen Snack zu ergattern.
Unser Weg führt uns zum Huset Palsgaard, einem Café direkt am Hafen, das von André Palsgaard und seiner Frau Kitty betrieben wird. Wir wollen uns die Spezialität des Hauses – Læsø Tapas – zum Mittagessen einverleiben. Beim Anblick der bunten Tapas-Platte läuft uns das Wasser im Mund zusammen. Geräucherte Fischfilets, hausgemachte Fischfrikadellen und würzige Galloway-Salami gehören zu den Köstlichkeiten, die uns aufgetischt werden. Dazu gibt es frisch gebackenes Brot. »André ist ein echter Foodie – er liebt es, mit guten Zutaten zu experimentieren«, sagt Kitty. »Was er auftischt, sind keine Standardgerichte, sondern kleine kulinarische Meisterwerke – er ist Perfektionist. Das Fleisch kommt von freilaufenden Galloway-Rindern hier auf der Insel, und wir finden, man schmeckt die salzhaltige Küstenluft und die Kräuter der Weiden«, erzählt sie.
Eine knappe Stunde später sind wir unterwegs Richtung Nordosten, vorbei an den weitläufigen Weideflächen, wo die Galloway-Rinder im salzigen Wind stehen. Ihr dunkles, zotteliges Fell glänzt im Licht, während sie sich stoisch am Küstengras laben.

Unser Ziel ist Seludden, die äußerste Landspitze von Horneks Odde – ein flacher, kiesiger Ausläufer am Übergang zum offenen Meer. Mit etwas Glück soll man hier Seehunde beobachten können, und Lovisa ist sofort Feuer und Flamme. Der Weg zur sandigen Nase der Insel führt durch spärliche Heide, knorrige Wacholderbüsche und alte, windgeformte Dünen. Je näher wir ans Meer kommen, desto stiller wird es. Vor uns liegt der geriffelte Meeresboden, in dem sich das flache Wasser in silbrigen Rinnen sammelt. Die weite See dehnt sich ruhig bis zum Horizont.
Auf den vorgelagerten Steinen entdecken wir tatsächlich einige Robben, die sich in der Abendsonne genüsslich ausstrecken. Ihre Rücken glänzen feucht, die Haut ist grau und glatt. Lovisa bleibt wie verzaubert mit großen Augen stehen. Am liebsten würde sie sofort zu ihnen laufen – doch wir bleiben auf Abstand, schauen nur und verweilen in der stillen Schönheit dieses Moments. Auch Lowe sitzt wie angegossen am Strand und blickt verträumt in die Ferne. Ein leiser Wind streicht durchs Dünengras, Möwen ziehen über das matt schimmernde Wasser, und die Sonne senkt sich langsam, während sie den Horizont in warmes Kupferlicht taucht.
Algen in neuem Licht
Der nächste Morgen beginnt warm, das Licht tanzt auf dem Wasser, und wir entscheiden uns, am Strand Hvide Bakker baden zu gehen. Der Strand ist weit und hell wie Puderzucker. Lovisa kniet im warmen Sand und baut eine Burg – mit Türmen und Muschelverzierung. Lowe und ich liefern uns ein Wettrennen entlang der Wasserlinie, bis wir im seichten Wasser kurz verschnaufen und schließlich gemeinsam hinausschwimmen. Das Wasser ist klar wie Glas – und herrlich kalt.

Später am Tag haben wir eine Verabredung mit Rie Ladefoged an ihrem kleinen Laden Læsø Tang, der sich auf dem historischen Hof Klitgård in Byrum, im Zentrum der Insel, befindet. Hier verkauft Rie allerlei Produkte aus Algen, die sie selbst sammelt und in ihrem Gewächshaus trocknet. In der gemütlichen, gelb gestrichenen Scheune serviert sie uns ihre berühmte Algensuppe, die nach Lauch, Möhren und Zwiebeln duftet. In der Mitte des Tellers schwimmt ein gekochtes Ei, dazu gibt es dick geschnittenes Algenbrot, das leicht nussig schmeckt und innen saftig ist.
»Algen sind mein Element«, sagt Rie und lacht. Sie ist ursprünglich Pädagogin und hat lange an einer Schule gearbeitet. Ihre Leidenschaft für Algen wurde durch einen Vortrag des Forschers Ole G. Mouritsen geweckt, der nach Læsø kam, um über die kulinarischen und ökologischen Potenziale von Algen zu referieren. »Ich dachte mir, dass es doch auch auf Læsø jemanden geben müsste, der was mit Algen macht. Aber da sich keiner dafür fand, dachte ich mir: Dann eben ich.« Heute betreibt sie ihren Algenladen, kocht und bietet kleine Menüs an, kreiert Marmeladen, Pestos, Chutneys und Senf aus Meeresalgen – und engagiert sich für die nachhaltige Nutzung mariner Ressourcen. Nebenbei bietet Rie auch geführte Tangtouren an, bei denen Interessierte mehr über essbare Algen erfahren und lernen, wie man sie erntet und zubereitet.

Auch wir gehen mit Rie auf eine Algenwanderung, die am Strand von Storedal beginnt. Der Himmel ist leicht bewölkt, der Wind weht vom Meer her über die offene Küstenlandschaft. Zwischen Steinen, Treibholz und Tangfeldern gibt das zurückweichende Wasser die Strukturen des Meeresbodens frei. Rie trägt Gummistiefel und eine Wathose. Sie stapft durchs flache Wasser, bückt sich und fischt etwas Knorpeliges aus dem Meer. Wenig später kehrt sie mit der dicken Alge in den Händen zurück an den Strand. »Das ist Blasentang«, sagt Rie. »Schaut mal, die Blasenpaare sorgen dafür, dass er aufrecht schwimmt, um eine optimale Lichtausbeute für die Photosynthese zu haben. Er ist reich an Jod, Kalzium und Ballaststoffen«, erklärt sie uns.
Wir dürfen kosten. Er schmeckt salzig und leicht bitter. Lovisa verzieht das Gesicht und spuckt ihn direkt wieder aus. Lowe hingegen, der auch ein kleines Stück abbekommt, schlingt ihn gierig hinunter – für ihn ist es offensichtlich eine Delikatesse. Wir wandern weiter am Spülsaum entlang. Rie beugt sich erneut ins Wasser, greift mit beiden Händen unter die glatte Oberfläche und zieht einen langen, hellbraunen Tang empor.

Der Zuckertang glänzt seidig in der Sonne, seine Ränder schimmern fast golden. »Saccharina latissima«, sagt sie, »reich an Magnesium und Eisen.« Die Blätter sind weich, biegsam und duften nach Meer – salzig, frisch, leicht süßlich. Sie schneidet ein kleines Stück ab und reicht es uns zum Probieren. Der Geschmack ist überraschend mild, mit einem Hauch Umami und einer feinen Süße, die an Lakritz erinnert. »Er wird in der nordischen Küche immer beliebter«, erklärt Rie, »in Brühen, als Chips getrocknet oder ganz einfach roh – so wie jetzt.« Der Zuckertang zieht feine Linien aus Wasser, als sie ihn wieder ins Meer legt. »Algen sind in vieler Hinsicht eine nachhaltige Alternative zu Fisch. Sie liefern viele der gleichen Nährstoffe – etwa Omega-3-Fettsäuren, Jod, Eisen und Proteine – ohne dass dafür Tiere gefangen oder gezüchtet werden müssen. Im Gegensatz zur Fischerei belasten Algen die Meere nicht, sondern reinigen sogar das Wasser, binden CO₂ und brauchen weder Dünger noch Süßwasser.«

»Während Fischbestände weltweit unter Überfischung und Umweltgiften leiden, wachsen Algen schnell, emissionsarm und platzsparend – sie sind damit ein echtes Superfood der Zukunft, sowohl für den Menschen als auch für den Planeten«, sagt Rie. Wir fragen sie, warum man die Algen hier auf Læsø so unbedenklich essen kann, während von ihrem Verzehr aufgrund teilweise hoher Schadstoffbelastung in anderen Teilen Dänemarks abgeraten wird. »Wir haben hier keine Landwirtschaft«, sagt Rie und blickt über die flachen, offenen Flächen der Insel. »Kein Dünger, keine Pestizide, keine riesigen Monokulturen – das macht einen Unterschied, auch im Wasser.« Sie erklärt, dass Læsø abseits der großen, industrialisierten Küstenregionen liegt. Die Nähe zu naturbelassenen Stränden, das Fehlen von Agrarbetrieben und die geringe Industriebelastung sorgen dafür, dass das Meer rund um die Insel sauber bleibt. »Die Algen hier wachsen in klarem Wasser. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich Schwermetalle oder andere Schadstoffe anreichern, ist deshalb viel geringer als anderswo.«
Lovisa kommt immer wieder angerannt, begeistert präsentiert sie neue Funde aus dem Spülsaum: lange, schleimige Fäden, kleine grüne Blätter, glänzenden Tang. Rie nimmt alles entgegen, erklärt geduldig und lobt ihre Neugier. Ries nächste Beute ist der Gabeltang – ein feines, sattgrünes Geflecht, das sie uns vor die Nase hält: zart verzweigte Äste, biegsam und fast filigran. »Diese Art wächst oft weiter oben in der Gezeitenzone«, erklärt sie. Wie immer dürfen wir probieren. Der Gabeltang fühlt sich weich auf der Zunge an – mild und klar, kein Vergleich zum intensiveren Blasentang. Während wir weiter den Storedal-Strand entlangwandern, erzählt mir Rie, dass sie sich mittlerweile nicht mehr vorstellen könnte, irgendwo anders zu leben als auf Læsø. »Wenn man sich auf dieser Insel niederlässt, kann man nicht unbedingt damit rechnen, dass man mit dem arbeiten kann, was man vielleicht mal gelernt hat. Man muss vielleicht kreativ und erfinderisch werden. Aber dafür gibt einem Læsø unendlich viel zurück – für das Herz und die Seele. Das Meer ist mein Arbeitsplatz.«

Stille Kraft des eigenen Märchens
Später sitzen wir mit ihr auf einer Holzbank oberhalb des Store Dal. Der Blick schweift weit über das Meer, die Dünen, die Heideflächen und das flache Land bis zum glitzernden Horizont. Der Wind lässt nach, und für einen Moment scheint alles still. Rie öffnet ein kleines Korbtablett. Darauf: Senf mit Blasentang, Algenpesto, würzige Pickles, ein Apfel-Zwiebel-Algen-Chutney. Auf kleinen Knäckebrotstücken kosten wir uns durch Ries Kreationen – süß, salzig, herb. Ungewohnt, aber köstlich. Lovisa schmeckt die leuchtend rote Erdbeermarmelade mit Zuckertang so gut, dass sie das Glas mit beiden Händen umklammert. Rie schenkt es ihr zum Abschied – und Lovisa strahlt.
Als wir zurückgehen, trägt Lovisa stolz ihr Marmeladenglas, während sich Lowe unbemerkt wieder ein Seegrasbündel geschnappt hat. Über der Heide liegt ein weiches, spätnachmittägliches Licht. Læsø zeigt, wie viel möglich ist mit dem, was da ist: Algen, Salz, Seegras – und Zeit. Kein Überfluss, sondern eine Einfachheit. Wer sich darauf einlässt, entdeckt eine stille Kraft. Und landet in seinem ganz eigenen Märchen auf dieser kleinen Insel im Kattegat.