Es ist früher Freitagnachmittag und ich stehe mit meiner Wasserhündin Rut am Silverfallet. Nicht direkt ein Niagarafall, denke ich, und blicke auf die kleinen Kaskaden, über die das Wasser gemächlich den Berg hinunterfließt. Aber doch ein sehr schöner, fast kitschiger Ort. Und noch wichtiger: Ein Ort, an dem man sehen kann, wie die Landschaft entstanden ist.
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Um zu verstehen, was ein Tafelberg (schwedisch: Platåberg) ist, sind wir hier am nordwestlichen Hang des Billingen genau richtig: Schicht für Schicht wird durch das Wasser freigelegt: ganz unten Alunskiefer, dann Kalkstein, Sandstein und schließlich eine harte Diabasdecke an der Spitze. Ein Querschnitt durch die Geologie.
Der Silverfallet (deutsch: Silberfall) ist einer der wichtigsten Orte im Platåbergens Geopark – Schwedens erstem UNESCO-zertifizierten Geopark. Hier geht es nicht nur darum, die Natur zu erleben, sondern auch die Zusammenhänge zu verstehen: wie das Grundgestein die Form der Landschaft beeinflusst hat und wie dies wiederum bestimmt hat, wo sich Menschen niedergelassen, Ackerbau betrieben, Straßen und Siedlungen gebaut haben.
Silverfallet – kein Niagarafall, aber recht romantisch und pädagogisch wertvoll.
Billingen ist der größte der schwedischen Tafelberge. Oben flach, an den Seiten meist steil und felsig, nach Westen hin jedoch in die hügelig geschwungende Landschaft des Vallebygden übergehend. Ein Berg, der von Meer, Druck und Eis geformt wurde – eine Schicht geologischer Geschichte mitten in Västergötland.
An diesem Wochenende werde ich den Billingen auf zwei Arten erleben: Zuerst laufe ich drei Etappen des Weitwanderweges Billingeleden – vom Silverfallet bis zum Billingehuset, unserem Hotel. Am nächsten Tag wandere ich zusammen mit meiner Frau Ida auf dem neu eingeweihten Rundweg Getaloven an den südlichen Ausläufern des Tafelberges. Zwei Touren. Zwei Arten, den Berg zu erleben – und im besten Fall zu verstehen.
Vom Bahnhof auf den Berg
Heute morgen bin ich in aller Frühe aufgestanden und in den Schnellzug von Stockholm Richtung Göteborg gestiegen. Gut zwei Stunden später war ich schon in Skövde. Nach einem kurzen Spaziergang durch die ruhigen Straßen der Stadt und einen Skihang im Sommerschlaf hinauf checkte ich im Billingehuset ein – einem frisch renovierten Hotel aus den 70ern Blick über Skövde und und die westschwedische Landschaft.
Das Billingehuset: 70er-Jahre-Architektur am Rande des Billingen.
Im neu renovierten und gestalteten Inneren lebt der Geist der 70er weiter. Und der Blick auf die Stadt.
Im Hotelrestaurant war ich Jessica Bergstrand verabredet, die seit fast drei Jahrzehnten mit der Entwicklung von Billingen als Erholungsgebiet und Outdoor-Destination arbeitet. Unter anderem war sie eine treibende Kraft hinter den Trollstigarna, familienfreundlichen Wanderwegen entlang der steilen Ostseite des Berges. Auch in die Schaffung des Billingeleden, der sich über 57 Kilometer um den gesamten Berg erstreckt, war sie maßgeblich involviert. Ihr neuestes Projekt ist der Getaloven, der im Frühjahr 2025 eingeweiht wurde.
„Die Gemeinde hat ziemlich viel in das Gebiet hier investiert”, so Jessica, ”sowohl für die Lebensqualität der Einwohner, als auch um Besucher anzulocken.” Neben den Wanderwegen gibt es hier mittlerweile eine Mountainbike-Arena, ein offizielles Wasalauf-Trainingszentrum mit Loipen und Laufwegen, Hochseilgärten, Grillplätze und andere Einrichtungen. Vieles davon ist in den letzten Jahren hinzugekommen. Die Geschichte des Outdoor-Gebiets reicht jedoch bis in die 1970er Jahre zurück, als Maja Sandberg und ihr Mann, der Tankstellen-Unternehmer Arne Sandberg, das Potenzial des stadtnahen Berges erkannten. Hotel, Skipiste und Loipen wurden gebaut. Und eine Kapelle – für die Seele.
Jessica Bergstrand arbeitet seit 30 Jahren mit der Entwicklung des Erholungsgebietes Billingen.
Bereit, die Geologie des Billingen laufend zu entdecken.
Jessica ist selbst in der Nähe des Berges aufgewachsen. Seit den 1980er Jahren betreibt ihre Familie Billingens Stugby & Camping – heute unter der Leitung ihres Bruders.
”Vor allem die Trollstigarna ziehen viele Familien mit Kindern an. Anfangs war meiner Familie nicht klar, was ich eigentlich in meinem Job machte, aber als sich der Erfolg der Wanderwege auch in den Buchungen von Hütten und Stellplätzen niederschlug, gab es dann mehr Verständnis”, so Jessica. Auch das Hotel sei ist heute größtenteils ausgebucht. Nach der Renovierung zieht es andere Zielgruppen an – vor allem Trainings- und Outdoor-Begeisterte, die Aktivitäten mit komfortablem Wohnen, Spa und gutem Essen verbinden möchten.
Jessica bot mir dann auch an, mich mit dem Auto zum Silverfallet auf der anderen Seite des Billingen zu bringen. Die Fahrt ging durch eine malerische Landschaft mit kleinen Straßen, Bauernhöfen und Wäldchen. Beim Moorgebiet Blängsmossen machten wir kurz Halt und kletterten auf den wackeligen Vogelturm, um über die Sumpflandschaft zu blicken. Weitläufig, still – fast mehr wie im Fjäll als in Västergötland.
Dann ging es weiter nach Westen in Richtung Vallebygden. Bei Karlsfors Gård, einem schön renovierten Bauernhof mit Café, Galerie und kleinem Laden, nur wenige hundert Meter vom Silverfallet entfernt – setzte Jessica uns ab. Und los ging es.
Im Blängsmossen machen wir Halt und klettern auf den wackeligen Vogelturm.
Ein Gefühl wie in der Weite des Fjälls – doch mitten in Westschweden.
Irgendwo dort hinten beginnt meine Lauftour.
Richtung Wald – Sprintstart vom Silverfallet
Rut hat inzwischen genug getrunken, und auch ich habe mich an den geologischen Schichten des Berges sattgesehen. Wir lassen den Wasserfall hinter uns und begeben uns laufend auf den Billingeleden, der mit roten Schildern und einem deutlichen schwarzen „B” gekennzeichnet ist.
Anfangs taucht auf der linken Seite hier und da der See Lången auf. Das Gelände ist hügelig, aber entspannt zu laufen. Wir laufen durch buschige Laubwälder und Meere aus Bärlauch, über offene Felder und Weiden. Ein wiederkehrendes Ritual: Gatter öffnen und gewissenhaft schließen, darauf achten, dass Rut dabei ist und ordentlich angeleint ist, wenn wir weidende Tiere passieren.
In der Nähe des Silverfallet laufen wir immer wieder duch Meere aus Bärlauch.
Immer wieder öffnen wir Gatter und Klettern über Steinmauern.
Eine wunderschöne Kulturlandschaft mit uralen Bäumen.
Wir klettern über Steinmauern, bringen Schafe und Kühe in Bewegung, die uns mit neugierigen Blicken folgen, aber lieber auf Abstand bleiben. Auf den ”Wiesen von Högsböla” treffen wir auf ein paar Wanderer, die gerade Pause machen und in der Sonne picknicken. Sie wollen die gesamte Strecke wandern und in den einfachen Sheltern übernachten, die von der Komune entlang des Weges errichtet wurden. Der Billingeleden ist in acht Etappen unterteilt und eignet sich gut für eine drei- bis viertägige Tour.
So viel Zeit haben wir nicht. Weiter geht’s. Nach einer Weile bemerke ich, dass irgendwie das „B” bei der Markierung fehlt – aber mein guter Orientierungssinn sagt mir, dass wir trotzdem richtig sind. Erst als der Weg endet, schaue ich auf die Karte meines Handys. Da, wo wir die Wandertruppe getroffen haben, hätten wir abbiegen sollen. Keine Wahl – wir müssen die gleiche Strecke zurück. Macht vier Extrakilometer, die die ohnehin schon lange Tour noch länger machen.
Eigentlich sehr deutliche Markierungen. Man muss sich nur dran halten.
Rut ist bei jedem Umweg mit dabei.
Ein Sprung in den Vallersjön gibt uns neue Energie.
Trinkpause und Umkehr
Bei einer süßen alten Hütte in der Nähe des Vallersjön sehe ich ein älteres Paar in einer Hollywoodschaukel sitzen. Ich frage, ob ich meine Flasche am Brunnen auffüllen darf, und wir unterhalten uns eine Weile. Rut bekommt eine Schüssel und ein Stück Salami, ich den dringenden Rat, doch kurz in den See zu springen. Das Wasser ist wunderbar – genau das was wir brauchen.
Zurück auf dem Weg bewegen wir uns durch abwechslungsreiche Natur: dichte Büsche und Bäume, Wiesen, alte Haine. Der Weg folgt dem Rand des Plateaus, wo Billingen zur Ebene abfällt. Von Zeit zu Zeit öffnet sich die Vegetation und gibt den Blick auf die Landschaft darunter frei.
Entlang der Bergkante. Wenn sich die Vegetation öffnet, hat man freien Blick in die Ferne.
Irgendwann tauchen die Schilder des Trollstigen auf, und mehr Menschen bewegen sich auf dem bislang spärlich frequentierten Weg. Ein sicheres Zeichen dafür, dass wir uns dem Ziel nähern.
Wir erreichen die Ryds-Höhlen. Hier sind mächtige Diabas-Säulen 10–20 Meter auf dem darunterliegenden Tonschiefer abgerutscht. Unterhalb der Säulen und in der dadurch entstandenen Kluft liegen große Steinblöcke, die gemeinsam eine höhlenartige Kammer bilden. Kurz darauf passieren wir Ymsingsborg – die Reste einer Wallburg aus der Eisenzeit.
Dann sind wir endlich am Ziel. Müde, verschwitzt, aber zufrieden. Ida wartet im Hotel. Eine schnelle Dusche. Abendessen in der Bar und ein kaltes Bier – genau das, was ich nach der 25-Kilometer-Nachmittagstour brauche. Und eine gute Nachtruhe vor dem nächsten Tag.
Sonntag: Wanderung auf dem Getaloven
Nach dem Frühstück nehmen wir an der Rezeption unsere Proviant-Pakete in Empfang. Fika, Snacks, hausgemachter Saft und Salat mit geräuchertem Lachs zum Mittagessen. Wir füllen die Thermoskanne mit Kaffee, packen den Rucksack und studieren die Karte für die heutige Tour.
Dann fahren wir mit dem Auto nach Hentorp am Rande von Skövde, wo der Getaloven verläuft. Von hier aus werden wir heute eine Runde von gut 13 Kilometern wandern, mit immerhin 300 Metern Höhenunterschied. Diesmal entlang der Südseite des Billingen und über die Os namens Getryggen.
Schwer zu verfehlen, die nagelneuen weißen Markierungen des Getaloven.
Rustikale Kletterhilfe für die Besteigung des südlichen Billingen.
Wir parken am nördlichen Teil des Weges. Links liegt das Gelände eines alten Steinbruchs, der im Rahmen eines Geopark-Projektes umfassend renaturiert wird. Von hier aus folgen wir den weiß leuchtenden Markierungsschildern mit einem Ziegensymbol – die auf dem gesamten Weg stets leicht zu finden sein werden.
Vorbei an einer Kuhweiden, dann führt der Weg über steile Treppen zwischen Felsblöcken und Klippen hinauf aufs Plateau. Dort bewegen wir uns entlang der Bergkante. Hier gibt es mehrere Bänke und schöne Aussichtspunkte, aber wir wählen etwas später einen mit Moos bewachsenen Felsen, umgeben von Baumkronen, für unsere erste Fikapause. Wir liegen auf dem Rücken auf dem weichen Naturteppich. So schmecken Kaffee und die mitgebrachten Kanelbullar am besten.
Einer von vielen gemütlichen Aussichtspunkten auf dem Getaloven.
Dann geht es wieder bergab, hinein in den alten Urwald. Im Schatten des steilen Berges balancieren wir über umgestürzte Baumstämme und folgen schmalen Pfaden durch dichtes Gehölz. Danach steigt der Weg wieder an und wir gehen oberhalb des Siggefallet – einem kleinen, aber charakteristischen Wasserfall, der im Sommer zwar oft austrocknet, aber dessen Weg deutlich zu erkennen ist.
Am Aussichtspunkt Skultorps Nabbe essen wir zu Mittag. Der Blick reicht über die Landschaft, über die Ausläufer der Stadt, Industrie, Wälder und Felder. Hier sieht man, wie der Billingen Skövde umarmt – und wie der steile Rand die ansonsten sanfte Form des Plateaus unterbricht.
Nach dem Essen streifen wir zunächst durch Weideland, danach bewegen wir uns auf Schotterwegen durch die akurat gemähten Flächen eines Golfplatzes, wo sich der Weg fast surrealistisch anfühlt. Es ist, als würde man zwischen zwei Welten wandern: vom Urwald zum Fairway in wenigen Minuten.
Gesucht – gefunden: Ein Fika-Platz auf Moosteppich zwischen Baumkronen.
Der zweite Wasserfall des Wochenendes. Der Siggefallet liegt zu dieser Jahreszeit allerdings bereits trocken.
Bald erreichen wir den Getaryggen (deutsch: Ziegenrücken), jenen schmalen, welligen Bergrücken, der unserem Wanderweg seinen Namen gegeben hat. Er entstand während des Abschmelzens des Inlandeises, als das Schmelzwasser Kies und Sand mit sich führte, die sich in einem lang gestreckten Kamm ablagerten.
Das Gebiet ist heute ein Naturschutzgebiet, das sowohl wegen seiner markanten Geologie als auch zur Erhaltung der Überreste älterer Acker- und Weideflächen geschützt ist. Ein vielbesuchter Ort, an dem die Natur Geschichte erzählt – und an dem viele noch immer ihre Spuren hinterlassen.
Der Weg folgt dem Bergrücken, umrahmt von Birken, Buchen, Haselnusssträuchern und Eichen. Unten schauen noch immer die Greens des Golfplatzes hervor, im Kontrast zur üppigen Natur. Das Gelände ist begehbar und wir bewegen uns in einem gleichmäßigen Rhythmus über den geschwungenen Trampelpfad. Am Ende des Getryggen landen wir in einer Siedlung und gehen die letzten Meter durch die Straßen von Hentorp zum Auto.
Entspannt auf dem geschwungenen Weg über den eiszeitlichen Bergrücken.
Eine Pause mit Blick ins Blätterdach.
Abendleben auf dem Plateau
Es ist später Samstagnachmittag, als wir wieder am Billingehuset ankommen. Das Erholungsgebiet ist voller Leben: Familien mit Kindern grillen, Jogger absolvieren ihre Abendrunde, Mountainbiker packen ihre Sachen zusammen und Teenager auf Mopeds hängen an der Aussicht.
Ein Berg, der viele Menschen anzieht – sowohl unter der Woche als auch am Wochenende. Die Einwohner von Skövde, Besucher, wir – alle scheinen Billingen auf ihre eigene Weise zu erleben. Die Form des Berges, die durch die Erdgeschichte entstanden ist, hat für jeden etwas zu bieten.
Gleichzeitig hat der Mensch seine Spuren hinterlassen: Freizeitparks, Golfplätze, Steinbrüche, Gebäude und Landwirtschaft prägen die Landschaft. Genau dieses Zusammenspiel möchte der Geopark Platåbergen sichtbar machen – wie Natur und Mensch sich gegenseitig beeinflussen.
Ich versuche, das beim Abendessen mit Ida zu diskutieren – wie unsere Wanderung unser Verständnis von Geologie, Historie und die Ideen des Geoparks geprägt hat. Sie lächelt und meint, dass es eine sehr schöne Tour war. Aber dass es eigentlich völlig in Ordnung ist, einfach nur die Zeit draußen zu genießen – und jetzt das Essen und den Blick durch die Panoramafenster über Skövde. Man muss nicht alles verstehen, sagt sie. Manchmal reicht es, einfach nur da zu sein.
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