
Stockholm zieht an uns vorbei, als Karen, Melanie und ich – zusammen mit unserer jüngsten Mitreisenden Lovisa – unsere Plätze im Zug einnehmen. Die Stadt ist an diesem Tag erstaunlich leer, kaum jemand ist auf den Straßen unterwegs. Es gibt nur einen Grund dafür: Midsommar steht vor der Tür – das Fest, das den Beginn des Sommers markiert. Ganz Schweden legt an diesem Tag die Arbeit nieder und die meisten zieht es aus den Städten aufs Land. Früher war Midsommar ein Fest der Ernte und Fruchtbarkeit – heute feiert man vor allem die hellen Nächte, Freundschaft und die Freude am Leben. Ein altertümlicher Brauch ist allerdings geblieben: Traditionell sammeln Frauen am Midsommarabend sieben verschiedene Blumen und legen sie unter ihr Kopfkissen, um von ihrem zukünftigen Bräutigam zu träumen.
Weiterlesen mit NORR+
Ab 1 Euro/Monat erhältst du Zugang zu allen Artikel und exklusiven Aktionen. Jetzt registrieren und einen Monat lang kostenlos testen.
Du bist bereits Abonnentin oder Abonnent?

Unser Ziel ist der Hof Kroksta Gård in der Nähe von Uppsala, nur 40 Minuten nördlich von Stockholm gelegen. An diesem langen Midsommar-Wochenende wollen wir hier nicht nur wohnen, sondern auch die Natur rund um Uppsala mit dem Rad entdecken und auf dem Fluss Fyrisån paddeln gehen, bevor wir in dem Freilichtmuseum Disagården das diesjährige Midsommarfest zelebrieren werden.
Ein Hof wie aus einer anderen Zeit
Sanft eingebettet in die grüne Landschaft tauchen die roten Holzhäuser des Kroksta Gård vor uns auf. Der Duft von warmem Holz und frisch gemähtem Gras liegt in der Luft. Das Gehöft ist ein historischer Familienbetrieb aus dem 17. Jahrhundert, der liebevoll restauriert wurde. Unsere Gastgeberin Sofia, die den Hof betreibt, erzählt uns, dass Kroksta Gård seit Generationen im Besitz ihrer Familie ist. Das obere Stockwerk des Gästehauses, in dem auch unsere Zimmer liegen, ist ein Paradies für Lovisa. Hier türmt sich nostalgisches Spielzeug aus vergangenen Zeiten wie handgeschnitzte Holzpferde und eine alte Puppenwiege. Auf der Diele steht ein altes Klavier, und Melanie lässt sich davor nieder und spielt eine Melodie, die uns melancholisch werden lässt. Wir lauschen und lassen uns zurück in eine Zeit tragen, in der auf Kroksta Gård noch mit Heu beladene Pferdekutschen die Ernte einfuhren.
Lovisa ist fasziniert und versucht, ein paar Töne selbst zu klimpern. Später erkunden wir jede Ecke des Anwesens. Lovisa darf die Hühner füttern, während wir den Pferden und Kühen auf der Weide beim Grasen zuschauen. Der Duft von frisch gebackenem Brot führt uns in die Hofbäckerei, die Sofias Bruder betreibt. »Seine Kreationen serviere ich euch zum Frühstück«, sagt Sofia. Auch sie hat für übermorgen ein großes Midsommar-Fest mit ihrer ganzen Familie geplant. »Wir freuen uns, dass wir hier einen Ort haben, an dem alle zusammenkommen können.«
Nachdem wir noch eine Weile verschiedene Spiele auf der Wiese vor dem roten Holzhäuschen ausprobiert haben, setzen Melanie und ich uns mit einer Tasse Tee auf die Veranda und beobachten, wie die Sonne einfach nicht untergehen will. Es ist die Zeit der ljusa nätter (dt. helle Nächte), in denen der Himmel selbst um Mitternacht noch dunkelblau leuchtet.

Uppsala vom Wasser aus
Am nächsten Morgen weckt uns der Duft von frisch gebrühtem Kaffee. Im Frühstückszimmer genießen wir hausgemachtes Granola, frische Marmelade und knuspriges Handwerksbrot. Wenig später machen wir uns mit Rädern auf den Weg zum Ufer des Fyrisån. Dort treffen wir Erik von Aktivt Uteliv Uppsala, mit dem wir heute auf dem Fluss nach Uppsala paddeln wollen. Der Fyrisån entspringt im See Tämnaren und mündet in den Ekoln, der ein Teil des Mälaren ist. Da wir mit einer Zweijährigen unterwegs sind, hat Erik uns ein ausladendes Familien-Paddelboard mitgebracht. »Mein Sohn ist da schon als Baby drauf unterwegs gewesen«, grinst Erik, bevor er das monströse Gefährt gemeinsam mit Melanie und Karen ins Wasser hievt. Ich habe mir ein eigenes SUP besorgt, um etwas flinker zu paddeln.
»Der Fyrisån war eine wichtige Handels- und Transportroute für die Wikinger«, erzählt Erik, als wir die ersten Meter auf dem klaren Fluss paddeln. »Heute ist er ein beliebtes Erholungsgebiet mit Spazierwegen, Bootsanlegern und jeder Menge Badestellen.« Langsam gleiten wir über das ruhige Wasser. Lovisa sitzt vorne auf dem Board und kugelt sich vergnügt von einer Seite zur anderen.
Ab und zu taucht sie ihre Hände ins Wasser ein, um nach Fischen zu suchen
Wir paddeln durch offene Felder und Wiesen. Auch wenn wir uns nun den Ausläufern Uppsalas nähern, wirken die Geräusche der Stadt gedämpft. Ab und an müssen wir einige Hindernisse wie weit ins Wasser ragende Zweige oder Baumstämme umpaddeln. Nach den offenen Uferlandschaften führt uns der Fyrisån allmählich ins Herz von Uppsala. Wir passieren grüne Parks und Cafés mit sonnengefluteten Terrassen. Immer wieder sehen wir Menschen in den Fluss hüpfen, um sich an diesem warmen Junitag zu erfrischen.
Die beeindruckende Silhouette des Doms ragt empor – ein Wahrzeichen, das Paddelschlag für Paddelschlag näherkommt. Die Stadt vom Wasser aus zu erleben, hat eine ganz besondere Magie. Ich stelle mir vor, wie hier früher Schiffe mit Waren entlangfuhren und bemerke nicht, dass sich eine niedrige Brücke vor mir auftut. Im letzten Moment schaffe ich es, mich flach aufs Board zu werfen. Hinter mir höre ich das Kichern meiner Freundinnen.
Zurück an Land machen wir uns auf den Weg nach Gamla Uppsala, dem ältesten Teil der Stadt, fünf Kilometer nördlich des heutigen Zentrums. Es war einst ein bedeutendes religiöses Zentrum der nordischen Völker, an dem Opferzeremonien und Rituale zu Ehren der Götter stattfanden. Drei große Königsgräber erheben sich wie Wellen inmitten der Landschaft. Diese mystischen Grabstätten stammen aus dem 6. bis 8. Jahrhundert, der Zeit der Vendel-Ära. Der Legende nach ruhen hier die frühesten Könige Schwedens – Götterkönige, die mit den nordischen Göttern selbst in Verbindung gebracht wurden. 1846 wurde einer der Hügel ausgegraben, und man fand Waffen, Schmuck, Gold- und Silbergegenstände, Pferdeskelette und die Überreste eines Schiffes.
Drei große Königsgräber erheben sich wie Wellen inmitten der Landschaft
Während wir über die grasbewachsenen Hügel spazieren, stellen wir uns vor, wie hier einst große Zeremonien abgehalten wurden – mit Opfergaben, Feuern und Festmählern. Direkt neben den Königsgräbern steht die Gamla Uppsala Kyrka, eine der ältesten Kirchen Schwedens, die einst Teil eines großen heidnischen Tempelbezirks war. Es heißt, dass die ersten Christen hier die alten Götterbilder verbrannten, um den neuen Glauben zu festigen. Auf Lovisas Wunsch hin gönnen wir uns noch ein großes Eis in dem kleinen Café neben dem Gamla Uppsala Museum, bevor wir wieder auf unsere Fahrräder steigen und zurück zum Kroksta Gård radeln.

Ein Fest wie aus dem Bilderbuch
Kaum sind wir losgefahren, wartet eine unerwartete Herausforderung auf uns – ein hartnäckiger Gegenwind fährt seine Geschütze auf. »Warum fühlt sich das hier an wie eine Bergetappe der Tour de France?«, witzelt Melanie, während wir uns mühsam gegen den Wind stemmen. Karen, die Lovisa im Kinderanhänger zieht, findet das gar nicht lustig. Der Weg fühlt sich viel länger an als gedacht. Als wir endlich Kroksta Gård erreichen, sind wir völlig erschöpft. Verschwitzt lassen wir uns auf die Holzbänke vor dem Gästehaus fallen und brauchen eine Weile, um uns wieder zu sammeln. Doch die Vorfreude auf den nächsten Tag überwiegt – morgen ist es soweit: Midsommarafton (dt. Mittsommerabend) und damit der festliche Höhepunkt dieses Wochenendes.

Die Stimmung heute ist besonders – es liegt eine fast magische Erwartung in der Luft. Unser Tag beginnt mit dem Pflücken von Blumen für unsere Kränze, die beim Fest unsere Köpfe schmücken sollen. Überall auf den Wiesen blüht es – Margeriten, Klee, Kornblumen, Wiesenkerbel. Unsere Finger duften nach Sommer. Während wir die Kränze binden, erzählen wir uns gegenseitig von all den unterschiedlichen Midsommarfesten, die jede von uns schon erlebt hat, seit sie in Schweden wohnt – von gediegenen Familienfeiern auf dem Landgut bis zu feucht-fröhlichen Partys mit nächtlichem Schwimmen auf Schäreninseln. In Kleidern und geschmückt mit Blumen schwingen wir uns auf die Räder und fahren zum Disagården – dem Freilichtmuseum Uppsalas, bestehend aus historischen Bauernhäusern der Region Uppland, die hierher versetzt wurden, um einen Eindruck davon zu vermitteln, wie das Leben im ländlichen Schweden vor 200 Jahren aussah. Schon von Weitem hören wir Musik und das fröhliche Stimmengewirr der Feiernden. Zwischen den Holzhäusern inmitten von Wiesen unweit des Fyrisån wimmelt es von Menschen in bunten Sommerkleidern und traditionellen Trachten. Im Zentrum des Festplatzes ragt die Midsommarstange, ein mit Birkenzweigen und bunten Blumen geschmückter Maibaum in die Luft. Sie ist das Herz des Festes, um das sich die Menschen versammeln. Dann ertönt auch schon Musik, und die Tänze um die Stange beginnen. »Små grodorna« – das bekannte Lied von den kleinen Fröschen erklingt, und alle Tanzenden hüpfen im Kreis. Lovisa strahlt über das ganze Gesicht, zieht uns mit sich und springt ausgelassen umher. Doch irgendwann brauchen wir eine Pause. Während Lovisa »Nochmal, nochmal!« ruft, versprechen wir ihr stattdessen Erdbeeren und Eis – das perfekte Argument, um kurz durchzuatmen.

Es ist ein besonderes Gefühl, diesen Tag hier zu verbringen – mitten in der Natur, zwischen Einheimischen und Besuchern aus aller Welt. Nach den Tänzen setzen wir uns ins Gras und beobachten das bunte Treiben. Kinder laufen barfuß über das Gras, Picknickdecken sind ausgebreitet und Menschen sitzen beisammen und genießen die typisch schwedischen Speisen: neue Kartoffeln mit Dill, eingelegten Hering, Knäckebrot, Käse und natürlich Erdbeeren mit Sahne. Für uns gibt es heute allerdings eine kleine Abweichung von der Tradition: vegetarische Hotdogs. »Hat auch was«, schmunzelt Melanie, während sie in ihre Veggie-Wurst beißt. Natürlich lassen wir uns auch Erdbeeren, serviert auf frisch gebackenen Waffeln, nicht entgehen. Wir tanzen noch zu vielen weiteren Liedern um die Midsommarstange, singen, reden und lachen. Spontan beschließen wir, den Tag mit einem Bad im Fyrisån zu beenden. Also steigen wir wieder auf die Räder und begeben uns zu der unweit vom Disagården gelegenen Badestelle.
Wir laufen mit Kränzen im Haar über den Sand und springen in den Fluss
Ein perfektes Ende für diesen Tag. Erst als ich später müde unter der Decke liege, fällt mir ein, dass ich vergessen habe, die sieben verschiedenen Blumen zu sammeln, um meinem Zukünftigen im Schlaf zu begegnen.
Kulinarischer Zwischenstopp
Am Midsommardagen, dem Feiertag nach dem Midsommarfest, wollen wir aus Uppsala heraus nach Süden radeln. Wir strampeln auf schmalen Landstraßen durch sanfte Felder und dichte Wälder. Die Luft ist frisch und die Sonne scheint warm auf unsere Haut. Am Hofcafé Axel & Gren legen wir einen Mittagsstopp ein. Maria Ågren und Petronella Axelsson, die Gründerinnen von Axel & Gren, begrüßen uns und erzählen, dass sie den Hof vor einigen Jahren übernommen haben – ein Familienprojekt, bei dem ihre Schwiegereltern und Ehemänner sich um die Landwirtschaft kümmern, während die beiden Schwägerinnen das ökologische Hofcafé mit Laden betreiben. »Wir wollten zeigen, dass Landwirtschaft und Naturschutz Hand in Hand gehen können«, erzählt Maria. »Und dass es möglich ist, gutes Essen zu produzieren, ohne die Umwelt dabei zu belasten.« Im Hofladen gibt es lokal produzierte, handgefertigte Lebensmittel wie selbstgebackenes Brot, Käse, Honig und hausgemachtes Eis. Petronella erklärt uns, dass der Hof nicht nur ein Ort der Produktion ist, sondern auch der Bildung und Inspiration dient. Besucher können hier mehr über ökologische Landwirtschaft erfahren. Im Garten genießen wir Kuchen und Kaffee. Lovisa buddelt im Sandkasten und verliebt sich in die Holzpferde, die hier überall stehen.

Bevor wir uns wieder auf die Räder schwingen, kaufen wir noch ein Sandwich für unterwegs, aus frisch gebackenem Sauerteigbrot, belegt mit hofeigenem Käse und Gemüse aus dem eigenen Garten.
Ein letztes Bad im Mälaren
Unsere nächste Station ist Hammarskogs Herrgård – ein Gutshaus, das direkt im Naturreservat liegt. Uns interessiert vor allem die daneben gelegene Badestelle. Auf langen Holzplanken schieben wir die Räder ans Ufer hinunter. Das Wasser des Mälaren ist klar. Seine Oberfläche kräuselt sich sanft im Wind, als wir hinausschwimmen und uns treiben lassen. Auf dem Rückweg machen wir noch einen letzten Stopp beim Dalkärret, einem Mosaik aus Feuchtwiesen und kleinen Wasserflächen. Es ist ein wichtiger Lebensraum für verschiedene Vogelarten. Wir klettern auf einen Baumstamm, packen unsere Sandwiches aus und schweifen unseren Gedanken nach. Dieses Jahr habe ich es wieder verschlafen, sieben Blumen zu pflücken, um von meinem Prinzen zu träumen. Aber solange ich noch viele Midsommar wie diesen mit meinen Freundinnen in der schwedischen Natur erleben darf, fehlt es mir an nichts.

Midsommar in Uppsala
Das Freilichtmuseum Disagården veranstaltet jedes Jahr ein Midsommarfest mit Musik und Tanz, Aktivitäten für Kinder und einem kulinarischen Angebot aus lokalen Speisen. Der Eintritt beträgt 70 SEK, Kinder unter 18 Jahren haben freien Eintritt. upplandsmuseet.se