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Åsa Ottosson erlebte die heilende Kraft der Natur

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Als die Journalistin Åsa Ottosson von einer Lebenskrise übermannt wurde, suchte sie Ruhe und Entspannung im Wald. Internationale Forschungsstudien haben gezeigt, dass das ein weiser Schachzug war.

Man stelle sich einmal vor, man lebe in einer ganz anderen Zeit und an einem ganz anderen Platz: in Afrika, der Wiege der Menschheit, vor hunderttausend Jahren. Es ist ein ganz gewöhnlicher Tag und du und deine Stammesbrüder und schwestern laufen herum, machen Small Talk, sammeln Wurzeln und genießen das Leben. Auf einmal passiert etwas: Ein Raubtier greift euch unvermittelt an! Die körpereigenen Alarmsignale sind sofort da. Du denkst nicht erst: »Hilfe, das ist ein gefährliches Tier, jetzt muss ich meine Muskeln anspannen. Am besten beginne ich mit Oberschenkeln und Waden!«

Natürliche Abwehr

Der Köper setzt automatisch sein eigenes Krisenmanagement in Gang. Hormone werden ausgesondert, die Pupillen weiten sich, der Puls steigt, die Muskeln werden mit Blut gefüllt, du bist bereit, zu fliehen oder um dein Leben zu kämpfen – bis die Gefahr vorüber ist und sich alles wieder beruhigt hat. Hätten unsere Vorfahren nicht diese einmalige Fähigkeit besessen, mit Stress umzugehen, würde es uns heute nicht geben – mich nicht und dich nicht. Das ist ein wichtiger Punkt. Ein anderer Gesichtspunkt dieses historischen Gedankenspiels ist, dass es keineswegs nur ein historisches Gedankenspiel ist. Jeder von uns funktioniert auch heute noch genauso wie unsere Vorfahren. Rein physisch hat sich nur wenig verändert, seit wir über die Savannen und an den Küsten Ostafrikas entlangspaziert sind. Unsere lebensrettenden Reaktionsmuster sind immer noch die gleichen. Um uns herum dagegen sieht es heute ganz anders aus.

Für die meisten von uns geht es bei Stress selten um unvermittelt auftauchende und schnell vorüberziehende Gefahren, sondern um einen Dauerzustand: das Gefühl, nicht allem und allen gerecht werden zu können, in Ansprüchen zu ertrinken und immer unter Zeitdruck zu stehen. Dazu kommen dann vielleicht noch Eheprobleme, langwierige Krankheiten und Todesfälle in der Familie – oder eine Kombination aus individuell ganz verschiedenen Faktoren. Das Gehirn reagiert auf solche Herausforderungen tatsächlich genau wie auf anfallende Raubtiere, der einzige Unterschied ist, dass die Gefahr nicht so schnell vorübergeht wie in der Savanne, sondern meistens länger anhält. Wer sich permanent gestresst fühlt, bei dem läuten die unbewussten Alarmglocken unauf hörlich. Bei chronischem Stress ist besondere Vorsicht geboten. Schließlich ist es genau diese Art von Stress, bei der das Risiko, ernsthaft krank zu werden, am größten ist.

Runterkommen und Durchatmen

Der Schlüssel für einen konstruktiven Umgang mit Stress heißt Erholung. Die meisten von uns sind so beschaffen, dass sie mit einem gewissen Stressniveau umgehen können; wir arbeiten hart, nehmen große Verantwortung auf uns, machen diverse Dinge gleichzeitig – vorausgesetzt, dass wir uns regelmäßig zugestehen, auch genau das Gegenteil zu machen: runterzukommen und durchzuatmen. Es gibt viele unterschiedliche Arten, sich zu erholen und Kraft zu tanken: Yoga, Qigong, Meditation, Sticken, Fliegenfischen, im Chor singen. Die Liste ist lang. Ich selbst mache auch regelmäßig einige dieser Sachen, aber die größte Entspannung und Inspiration finde ich, wenn ich in die Natur gehe, mich dort irgendwo hinsetze oder einfach planlos herumstromere. Kann ich nicht rausgehen, schaue ich aus dem Fenster auf einen Baum oder in den Himmel. Das ist einfach, kostenlos und funktioniert praktisch überall. Doch für mich war es eine mühsame Reise, bis ich so weitgekommen war.

Die Heilkraft der Natur

Als ich – als dreifache Mutter mit Anfang vierzig – eine Krebsdiagnose bekam, war das, als ob mein schönes und angenehmes Leben binnen einer Minute zusammenbrach. Meine innere Alarmanlage ging los, ohrenbetäubend laut. Würde ich jetzt sterben? Ich ging in einen üppig grünen Park in der Nähe des Krankenhauses und weinte. Die kommenden Monate befand ich mich zwischen totaler Dunkelheit und einer gewissen Hoffnung. Zu Hause versuchte ich, die Fassade aufrechtzuerhalten. Ich wurde operiert, begann eine Zytostatika-Behandlung und verlor mein langes Haar. Alle wussten, wie es um mich stand, aber ich sprach eigentlich nur mit einigen wenigen Menschen darüber. Und mit den Bäumen. Während dieser Zeit wurden Aufenthalte in der Natur zu meiner Überlebensstrategie. Ich verordnete mir ganz einfach selbst, jeden Tag rauszugehen – als Ergänzung zu meiner Behandlung.

Im nahe gelegenen Wald heulte ich und ließ meiner Wut freien Lauf, saß ganz entspannt irgendwo herum und hörte den Kolkraben zu, die über den Baumwipfeln Diskussionen führten, bewunderte den Tanz der Libellen auf den Felsen oder lag im Moos und beobachtete die Wolken. Diese Zeiten gaben mir Ruhe und Trost und halfen mir, nicht in Selbstmitleid und Angst zu ertrinken. Hier tankte ich Kraft für die Behandlungen.

Mittlerweile ist das alles dreizehn Jahre her. Damals hatte ich keine Ahnung, wie man mit einer Lebenskrise umgeht, noch weniger, wie man mit einer tödlichen Krankheit fertig wird. Ich hatte überhaupt keine Erfahrung mit Panikattacken und Todesangst. Doch ich wagte es, auf mein Inneres zu hören, das mir den Rat gab, nach draußen zu gehen.

Baum schlägt Beton

Ich glaube nicht, dass es ein Zufall ist, dass ich – und viele, viele andere – Ruhe und Trost in der Natur suchen, wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Die Tatsache, dass meine Eltern mich von klein auf mit in die Natur genommen haben, reicht als Erklärung nicht aus. Es gibt noch eine tiefere Dimension, die dem Menschen den Weg »nach draußen« zeigt, etwas, dass nichts mit meiner Person zu tun hat, sondern mit der Menschheit als solcher.

Der erste, der untersuchte, welche Auswirkungen die Aussicht eines Krankenhauszimmers auf das Befinden und die Genesung von Patienten hatte, war der Umweltpsychologe Roger Ulrich aus den USA. Sein Ergebnis hat weltweit für Aufmerksamkeit gesorgt, als es 1984 veröffentlicht wurde, und markierte den Startpunkt für die moderne Forschung zur Korrelation von Natur und Gesundheit. Frisch operierte Patienten, die von ihren Betten auf die grünenden Bäume im Park sahen, ging es besser, sie genasen schneller und brauchten weniger Schmerzmittel als die Vergleichsgruppe, die auf eine Betonwand schaute.

Danach haben viele andere Studien ebenfalls nachgewiesen, dass Stress und Unruhe in der Natur abnehmen, Schmerzen nachlassen und der Kopf frei wird. Eine wichtige Erklärung dafür scheint im Charakter der Sinneseindrücke zu liegen. Im Straßenverkehr, im Einkaufszentrum und bei der Arbeit müssen Entscheidungen getroffen und Aufgaben gelöst werden, während wir gleichzeitig mit mehr oder weniger aggressiven Sinneseindrücken bombardiert werden: Schau hierher, hör zu, klicke hier! Die Geräusche, Düfte und optischen Eindrücke der Natur sind anders, sie verlangen nichts von uns, sondern lassen das Gehirn in einem angenehmen Ruhezustand verharren.

Biologisches Ruhesystem

Dass wir in der Natur ganz bei uns sein können, mag überraschend wirken. Wir werden ja tatsächlich in mehr oder weniger künstlich erzeugte Umgebungen hineingeboren, in denen wir danach auch leben. Es kann rückwärtsgewandt anmuten, dass unser Gehirn besser im Wald aufgehoben ist als in der Stadt – das scheint irgendwie unzeitgemäß zu sein. Doch, wenn man den Blick hebt und die menschliche Geschichte betrachtet, lichtet sich das Dickicht. Seit Beginn der Menschheit haben wir vielleicht 50 000 Generationen lang als jagende und sammelnde Nomaden in einer ungezähmten Landschaft gelebt. Danach haben wir für 500 Generationen als Bauern das Land bestellt. In der Stadt leben wir tatsächlich erst seit zwei, drei Generationen, und zu Handy- und Facebook-Nutzern sind wir im Prinzip erst gestern geworden.

Die eigene biologische Vergangenheit schüttelt man nicht so einfach ab. Man braucht nur daran zu denken, was passiert, wenn man es im Gras rascheln hört und plötzlich eine Schlange vor einem auftaucht. Dann spielt es keine Rolle mehr, ob man ein Webdesigner aus Kleinkleckersdorf ist, der sich im Jahr 2016 befindet, oder ein Jäger im Großen Afrikanischen Grabenbruch vor zweihunderttausend Jahren. Der Puls rast und bevor man überhaupt einen klaren Gedanken fassen kann, ist der Körper schon auf Flucht oder Verteidigung eingestellt. Doch auch das Gegenteil ist der Fall – unser Gehirn ist ebenso darauf programmiert, sich entspannen zu können, weil es uns historisch gesehen größere Überlebenschancen als Art eingeräumt hat. Unsere Vorfahren, die gut darin waren, sich ausreichend auszuruhen, hatten bei der nächsten Bedrohung wieder genügend Kräfte gesammelt, um sich dieser entgegenstellen zu können. Das war ein klarer Vorteil verglichen mit jenen, die nicht in der Lage waren, sich zu entspannen. So haben wir – parallel zu unserer unbewussten »Alarmanlage« – auch ein eingebautes Ruhesystem, dass dann aktiviert wird, wenn wir meditieren, Qigong machen oder auch, wenn uns jemand sanft und liebevoll berührt – oder wenn wir in der Natur sind.

Einfach mal unsozial sein

Irgendetwas in uns kommt an diesen Orten zum Klingen, besonders an den Stellen, die an die Plätze erinnern, an denen unseren Vorfahren zu Hause waren. Paläontologie und Anthropologie belegen, dass sie sowohl die Umgebung im Blick haben wollten als auch einen vor Sonne und Eindringlingen geschützten Ort zum Leben brauchten. Sie suchten bevorzugt nach einer reichen und variationsreichen Natur, wo es genügend Nahrungsquellen gab und Wasser in der Nähe war – eine kleine Anhöhe in einer halboffenen Landschaft mit Meerblick war zum Beispiel ein idealer Platz, um ein Lager aufzuschlagen. Dort zündeten unsere Ahnen ihre Feuer an, schauten in die Flammen und tankten Kraft für die kommenden Herausforderungen. Dies ist auch eine einfache Erklärung dafür, dass die Wörter »Balkon«, »Grundstück am Meer« und »See« die drei am meisten verwendeten Suchwörter auf dem schwedischen Immobilienportal »Hemnet« sind und dass fast alle verkauften Kamine eine Glastür haben. Der Blick aufs Wasser und in die Flammen berührt etwas ganz tief in unserem Innersten.

Aus evolutionsbiologischer Sicht ist dies auch die Erklärung für den tief verwurzelten Zusammenhang zwischen Natur – besonders einer gewissen Form von Natur – und Entspannung. Das Gefühl von Ruhe und einem inneren Ankommen, das Menschen in der Natur wahrnehmen, verschwindet nicht einfach, weil wir die letzten hundert Jahre hauptsächlich in Städten gelebt haben oder weil wir uns einreden, wir bräuchten die Natur nicht. Hundert Jahre sind aus evolutionsbiologischer Sicht nicht wirklich relevant.

Fixpunkt Natur

Meine täglichen Besuche in der Natur während meiner Krebsbehandlung waren wie eine Massage für Körper und Sinne. Ich machte nicht viel da draußen in meinem Waldstück um die Ecke. Tag für Tag war ich einfach nur viele Stunden dort – mit mir selbst. Ich konnte mich in dieser Umgebung nicht nur entspannen, sondern auch allen schlimmen Gedanken freien Lauf lassen und sie zu Ende denken. Nach einiger Zeit kamen dann andere Gedanken an die Oberfläche: kreative Ideen und eine Freude über das Leben. Sogar Freude über jeden einzelnen Tag. Nun bin ich schon lange vom Krebs geheilt, aber die Natur und alles, was darin lebt, ist weiterhin eine meiner wichtigsten Anlaufstellen, zu der ich eine tiefe Verbindung spüre. Ich habe einen existenziellen Fixpunkt, einen Anker und eine neue Sicherheit in meinem Leben.

Ich glaube, dass der Mensch die Natur heute stärker denn je braucht. Wir leben in einer Zeit, in der ein urbanes und säkularisiertes Leben die Norm ist (auch ich bin ein Kind des Asphalts). Ein wahnsinnig hohes Arbeitstempo ist selbstverständlich und akute Stressreaktionen sind einer der häufigsten Gründe für eine Krankschreibung – zumindest in Schweden. Ständig auf dem Sprung zu sein, immer online und erreichbar, das kostet. Wer in diesem Strudel nicht untergehen will, braucht Strategien für Entspannung und Erholung – einen Werkzeugkasten für Ruhepausen.

In meinem Kasten liegen Aufenthalte in der Natur ganz oben, nicht zuletzt, weil ich mir während dieser Auszeiten gestatte, gänzlich ungestört zu sein. Ich erhole mich am besten, wenn ich alleine bin und mein geliebtes, praktisches Telefon zu Hause lasse oder es einfach ausschalte. Dass flüchtige Eindrücke unsere Aufmerksamkeit fangen, liegt gewiss in der Natur des Menschen und das Belohnungszentrum in meinem Kopf zeigt mir deutlich, dass es durchaus nichts dagegen hat, dass ich weiß, was meine Mitmenschen so tun. Aber wenn ich erst mal draußen bin, der Stress sich verflüchtigt und der Puls sinkt, dann gibt es kein Zurück mehr. Dann bleibt das Telefon zu Hause. Dann sitze ich auf einer meiner Lieblingslichtungen, genieße die Sinneseindrücke in der Natur und übe mich darin, unsozial zu sein und meine innere Ruhe zu finden.

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