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Landleben in Schweden: Zurück zur Natur

Die Zahlen sind alarmierend. Immer mehr Dörfer und Landstriche im Norden von Schweden veröden. Gleichzeitig träumt eine wachsende Zahl von Städtern von einem einfachen Leben auf dem Land. NORR ist in die lappländische Einöde gereist, um naturbegeisterte Idealisten zu treffen, die den Kampf gegen die Bevölkerungsflucht aufgenommen haben.

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1 Grundtjärn oder Machu Picchu?

Dass Pål Henriksson Tenhunen, der erste Siedler in Grundtjärn, sich um 1630 dort eine Hütte samt Rauchsauna baute, ist leicht zu erklären. Für ihn ging es ums Überleben. Mehrere kalte und regnerische Sommer hatten in Finnland zu einer Hungersnot geführt. Schweden wollte die weitläufigen Waldgebiete im Inneren Norrlands kolonisieren und überließ Leuten, die verzweifelt genug waren, um dort hinzugehen,gratis Grund und Boden. Schwendewirtschaft – die Praxis, Wald abzubrennen und in der Asche Roggen und Rüben anzubauen – war damals in Finnland verbreitet. Nach Schweden eingewanderte »Schwendefinnen« wurden sozusagen als Sturmtruppen ins Landesinnere geschickt. Pål Henriksson Tenhunen, seine in den Kirchenbüchern nicht namentlich erwähnte Frau und ihr gemeinsamer Sohn Påwel zogen von Örnsköldsvik sechzig Kilometer landeinwärts bis zu einem langgestreckten Waldsee, den sie Storsjön nannten, den »großen See«. Am nordöstlichen Ufer fanden sie ein hügeliges Gebiet, das regelmäßig von der Sonne beschienen wurde. Ringsum erhoben sich bewaldete Hügel, denen Grundtjärn seine geschützte Lage verdankte. In den Seen der Umgebung gab es Unmengen von Fischen. Bald ließ sich ein zweiter Schwendefinne in Grundtjärn nieder. Ein Dorf war geboren.

Nicht ganz so leicht ist es zu begreifen, warum Jonna Jinton im Sommer 2010 von Göteborg nach Grundtjärn umzog. Sie war damals 20 Jahre alt. In Göteborg hatte sie als Altenpflegerin  gearbeitet und darüber nachgedacht, Sozialarbeit zu studieren und eine längere Reise nach Südamerika zu unternehmen. In ihrer Freizeit spielte sie World of Warcraft und traf sich mit ihren Freunden in Cafés.

Ihre Mutter war in Grundtjärn aufgewachsen, und ihr 70-jähriger Onkel Tage wohnte noch immer dort, gemeinsam mit etwa zehn älteren Nachbarn. Die Familie hatte 2004 die ehemalige Dorfschule gekauft und zu einem Sommerhaus umgebaut. Jonna hatte sich dort immer sehr wohlgefühlt. So kam es, dass sie eines schönen´Tages beschloss, nach Grundtjärn zu ziehen, anstatt nach Südamerika zu fahren. Sie bezog ein kleines Holzhaus mit zwei Zimmern und Küche. »Es fühlt sich immer noch ganz unwirklich an«, schrieb sie vor der Abreise auf ihrem Blog.

In dem Haus gab es weder Heizung noch  Warmwasser, nur einen kleinen Elektroherd und einen großen Herd, der mit Holz beheizt wurde. Jonna fing schon Ende August an zu frieren, und es wurde immer kälter. Vor allem morgens, bevor das Feuer im Herd wieder brannte.

Manchmal fuhr sie in ihrem alten blauen Volvo 245 auf der Schotterstraße dreißig Kilometer nach Westen bis Junsele und manchmal fünfzehn Kilometer in die andere Richtung bis Myckelgensjö. Dort gibt es einen kleinen Dorfladen und einen Bauernhof, wo sie gelegentlich aushelfen konnte. Zusammen mit ihrer Mutter gründete sie eine Firma, die Silberschmuck über das Internet vertreibt. In der übrigen Zeit fotografierte sie, so viel sie konnte, stellte die Bilder in ihren Blog und schrieb Texte dazu. Aber die meiste Zeit verbrachte Jonna damit, Holz zu hacken, Schnee zu schippen, den Herd anzuheizen, Wasser warm zu machen, zu waschen, Geschirr zu spülen und Essen zu kochen.

Ende April schmolz der Schnee an der Eingangstreppe, und Jonna schrieb in ihren Blog: »Ich habe das Gefühl, zum allerersten Mal den Frühling zu erleben.« Nach Hause zurückkehren wollte sie nicht. Grundtjärn war schon längst ihr neues Zuhause geworden.

Als der Fotograf Nicklas Blom und ich im März 2012 unser Auto hinter Jonna Jintons altem Volvo parken, ist sie längst eine lokale Berühmtheit. Ihr Blog wird täglich von mehr als 2000 Menschen gelesen. Sie bloggt auch für die Lokalzeitung Örnsköldsviks Allehanda und wurde mit großer Mehrheit zur Gewinnerin eines Stipendiums einer regionalen Meierei gewählt, hat der Tageszeitung Göteborgs-Posten, dem schwedischen Radio SR und anderen Medien Interviews gegeben. Zwei Filmemacher und einige ihrer Blogfans waren auch schon zu Besuch.

Und alle stellen sie – genau wie ich – die eine Frage, die auf ihrem Blog beim Menüpunkt »Fragen« an erster Stelle steht: »Warum hast du die Großstadt verlassen, um in eine Hütte in Norrland zu ziehen?«»Die Leute, die hier wohnen, wundern sich am meisten über meinen Entschluss«, sagt Jonna, als wir sie und den Hund Nanook begrüßt haben und am Küchentisch Platz nehmen.

Sie erzählt, wie sie sich aus der Stadt wegsehnte, weg vom Gedränge, vom Asphalt, vom Stress und so weiter, und wie sehr sie es jetzt genießt, vor ihrem Haus die Natur direkt vor der Nase zu haben und ein einfaches, aber bodenständiges Leben führen zu können.

»Im vorigen Sommer habe ich angefangen, Kartoffeln anzubauen. Es hat nur für zwei Mahlzeiten gereicht, den Rest haben die Wühlmäuse gefressen. Aber ich mag es, im Alltag kämpfen zu müssen, in der Erde zu graben und am Hackklotz zu stehen.« In ihrem Blog präsentiert sie jede Menge Bilder aus Grundtjärn, auf denen man das Nordlicht sieht, dunkle Waldseen, goldene Wiesen im Gegenlicht – und meistens auch Jonna selbst. »Ich habe immer ein Stativ dabei und kann inzwischen gut mit dem Selbstauslöser umgehen.« Auf den Bildern sieht sie fast verliebt aus. Und glücklich. Nach den Kommentaren zu urteilen, haben sich auch viele ihrer Leser ein bisschen in Grundtjärn verliebt.

Obwohl wir nur einen Nachmittag bleiben, erwacht in mir ein ganz ähnliches Gefühl. Das Dorf am Hang des Storsjön und die Wälder ringsherum atmen Frieden. Ich kann nicht widerstehen, mir die Verkaufsanzeigen für Häuser am Schwarzen Brett anzusehen.

Als wir uns verabschiedet haben, um nach Junsele weiterzufahren, sagt Nicklas: »Ich wette hundert Kronen darauf, dass sie in einem Jahr wieder umgezogen ist. Das sind doch nur Jugendträume.« Während wir durch den Nadelwald fahren, überlege ich, ob er recht hat. Ich komme zu dem Ergebnis, dass das keine große Rolle spielt. Das Interessante an dem Besuch bei Jonna Jinton ist nicht die Frage, ob sie den Rest ihres Lebens in Grundtjärn verbringen wird.

Das Entscheidende ist, dass eine junge Frau, die die Wahl hat, nach Südamerika zu reisen oder in eine ungeheizte Hütte in einem halb verlassenen norrländischen Dorf zu ziehen, sich tatsächlich für das Dorf entscheidet und darin das größere Abenteuer sieht.

Ebenso interessant ist die Aufmerksamkeit, die sie erregt. Wenn das, was Jonna Jinton in ihrem Blog einfängt, nicht einer weit verbreiteten Sehnsucht entgegenkäme, hätte er nicht über zweitausend Leser am Tag. Er wird sogar von den Blogrezensenten auf der Fashionistar-Seite Stureplan.se empfohlen, obwohl das Leben rund um den schicken Stureplan in Stockholm eigentlich in krassem Gegensatz zu dem steht, was Jonna verkörpert.


2 Das Hundeschlitten-Eldorado

Im Sommer 1674 wanderte eine der in Grundtjärn ansässigen Familien am Fluss Ångermanälven entlang weiter nach Norden. Nils und Ella Andersson ließen sich schließlich mit ihren Kindern und einer Kuh bei Gafsele nieder, zwanzig Kilometer vor Åsele. Sie waren die ersten Siedler in der »Åsele lappmark«, wie die Gegend damals bezeichnet wurde. Die Besiedlung der lappländischen Gebiete, wo Sami ansässig waren, war die nächste Stufe der Kolonisation von Norrland. Die Regierung hatte allen, die sich dort ansiedelten, fünfzehn Jahre Steuerfreiheit versprochen. Am Anfang wollte der schwedische Staat sich nicht mit den Sami überwerfen, die für die Jagd- und Fischereirechte Steuern zahlten. So durften die Siedler keinen Grund bebauen, der von den Sami genutzt wurde. Im Laufe der Jahrhunderte wurde diese Übereinkunft aber immer wieder gebrochen. Und als der Staat begriff, dass er durch Land- und Forstwirtschaft, Erzgruben und andere Aktivitäten gut Geld machen konnte, nahm er den Sami nach und nach ihr Land weg. Die Siedler dagegen durften ihren Grund und Boden behalten.

Doch im Sommer 1674 war noch alles gut. Familie Andersson wurde von der samischen Familie Zakrisson, die bereits dort, wo die Neuankömmlinge siedeln wollten, lebte, willkommen geheißen. Keiner von ihnen konnte ahnen, dass Gafsele sich zu einem richtigen Dorf entwickeln sollte, das es fast 350 Jahre später immer noch geben würde. Ein Dorf, das heute nicht vom Verfall bedroht ist. Im Gegenteil: Keines der 80 Wohnhäuser von Gafsele steht zum Verkauf, und 24 von ihnen sind im Besitz zugezogener Mitteleuropäer.

Ich hörte das erste Mal von diesem besonderen Ort, als ich 2006 den deutschen Hundeschlittenführer Klaus Starflinger interviewte, einen der führenden Aktiven in der Sprintklasse. Als er erfuhr, dass ich Schwede bin, fragte er sofort:

»Dann warst du bestimmt schon in Gafsele?« Ich musste zugeben, dass ich noch nicht einmal den Namen dieses Dorfs kannte. Starflinger erzählte mir begeistert, das er und einige andere Hundeschlittenführer sich dort Häuser gekauft hatten.

»Im nächsten Jahr findet die Weltmeisterschaft in Gafsele statt – dann musst du kommen! Das deutsche Fernsehen wird dabei sein und vom Hubschrauber aus filmen.«

Während Nicklas und ich am Ångermanälven entlangfahren, schwärme ich fast schon genauso von Gafsele: »Die Nähe zur Natur ist in dünn besiedelten Gebieten doch eine fantastische Ressource. Schau dir Gafsele an – die Leute ziehen da hin, weil sie dort mit ihren Schlittenhunden trainieren können. Im vorigen Jahr wurde sogar ein Stadion dafür gebaut.«

Als wir in der Dämmerung in Gafsele ankommen und auf den schneebedeckten Hängen am Fluss etwa dreißig Holzhäuser sehen, hinter deren Fenstern das Licht brennt, wird mir wieder einmal schlagartig bewusst, wie schön ein kleines schwedisches Dorf sein kann.

Ungefähr gleichzeitig denke ich über die Sache mit dem Stadion nach. Hatte ich das wirklich richtig verstanden? In der zur Jugendherberge umfunktionierten Dorfschule sind wir die einzigen Gäste. Außer uns ist nur noch eine Gruppe von Frauen dort, die an einem Kochkurs teilnimmt. Sie wissen nichts davon, dass Gafsele ein »europäisches Hundeschlitten-Eldorado« ist, wie die Homepage des Dorfs behauptet.

Im Zimmer schaue ich in meinen Notizen nach. Ja, Gafsele soll tatsächlich »Schwedens erstes permanentes Hundeschlittenstadion« besitzen. Am nächsten Morgen machen wir uns auf den Weg dorthin. Vor der Reise hatte ich mit Berit Oderstål gesprochen, die im Dorf so etwas wie eine inoffizielle Schaltzentrale zu sein scheint. Alle verweisen mich an sie, egal ob es um den Hundeschlittenklub oder die neuen Einwohner geht.

Wir wollen uns mit Berit und ihrem Mann Erik treffen, die gerade einen Schnuppertag im Stadion anbieten. Es sind Skiferien, und der Hundeschlittenklub von Gafsele lädt zu Schlittenfahrten, Grillwürsten und Kaffee ein.

Das »Gafsele Sleddog Centre« besteht, wie sich herausstellt, aus einem großen Parkplatz, einem kleinen, rotgestrichenen Haus, in dem sich der »Stadionsprecher« und die Funktionäre aufhalten können, und einer Außentoilette. Tribüne: Fehlanzeige. »Wir planen, demnächst Kameras neben der Schlittenspur aufzustellen, so dass das Publikum die Rennen im Start- und Zielbereich über Bildschirme verfolgen kann. Die meiste Zeit sieht man die Hundegespanne ja sowieso nicht, weil sie durch den Wald laufen«, erklärt Berit, als sie uns herumführt.

Vielleicht ahnt sie, dass wir den Begriff »Stadion« etwas anders definieren würden, denn sie fügt hinzu: »Das Wichtigste sind unsere Trails. Wir präparieren den Schnee fast täglich und spuren die Strecken. Und genau das lockt die Ausländer her.«

Sie und Erik haben ein Feuer gemacht, Thermosflaschen mit Kaffee, Kanister mit Saft, Grillwürste und andere Dinge bereitgestellt. Beide haben gute Laune. Schon bald kommen die ersten Besucher: Eine aus der Schweiz zugezogene Familie kommt vorbei, der Vater hat sich auf Langstrecken spezialisiert und will jetzt die Hunde trainieren. Eine Frau aus Holland, die im Winter 2001 hierherkam, um für die Europameisterschaft im Sprint zu trainieren – und seitdem mit dem Hausmeister zusammenlebt, der für das Spursystem zuständig ist, und zwei deutsche Paare, ebenfalls Hundeschlitten-Enthusiasten.

Und, last but not least, Klaus Starflinger mit seiner Frau und Assistentin Sylvia. Sie stellen ihren Dodge Ram 2500 und einen riesengroßen Anhänger mit der Aufschrift »Speed is your friend« mitten auf den Parkplatz. Die Hunde bellen, als ginge es um ihr Leben, als Klaus und Sylvia sie schnell anschirren und vor den Schlitten spannen. Klaus und die Hunde ziehen mit geschätzten 50 Stundenkilometern ab, Sylvia schnappt sich einen Schneescooter und saust hinterher.

Der Kontrast zwischen dem rockstarmäßig auftretenden Klaus Starflinger und den würstchengrillenden Rentnern Berit und Erik Oderstål ist leicht surreal. Ich habe einige Mühe, mir ein richtiges Bild von Gafsele, dem Hundeschlitten-Eldorado, zu machen.

Auch zwei Familien mit Kindern tauchen auf, die eine Probefahrt machen wollen. Eine Schwedin aus dem Hundeschlittenklub ist ein paar Stunden anwesend, ansonsten dominieren die Zugezogenen. Es sind Minusgrade, die Sonne scheint und die Hunde kläffen. Wir sitzen um das Feuer herum, plaudern und lassen es uns gutgehen. Die Holländerin hat ihre Mutter zu Besuch, die mir zuflüstert: »Das hier erinnert mich an Holland in den fünfziger Jahren.«

Beim Aufräumen frage ich Berit, ob sie mit dem Schnuppertag zufrieden ist. »Absolut. Alles, was über zwei Besucher hinausgeht, ist ein Erfolg«, antwortet sie, und sie meint es offenbar ernst.

Nicklas und ich verbringen zwei Tage in Gafsele. Wir besuchen Klaus und Sylvia Starflinger, die mit ihren Hunden am Ångermanälven wohnen, und wir essen bei Berit und Erik zu Abend. Ich interviewe Åsa Hägglund, die mit ihrem Mann den Hundeschlittenklub gegründet hat, und andere Dorfbewohner, denen wir begegnen.

Die Schlittenhunde sind zweifellos ein wichtiger Bestandteil des Dorflebens. Es war der legendäre Hundeschlittenführer Egil Ellis, der das Gebiet in den achtziger Jahren entdeckte. Er und seine Lebensgefährtin Helen Lundberg wohnen heute in Alaska und sind Weltstars in der Hundeschlittenszene. Egil Ellis lockte seine Kollegen aus der Weltelite hierher, so wie Klaus Starflinger. Die Weltmeisterschaft 2007 war der beste Beweis dafür, dass Gafseles Spursystem internationalem Standard entspricht.

Mit Berit und Erik besuchen wir das Heimatmuseum von Gafsele. Berit überreicht mir ein Dokument mit dem Titel »Beiblatt zur Infrastruktur«. Es ist eine Liste mit ungefähr dreißig Dingen, von denen die Einwohner Gafseles meinen, dass das Dorf sie braucht, um überleben zu können: zum Beispiel Mülltrennung, Kinderbetreuung, Breitband-Internet, die Möglichkeit, Briefmarken und Medikamente zu kaufen.

»Ich habe nicht daran geglaubt, dass das Dorf ohne Schule und Kindergarten überleben würde. Aber wir geben nicht auf«, sagt Berit.

Man merkt, dass die Schlittenhunde in Gafsele eine wichtige soziale Funktion erfüllen – etwas, das Identität stiftet und auf das man stolz sein kann. Die Nähe zur Natur und die Hundeschlittentrails sind ohne Zweifel zwei wichtige Aktivposten für Gafsele. Aber davon hängt nicht ab, ob die Landflucht fortschreitet oder nicht.


3 Arbeitsreiche Tage auf Solberget

Das wird mir noch klarer, als ich Dirk und Silke Hagenbuch mit ihren Kindern Rasmus und Mattis besuche, die auf dem Hof Solberget wohnen, im Wald, etwa zehn Kilometer von Nattavaara entfernt. Dirk und Silke kommen aus Deutschland und betreiben die kleine Ferienanlage »Wildnisdorf Solberget«, die aus dem alten Hofgebäude, einer Scheune, ein paar kleineren Hütten und einer Sauna besteht.

Die Häuser haben weder Strom oder Heizung noch fließendes Wasser. Die Gäste müssen sich mit Kerzen, Petroleumlampen, holzbefeuerten Kaminen und Kachelöfen behelfen und das Wasser von einer nahe gelegenen Quelle holen.

Gerade das ist die Attraktion. Ins »Wildnisdorf Solberget« kommen (deutsche) Touristen, um das einfache, ursprüngliche Leben im Stil von Jonna Jinton kennenzulernen. Dirk und Silke bieten Aktivitäten wie Rentierwanderungen mit den hofeigenen zahmen Rentieren an, aber für die meisten Besucher ist es das Wichtigste, einfach nur hier zu sein.

Das deutsche Ehepaar lebt selbst genauso wie seine Gäste. Sie wohnen in einem neueren Haus, das sie zum Teil selbst gebaut haben. Es ist ein gutes Beispiel dafür, dass man tatsächlich »off-grid« leben kann, wie man heute sagt, ohne dabei auf Komfort zu verzichten. »Vor ein paar Jahren schrieb eine Tageszeitung, dass jetzt alle, die im inneren Norrland wohnen, endlich einen Stromanschluss hätten. Da habe ich in der Redaktion angerufen und protestiert«, erzählt Dirk. Und er fügt hinzu, dass sie sich bewusst für ihre Lebensweise entschieden haben. Der Strom aus den Sonnenkollektoren reicht für die Computer und die siebzehn 12-Volt-Lampen im Haus. Ein riesiger, moderner Topfsteinkamin beheizt fast das ganze Gebäude. Das Quellwasser wird auf dem holzbefeuerten Herd erwärmt, auf dem auch das Essen gekocht wird. Überall im Haus duftet es angenehm nach Holz. »Wir haben beim Bau auf die üblichen Isoliermaterialien verzichtet«, sagt Silke, »wir möchten nicht in einer Plastiktüte wohnen.«

Dirk und ich unternehmen eine kleine Skitour auf den 458 Meter hohen Solberg. Auf dem Gipfel steht ein alter Feuerwachturm, der jetzt zum Hof gehört. Von oben haben wir eine großartige Aussicht. In weiter Ferne sieht man die Aitik-Grube bei Gällivare, eine der größten Kupferminen Europas. »Viele glauben, dass es im Norden keine Arbeitsplätze gibt, aber das stimmt nicht«, sagt Dirk. »Die Bergbauunternehmen in Gällivare, Kiruna und Pajala suchen dringend Leute. In Gällivare findet man kaum noch eine Wohnung.«

Aber in den Dörfern und Wäldern zwischen den Bergbaustädten gibt es viele verrammelte und verlassene Häuser. Solberget stand mehr als ein Jahr leer, bevor Dirk den Hof kaufte. Wenn er auf die Moor- und Waldflächen hinunterschaut, sieht er glücklich aus. »Es ist doch fantastisch, so wohnen zu können«, sagt er zu mir, aber auch zu sich selbst. »Wenn man aus Mitteleuropa kommt, wo alles so eng ist, erkennt man womöglich leichter, wie einzigartig es hier ist«, sinniert er. Ich frage ihn, ob er in fünfzehn Jahren immer noch hier leben wird. »Das vielleicht nicht. Es ist auch sehr umständlich, so zu leben.«

Wir klettern hinunter und gehen in die alte Feuerwachhütte, um einen Kaffee zu trinken. Das Interieur würde gut in ein Einrichtungsmagazin mit dem Thema »Rustic Chic« passen. Dirk zündet eine Kerze an. »Aber ich dachte, ihr mögt dieses einfache, arbeitsreiche Leben?«, frage ich. »Auf jeden Fall«, sagt Dirk, und er erklärt, dass es ihm nicht um Dinge wie Holzhacken oder Wasserholen geht, sondern um das, was auch auf Berit Oderståls »Beiblatt zur Infrastruktur« steht.

»Die Schule in Nattavaara wurde 2009 geschlossen. Jetzt müssen die Schulkinder nach Hakkas fahren, das ist mehr als eine Stunde Fahrzeit. Wir kämpfen dafür, wenigstens den Kindergarten und die Grundschule bis Klasse 3 zurückzubekommen. Gegenwärtig zahlt die Kommune 500 000 Kronen im Jahr für das Taxi, das die Kinder zur Schule fährt. Das entspricht in etwa dem Gehalt für eine volle Lehrerstelle. 2011 wurde die Bezirkskrankenschwester wegrationalisiert, und kürzlich hat der Lebensmittelladen in Nattavaara zugemacht.«

Während unserer Reise muss ich oft an die Menschen denken, die im 17. Jahrhundert hier lebten – der erste Siedler in Nattavaara, Michel Ryss, kam ungefähr zu der Zeit an, als Familie Andersson sich in Gafsele niederließ –, und daran, dass Jonna Jinton, Berit Oderstål und Dirk Hagenbuch jetzt genauso bereit sind, für ihr Leben in dieser Gegend zu kämpfen. Es gibt aber einen krassen Unterschied: Damals sah der schwedische Staat die Sami und die Siedler in Norrland, die jagten, fischten, den Boden bestellten und Steuern zahlten, als ökonomische Bereicherung an. Heute dagegen scheinen die Einwohner dieser dünn besiedelten Gebiete vornehmlich als Kostenfaktor betrachtet zu werden.