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Wolken über dem Nordpol: Klimaforschung in der Arktis

In der Arktis verändert sich das Klima auf eine Art, die sich mit heutigen Klimamodellen nicht erklären lässt. Eine internationale Forschungsexpedition reist an den Nordpol, um eines seiner Geheimnisse zu untersuchen: die Bildung mysteriöser Wolken.

Am 21. Juli lichtet der schwedische Eisbrecher Oden vor Helsingborg seinen Anker. Arctic Ocean 2018 heißt die schwedischamerikanische Initiative, von der man sich in der Forschungswelt einen entscheidenden Durchbruch verspricht. Neben der Besatzung, vom Koch bis zum Hubschrauberpiloten, sind 40 Forscher von Universitäten aus ganz Europa und Nordamerika an Bord. Nicht nur Proviant und Kleidung haben sie dabei, auch ferngesteuerte Unterwasserfahrzeuge, Wetterballons und andere Geräte, sorgfältig in Hunderte von stoßfesten Kisten gebettet, sowie Stahlcontainer, die den Forschergruppen als Labore dienen sollen. Ziel der Reise ist der Nordpol. Waren es Anfang des 20. Jahrhunderts Abenteurer, die sich dorthin auf den Weg machten, so sind es heute Wissenschaftler, die hier Erkenntnisse über den Klimawandel gewinnen wollen.

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Die globale Erwärmung verteilt sich nicht gleichmäßig über den Erdball, sie geht an den Polen schneller vor sich, am allerschnellsten in der Arktis. In diesem Jahrhundert könnte die Temperatur dort bis 16 Grad steigen. Die Forschung kann die Veränderungen nicht vollständig erklären. Dass es an Wissen fehlt, erstaunt nicht: Auf schwimmenden Eismassen lassen sich Forschungslabore nicht dauerhaft installieren. Die Entfernung ist enorm, die Wetterbedingungen sind hart, im Winter konnte man bislang kaum Untersuchungen durchführen. Und die in der Arktis lebenden Menschen sind in den Medien kaum präsent. Wenn New York dem Risiko einer Erwärmung um 16 Grad entgegenginge, würden die Politiker vermutlich entschlossener handeln.

Rätsel um Zucker

Die Hocharktis, das Gebiet rund um den Nordpol, ist weitgehend unerschlossen. Das bringt jedoch auch einzigartige Möglichkeiten mit sich: Es gibt keine Autoabgase oder Kohlekraftwerke. Hier findet man die sauberste Luft der Welt. Und hier bilden sich die Wolken, deren Entstehung kein Forscher bislang wirklich erklären kann. Nach anderthalb Tagen Fahrt pflügt die Oden durch die erste größere Eisscholle. Ein Dröhnen lässt den Rumpf erzittern. Kurz darauf hält das Schiff an und die Forscher nehmen Proben. Caroline Leck, Professorin für chemische Meteorologie an der Universität Stockholm, hat die Eismassen sehnlich erwartet. Sie leitet die Expedition gemeinsam mit ihrer Kollegin Patricia Matrai vom amerikanischen Bigelow Laboratory for Ocean Sciences. Für Caroline ist dies die fünfte Reise auf der Oden.

Schon bei ihrer ersten Begegnung mit dem Nordpol im Jahr 1991 stand die Wolkenbildung im Fokus. »Der Spätsommer 1996 war ungewöhnlich, weil ein Hochdruckgebiet über drei Wochen stabil blieb und sich im Eis große Risse auftaten«, berichtet Caroline. »Dadurch wurde eine mikrobiologische Aktivität im Wasser ausgelöst, die sich offenbar auf die Luft übertrug. Wir entdeckten einen ganz neuen Typ an Zuckermolekülen, Aerosole genannt, die aus Algen und Bakterien stammten.« Genau diese Aerosole sind der Grund der Expedition. Wenn feuchte Luft sich abkühlt, bildet sich Wasserdampf. Damit dieser zu Wolken wird, sind kleine Partikel notwendig, die durch die Luft transportiert werden und als Landeplatz für die Wassermoleküle dienen. Ohne diese Aerosole können keine wolkenbildenden Wassertröpfchen entstehen. Hier kommt die extrem saubere Luft am Nordpol ins Spiel. Aerosole sind natürlicherweise in der Luft vorhanden, vermehren sich aber durch Menschen verursachte Verunreinigungen. Ein Kubikzentimeter gilt als Maßeinheit, der ungefähr der Größe eines Zuckerwürfels entspricht.

An einer Hauptstraße in Stockholm können Hunderttausende Aerosole pro Zuckerwürfel vorkommen. In der Luft über dem Nordpol sind es im Schnitt nur fünfzig. Aber schon 1996 brachte Caroline Proben mit einem viel höheren Gehalt an Aerosolen mit, die anscheinend nicht von menschlicher Aktivität stammten, sondern aus dem Meer. Doch woher genau kommen sie und wie gelangen sie in die Luft? Das möchten die Forschergruppen von Arctic Ocean 2018 ergründen. »Bislang gibt es kaum Beispiele, mit denen man beweisen kann, dass Wolken auch von Mikroorganismen im Meer gebildet werden«, sagt Caroline. »Wir müssen viel mehr Daten sammeln und analysieren.«

Die Eisschollen werden größer und kommen in kürzerem Abstand, je weiter die Oden nordwärts ins Packeis dringt. Dazwischen breitet sich zäher Eismatsch aus. Nicht einmal die 13 000 Tonnen schwere Oden schafft es, geradeaus durch das Eis direkt zum Nordpol zu fahren. Mithilfe von Satellitenbildern bewegt sich das Schiff im Zickzack voran, immer dorthin, wo das Packeis am dünnsten ist. Die Landschaft weckt nicht nur die Sehnsucht der Forscher nach Entdeckungen, sondern auch viele Emotionen. »Jedes Mal empfinde ich tiefe Demut. Wir sind nur Gäste. Winzige Punkte in der Natur«, sagt Caroline. Ebenfalls über Satelliten fahnden die Schiffsoffiziere und die Forschungsleiter nach der größten Eisscholle. Die Methode ist bei jeder Expedition gleich: an der besten Scholle festmachen, die Motoren abstellen und dann langsam mit der Strömung weitergleiten. Wenn die Forscher Proben von der saubersten Luft dieses Planeten nehmen wollen, dürfen die Dieselabgase eines Eisbrechers natürlich nicht darin enthalten sein.

Wolken als Klimaretter

Wie können mikroskopisch kleine Aerosole aus dem Ozean das globale Klima beeinflussen? Schon lange ist bekannt, dass Gletscher, Packeis und Schneedecke den Treibhauseffekt bremsen. Ihre Oberflächen reflektieren die Sonnenstrahlung und schicken sie zurück in den Weltraum. Schmilzt das Eis rund um den Globus, dann verschwinden diese natürlichen Reflektoren und die Wärme wird absorbiert. Aber auch Wolken reflektieren Sonnenstrahlung. Was passiert nun, wenn die Schmelze in der Arktis bewirkt, dass die biologische Aktivität im Meer zunimmt und immer mehr Aerosole freisetzt? Könnte das zur Bildung neuer Wolken führen, die wiederum den Treibhauseffekt aufhalten könnten?

»Wir hoffen, dass unsere Expedition neue Erkenntnisse bringt. Dann lässt sich besser voraussehen, wie das Klima in 50 bis 100 Jahren aussehen könnte«, sagt Matthew Salter, Aerosolphysiker am Institut für Umweltwissenschaften und analytische Chemie der Universität Stockholm. Er teilt die Kabine mit John Prytherch, Experte für Ozeanografie und Meteorologie, der schon an drei Expeditionen teilgenommen hat.

Jedes Mal, wenn ich in die Arktis komme, wundere ich mich

John Prytherch, Experte für Ozeanografie und Meteorologie

»Das Eis ist um einiges dünner geworden, seit ich vor zehn Jahren zuletzt hier war«, stellt John fest. »Und es scheint eine geringere Dichte zu haben.« Das abschmelzende Eis ist auch für die Expedition problematisch. Wird sich eine genügend große und stabile Eisscholle finden? Vor zehn Jahren war die »Insel«, an der die Oden anlegte, acht Kilometer breit. Diesmal erreicht das Schiff nach mehrtägiger Suche eine Scholle, die 1,3 Kilometer breit ist. Kann sie für einen Monat als schwimmender Hafen dienen? Oder wird sie zerbrechen? Auf den Satellitenbildern zeigt sich keine bessere Alternative. Am 14. August macht die Oden an der Scholle fest, die Motoren werden abgestellt. Stille breitet sich aus. Aber die Aktivität an Bord nimmt zu. Nun beginnt für die Forscher der intensivste Teil der Reise. »Jedes Mal, wenn ich in die Arktis komme, wundere ich mich. Letztes Mal waren tief liegende Stratuswolken da. Ich hatte geplant, Proben davon zu nehmen. Aber jetzt sind solche Wolken gar nicht zu sehen. Das Wetter ändert sich hier stündlich«, sagt John.

Aber wie misst man etwas, das man nicht sieht? »Wir haben Satelliten, aber nur wenige konkrete Messungen wurden vor Ort durchgeführt«, sagt John. »Wie die typischen Wetterverhältnisse hier aussehen, wissen wir nicht, weil wir so selten hier sind. Außerdem verändern sich die Bedingungen durch den Klimawandel drastisch.« Während der Klimawandel die Messungen zunehmend erschwert, verläuft die technische Entwicklung umgekehrt: Seit der letzten Expedition hat sich die Ausrüstung der Forscher deutlich verbessert. Nun wird ein heliumgefüllter Zeppelinballon mit speziell konstruierten Instrumenten eingesetzt, um Proben von Wolkentröpfchen zu sammeln. Julia Schmale vom schweizerischen Paul Scherrer Institut forscht über Aerosole unter extremen Umweltbedingungen. »Da Wissenschaftler verschiedenster Universitäten und Institutionen beteiligt sind, können wir so zusammenarbeiten, dass sich unsere Stärken gegenseitig ergänzen, und Problemlösungen finden, auf die jedes Forscherteam allein nicht gekommen wäre«, sagt Julia. Von ihrem Institut in der Schweiz stammen 15 Messinstrumente, die jetzt in einem der Containerlabore installiert worden sind, wie ein Massenspektrometer, das Aerosole bis zum Molekülstadium analysiert. »Diese Möglichkeit gab es vor zehn Jahren nicht. Wir wollen jetzt wissen, um wie viele Partikel es sich jeweils handelt, wie groß sie sind, woher sie kommen und ob sie Wolken bilden können.«

Die Proben werden jeden Tag eingesammelt und analysiert, in Zusammenarbeit mit den Teams draußen auf dem Eis. Julia und ihr Kollege stellen bald fest, dass es viel mehr Varianten gibt als erwartet. In manchen Proben finden sich weniger als zwei Partikel. Eine Art Erinnerung daran, wie die Atmosphäre vor der Industrialisierung beschaffen war. Aber in einigen Fällen sind es mehrere tausend. Eine so große Menge, dass Julia und ihr Mitarbeiter sich zunächst fragen, ob die technische Ausrüstung fehlerhaft ist oder ob das Schiff die Motoren gestartet hat. Welche Schlüsse ziehen die Forscher? »Das werden wir vielleicht in zwei, drei Jahren wissen«, sagt Julia.

Nicht twitterfreundlich

Die wissenschaftliche Verfahrensweise ist nicht gerade twitterfreundlich. Die Analyse der Daten, die während der zweimonatigen Expedition gesammelt werden, erfolgt jeweils am Heimatort. Danach treffen sich die Forscher auf Konferenzen und diskutieren Ergebnisse. Anschließend schreiben die Wissenschaftler ihre Artikel, die von verschiedenen Experten beurteilt und am Ende hoffentlich in einer Fachzeitschrift publiziert werden – als offizieller Beweis dafür, dass die Schlussfolgerungen korrekt waren. »Aber ich muss zugeben«, sagt Julia, »dass wir das, was wir sehen, schon jetzt sehr spannend finden.«

Trotz der intensiven Arbeit stellt sich an Bord bald eine gewisse Ruhe ein. Draußen ist es 24 Stunden lang hell, die Sonne geht nie unter. Die Tage gehen unmerklich ineinander über. Die tägliche Routine ist immer gleich. Vor dem Frühstück treffen sich die Forschergruppen und bereiten das Arbeitspensum des Tages vor. Das Frühstück endet mit der Wetterprognose des Meteorologen – jedes Mal ein fesselndes Thema – und einem Überblick über das, was die verschiedenen Teams vorhaben. Um neun Uhr gehen die Forscher hinaus aufs Eis zu ihren Messstationen oder in die Labore an Deck. Lunch gibt es draußen, dann wird weitergearbeitet bis zum Abendessen, anschließend wieder Arbeit oder ein wenig Entspannung. An Bord gibt es einen Fitnessraum, eine Sauna, Literatur, Gesellschaftsspiele und ein kleines Kino, wo unter anderem The Terror gezeigt wird, eine Serie über eine Nordpolexpedition. Freitagabends öffnet eine kleine Bar und vor dem sonntäglichen Dinner ziehen sich die Leute um.

Die Arbeit steht im Mittelpunkt. Etliche der Forscher haben seit Jahren darauf gewartet, an einer Expedition wie dieser teilnehmen zu dürfen. Trotzdem kommt es zu vielen persönlichen Gesprächen. Die Kabinen sind eng und müssen geteilt werden. Statt Nachrichten zu lesen oder soziale Medien zu checken – es gibt hier kein Netz –, bleiben Besatzungsmitglieder und Forscher nach dem Essen mit einer Tasse Tee sitzen und reden miteinander. Oft über existenzielle Fragen, das liegt in diesem Umfeld nahe. Die Stockholmer Fotografin Karin Alfredsson dokumentiert die Expedition.

»Die Farben sind unglaublich, ich habe noch nie so viele Nuancen von Weiß und Blau gesehen. Das Licht ist völlig anders als alles, was ich je sah – es ist scharf und gleichzeitig weich. Mir kam der Gedanke, dass ich das Urlicht einfangen könnte, noch ganz frei von menschlichen Einflüssen. Aber die Kamera scheint dieses Licht nicht richtig zu verstehen.«

Am 14. September, 31 Tage nachdem die Oden an ihrer Eisscholle vertäut wurde, herrschen zehn Grad minus und kräftiger Schneefall. Der Wind steigert sich zum Sturm. Zwei der Taue sind abgerissen. Die Teams müssen zusammenpacken und sich auf den Rückweg machen, bevor die Herbststürme die Heimkehr unmöglich machen.

Arbeit gegen die Zeit

Knapp zwei Wochen später dockt die Oden auf Spitzbergen an, wo die meisten Forscher abmustern und in ihre Heimatstädte zurückkehren. Sie haben 56 Tage in der Arktis hinter sich – mehr Zeit, als irgendeine frühere Expedition auf diesen Breitengraden verbrachte. Mehrere Jahre werden die Auswertungen dauern, bis sie der Menschheit neue, wichtige Auskünfte liefern können. Und das in Zeiten, in denen einige der mächtigsten Männer der Welt glauben, dass sie selbst entscheiden können, ob der Klimawandel überhaupt etwas ist, um das man sich kümmern müsste. Vielleicht gehören die Nordpolfahrer auf ihrer Suche nach der wissenschaftlichen Wahrheit tatsächlich zu den wirklichen Helden unserer Epoche?

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