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Zeitreise: Mit dem Zug durch Schweden

Für NORR-Autor Anders Falkirk ist Zugfahren im Norden ein Traum. Auf Skandinaviens längster durchgehender Strecke, zwischen Malmö und Narvik, hat er viel Zeit, über seine Leidenschaft und den aktuellen Bahn-Boom in Schweden nachzudenken.

Es ist so einförmig, dass es schon meditativ wirkt. Endlos streckt sich der Wald dem Horizont entgegen und man braucht schon besondere Geduld und Aufmerksamkeit, in der Landschaft geografische oder sonstige Besonderheiten auszumachen. Und so stellt sich ein merkwürdiges, traumhaftes Wohlbefinden ein – ganz ohne Zutun, allein durch den Blick aus dem Zugfenster. Jemand hat die Strecke zwischen Gävle und Gällivare mal als »Lilla Transsibiriska« bezeichnet, als kleine Transsibirische Eisenbahn. Eine absolut treffende Assoziation: Wenn Leere und Ruhe eine Attraktion sind, dann gibt es hier reichlich davon. Wo sonst findet man diese fantastische Langeweile, diese perfekte Kur gegen Alltagsstress und Reizüberflutung, als bei einer Reise auf Schienen durch den hohen Norden?

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Über 2 000 Kilometer rollt dieser Zug von Malmö aus der Länge nach durch Schweden – durch die Kulturlandschaften im Süden und die Nadelwälder und Sumpfgebiete im Norden, vorbei an den Metropolen Stockholm und Uppsala, Sundsvall und Umeå, über die hohe Küste und entlang des mächtigen Sees Torneträsk. Bei Riksgränsen überquert er die Grenze nach Norwegen und schlängelt sich dann durch das mächtige Fjällmassiv hinab zum Narvik-Fjord.

Dieses letzte Stück der Fahrt, auch Ofotbanen genannt, gilt als eine der schönsten und spektakulärsten Strecken Europas. Dass hier oben, allen geografi schen Herausforderungen zum Trotz, bereits seit Anfang des letzten Jahrhunderts Züge verkehren, ist letztlich dem Eisenerz zu verdanken. Die Malmbana (dt. Erzbahn) wurde damals gebaut, um die Bodenschätze aus Kirunas Gruben zu den Häfen in Narvik am Nordmeer und Luleå am Bottnischen Meerbusen zu transportieren. Bis zur Fertigstellung des Europaweges E10 in den 80er Jahren war die Schiene übrigens die einzige Verbindung zwischen Kiruna und Narvik. Wer mit dem Auto übers Fjäll wollte, musste es damals auf den Autozug verladen.

Bahn-Boom in Schweden

Ich bin nicht allein in meinem Abteil. Um mich herum sehe ich Wanderer mit dicken Rucksäcken auf ihrem Weg in Lapplands Wildnis, ausländische Touristen, die auf dem Landweg den Polarzirkel überwinden oder die Mitternachtssonne erleben wollen, aber auch viele »Norrlänningar« auf der Heimreise. Dass die Züge Richtung Norden gut gefüllt sind, ist eigentlich nichts Neues. Viele Schweden wählen seit jeher die Schiene für ihre Reise ins Fjäll – als einfachere, bequemere und umweltfreundliche Alternative zu Flugzeug und Auto. Und doch spürt man deutlich, dass das nordische Land gerade einerseits von einem regelrechten Bahn-Boom erfasst wird und dass andererseits immer mehr der sonst so flugbegeisterten Skandinavier auf die übliche Fernreise verzichten und stattdessen ihren Urlaub im Norden verbringen. Wie damals mit den Eltern– in der Zeit, als es noch keine Billigflieger gab und das Gute so nah lag.

Nie zuvor waren Zugreisen in Schweden ein so heißes Thema. Viele Interrail-Veteranen der 80/90er Jahre, die mittlerweile Kinder im zugfähigen Alter haben, lockt die Nostalgie zurück auf die Schiene. Andere treibt der »Flygskam«, das Schämen fürs Fliegen, sprich eine Mischung aus Klimabewusstsein und sozialem Zwang, zur Wahl umweltfreundlicherer Verkehrsmittel. Innerhalb kürzester Zeit wuchs die Facebook- Gruppe »Tågsemester« (dt. Zugferien) von einer kleinen Schar Eisenbahn-Insider zu einer mächtigen Community und Lobby für Reisen auf der Schiene. Über 80 000 Mitglieder diskutieren Verbindungen nach Europa, teilen Tipps und setzen mitunter Reiseveranstalter wie Politiker unter Druck.

Beim schwedischen Tomas-Cook-Ableger Ving findet man seit Kurzem »Zugcharterreisen« im Programm. Die große Tageszeitung DN mietete gar einen eigenen Zug für ihre einwöchige Kulturreise durch Europa, die nach wenigen Tagen ausverkauft war. Und wer einen begehrten Schlafplatz in den beliebten Nachtzügen nach Jämtland, Lappland oder Deutschland (Snälltåget zwischen Malmö und Berlin) ergattern will, sollte früh dran sein. Als 2017 drei von vier Nachtzügen nach Norrland eingestellt werden sollten, startete der schwedische Tourismusverein STF unter dem Motto »Rädda Nattåget« eine Online-Petition, an der sich fast 50 000 Menschen beteiligten. Die Regierung beschloss daraufhin, den Betrieb und die Aufrüstung der Schlafwagen zu unterstützen. Schwedens Nachtzüge in den Norden waren bis auf Weiteres gerettet. Und auch die Verbindungen zum Kontinent sollen verbessert werden. So sieht die aktuelle Regierungserklärung vor, neue Nachtzugstrecken nach Europa auszuschreiben – unter anderem von Stockholm nach Hamburg, das als Knotenpunkt für die Weiterfahrt nach Europa gilt.

Zeit gewinnen und genießen

Gleichzeitig schlägt sich der Trend auch jenseits des Urlaubsverkehrs nieder: »Seit dem letzten Herbst ist die Zahl der Dienstreisen 22 Prozent gestiegen«, sagt Tobbe Lundell, Pressechef der staatlichen Bahn SJ. »Immer mehr Unternehmen und öffentliche Organisationen stellen bei ihren Reisen innerhalb Schwedens auf den Zug um.« Dafür gibt es gute Argumente: Gerade mal drei Stunden dauert etwa die Fahrt zwischen Göteborg und Stockholm und die SJ-Züge fahren zu hundert Prozent CO2-neutral mit regenerativer Energie. »Das steigende Interesse an klimafreundlichen Reisen ist deutlich und führt schließlich zu einer positiven Spirale«, so Tobbe Lundell.

Wo sonst findet man diese fantastische Langeweile, diese perfekte Kur gegen Alltagsstress und Reizüberflutung, als bei einer Reise auf Schienen durch den hohen Norden?

»Je mehr Menschen den Zug aus ökologischen Gründen wählen, desto mehr entdecken auch andere Vorzüge des Reisens auf der Schiene: dass man Zeit gewinnt – für sich selbst, für die Familie oder zum Arbeiten. Und vor allem, dass die Fahrt selbst z Erlebnis werden kann.« Davon profitieren dann schließlich auch Strecken, bei denen es weniger um die effiziente Verbindung als vielmehr um das Landschaftserlebnis und das nostalgische Gefühl des Zugfahrens an sich geht. Wie zum Beispiel die Inlandsbanan, die von Kristinehamn am Vänern bis nach Gällivare in Lappland dieselbetrieben durch das schwedische Inland tuckert. »Wir spüren den Bahn-Boom deutlich«, sagt Chefin Elena Jönsson, »gerade bei Reisenden, die Nordlichter oder die Mitternachtssonne erleben wollen. Oder die Wanderungen, Kultur und entspanntes Zugfahren verbinden wollen.«

Strecken mit Geschichten

Wir erreichen derweil den kleinen Ort Älvsbyn in Norrbotten. Der Bahnhof ist ein warmgelbes historisches Holzgebäude von 1890 mit roten Fensterläden. Seit über 120 Jahren steigen hier Menschen ein und aus, darunter viele Nichts für Hektiker: Die Inlandsbanan rollt gemütlich durch Schwedens Inland. Hier überquert sie den Trappstegsforsen in Vilhelmina. »Und so mischen sich in das meditative Erlebnis immer auch nostalgische Gedanken.« Wanderer und Touristen auf dem Weg zu den nahe gelegenen Storforsen, den mächtigen Stromschnellen des Flusses Piteälven. Später machen wir halt an der nationalromantischen Station der alten Garnisonsstadt Boden, von der aus seit 1900 ganz Norrland vor potenziellen Gefahren geschützt werden soll. Noch eine Weile setzt sich die Fahrt durch die Eintönigkeit fort. Doch dann muss ich ein bisschen aufmerksamer aus dem Fenster blicken. Verändert sich die Landschaft nicht doch? Tatsächlich: Immer hügeliger werden die Wälder, immer häufiger öffnet sich der Blick.

Spätestens nach Kiruna und seinen unerschöpfl ichen Gruben breitet sich die Fjällwelt mit ihren mächtigen Felsmassiven und Schluchten vor mir aus. Hier liegen Schwedens legendäre Wildnisgebiete, das Welterbe Laponia und der Nationalwanderweg Kungsleden, der nahe dem Bahnhof von Abisko im gleichnamigen Nationalpark beginnt.

Von einem Traum zum nächsten

Hoch oben im Norden wird die Zugreise zur Zeitreise. Hier haben jede Strecke und jede Station ihren Sinn und ihre eigene Geschichte. Und so mischen sich in das meditative Erlebnis immer auch nostalgische Gedanken. Ich stelle mir vor, wie die ersten STF-Mitglieder mit Abenteuerlust und einfacher Wanderausrüstung an meinem Platz saßen. Oder Familien mit ausgelassenen Kindern und buntem 70er-Jahre- Outfi t auf dem Weg in den Fjällstuga-Sommer. Oder müde Soldaten auf ihrem Weg zum Dienst in Lapplands Einöde. Und wie viele Millionen Tonnen Erz sind wohl schon über das Gleisbett unter mir gerollt? Schließlich nähere ich mich dem Ziel. Narvik ist Europas nördlichster Bahnhof. Hier ist die Schiene plötzlich zu Ende – weder nach Norden noch nach Süden gibt es Verbindungen. Wer weiter will, muss auf ein Schiff der Hurtigruten oder in den Bus steigen, um zum Beispiel – wie ich – auf die Lofoten-Inseln weiterzureisen.

Nach meiner Fahrt durch die meditative Weite Schwedisch Lapplands wartet nun eine der spektakulärsten Küstenlandschaften der Welt auf mich, mit spitzen Gipfeln, die sich bis zu tausend Meter hoch senkrecht aus dem norwegischen Nordmeer erheben. In dem Sinne ist Narvik für mich keine Endstation, sondern der Beginn eines neuen Traums. Ich muss einfach nur aussteigen.

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