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Arktischer Sehnsuchtsort Grönland

Als Tourguide kehrt NORR-Leserin Laura Schmidt nach Ostgrönland zurück. Inmitten von kalbenden Gletschern und Eisbergen erlebt sie gemeinsam mit ihrer Reisegruppe die berührende Kultur der Inuit.

Bizarre Bergspitzen tauchen im Meer auf. Das Flugzeug hat die Ostküste Grönlands erreicht. Emotionen brodeln in mir. 2011 war ich als Studentin im Rahmen einer geografischen Exkursion in dem Gebiet um Ammassalik, eine dem grönländischen Inlandeis vorgelagerte Insel, unterwegs. Sechs Jahre sind nun vergangen und ich kehre als Tourguide für den Reiseveranstalter Wikinger Reisen nach Tasiilaq, den größten Ort an der stürmischen Ostküste, zurück. Eine stille Sehnsucht hat sich erfüllt. Ostgrönland ist geprägt von einer kalten Meeresströmung, die eine Menge Packeis mit sich führt. Es ist gebirgiger, wilder und ursprünglicher als der Westen. Noch bis vor 130 Jahren lebte dort die Bevölkerung abgeschnitten von der Außenwelt, was die Region, ihre Sprache und die Kultur geprägt hat. Mittlerweile ist dieser Teil der Erde von knapp 3 000 Menschen bewohnt.

Auf dem Polarmeer nach Tasiilaq

Der Pilot macht sich zur Landung auf der Schotterpiste von Kulusuk bereit. Nicht selten können Flugzeuge wegen zu starken Windes nicht starten oder müssen wieder zurück nach Island fliegen. Ich bin erleichtert, als ich grönländischen Boden unter meinen Füßen spüre. Das Gepäck wird von einem Mitarbeiter in einer Baggerschaufel vor den Eingang des kleinen Flughafens gebracht. Jeder Fluggast fischt sich seine eigene Reisetasche heraus. Eine interessante Vorgehensweise, die zeigt, wie einfach hier Dinge gehandhabt werden.

Vom Flughafen Kulusuk geht es zu Fuß zu einer Anlegestelle. Dort warten schon Ole, Peter und Vigo, erfahrene Bootsfahrer und Mitarbeiter vom Roten Haus in Tasiilaq. Es ist der Südtiroler Robert Peroni, wegen dem die meisten Touristen zum Roten Haus möchten, das Ausgangspunkt vieler Expeditionen, Zelttrekkingtouren und Standortwanderungen ist. Robert kam 1980 zum ersten Mal nach Grönland. Weil ihn das Land und vor allem seine Menschen nicht mehr losließen, entschied er, dort zu bleiben und gründete das Rote Haus.

Beim Gedanken an Grönland spüre ich Sehnsucht, Demut und Liebe.

Erinnerungen werden in mir geweckt, als wir im Boot von Kulusuk über das offene Polarmeer nach Tasiilaq heizen. Ich bestaune die riesigen Eisberge, die vom Gletscher in die Fjorde gekalbt sind und ihren Weg bis aufs offene Meer gefunden haben.

Ein paar Tage habe ich noch Zeit, bevor meine Gruppe kommt, und so bereite ich mich ausführlich auf das Tourenprogramm vor. Dazu gehört auch der Umgang mit dem Gewehr. Ostgrönland ist das natürliche Verbreitungsgebiet von Eisbären. Man sollte für jeden Fall gewappnet sein und sich innerhalb der Gruppe richtig verhalten können. Letztlich dient das Gewehr aber dazu, Eisbären in unmittelbarer Nähe mit Warnschüssen zu verjagen.

Bewegendes Naturschauspiel

Um mit Robert sprechen zu können, braucht es viel Geduld. Alle möchten Informationen von ihm und jeden Tag bespricht er mit den Tourguides und anderen Gästen die aktuelle Lage zu den Wanderungen, das Wetter und ob die Boote zu den Ausflugszielen starten können. Dahinter steckt ein enormes Wissen und eine perfekt abgestimmte Logistik, die ohne ihn und sein Team dort kaum möglich wäre.

In den kurzen Sommermonaten ist das Wetter grundsätzlich stabil und teils auch sehr warm, es kann aber plötzlich umschlagen. Hier sind Flexibilität und Gelassenheit gefragt. Wichtig ist, dass man sich voll und ganz auf das Land, seine Einwohner und die Witterungsbedingungen einstellt. Oder wie die Inuit sagen: »Heute ist heute und morgen ist morgen«.

Neben den Wanderungen auf Ammassalik und den umliegenden Fjorden gehören Bootstouren zum absoluten Highlight. Bei der Tour um die Insel Ammassalik kommen meine Gäste und ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Gleich sieben Gletscher kalben vom Inlandeis in den riesigen Sermilikfjord – ein gigantischer Anblick. Wir halten in der kleinen Siedlung Tinitequilaaq und haben genügend Zeit, das Naturereignis zu beobachten. Als wir das offene Polarmeer erreichen, geben unsere Bootsfahrer ein Zeichen.

Plötzlich taucht eine Gruppe Wale direkt neben uns auf und kurz herrscht absolute Stille. Dieses Naturschauspiel beim schönsten Abendlicht zu beobachten, gehört zu einem besonderen Erlebnis – auch für unsere Grönländer.

Zwischen den Welten

Abends berichtet Robert aus seinem Leben und seinen Erfahrungen mit den Inuit. Ursprünglich handelt es sich um ein Naturvolk, das an Geister und bestimmte Naturphänomene glaubte, bis sie von Missionaren christianisiert wurden. Leider ist das Volk in seinem Glauben sehr zerrissen. Viele wissen nicht, wohin sie gehören und fühlen sich entwurzelt. Zudem können die langen Winter, die Abgeschiedenheit sowie ein fehlendes kulturelles Angebot zu Frustration und Alkoholismus führen.

Ich habe mich oft gefragt, warum mich dieses Land so fesselt. Ein Land, in dem die Winter hart sind, das Wort Zukunft für viele Inuit nicht existiert und die Bevölkerung um ihre Existenz kämpft. Vielleicht ist es genau das, wonach sich so viele sehnen: Entschleunigung. Es gibt nichts außer der Natur und dem Hier und Jetzt. Trotz der vielen Herausforderungen sind die Inuit unglaublich stolz auf ihr Land.

Beim Gedanken an Grönland spüre ich Sehnsucht, Demut und Liebe. Ich denke an Eisberge und Eisschollen, die mit ihrer weißen Farbe so friedlich auf dem Polarmeer treiben und das Gefühl von Zeitlosigkeit und Präsenz geben. Eigentlich sollte vor einer Reise in die fantastische Arktis gewarnt werden: Man wird süchtig, aber auf eine besonders schöne Art und Weise.

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