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Der Weg zurück in den Sarek

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Als Abenteuer-Fotograf hat Martin Hülle mit Winterstürmen auf der Hardangervidda gekämpft und das endlose Inlandeis Grönlands überquert. Doch dann bekam er Epilepsie. Wie sollte er von nun an leben? Die Antwort fand er in der Einsamkeit des Nordens.

Ein eisiger Wind weht über den Kungsleden. Bevor es hinuntergeht zu den Aktse-Hütten, verlasse ich den markierten Weg und gehe in Richtung Sarek und zu den Seen unterhalb des Bassoajvve. In der Senke tummeln sich die Rentiere. Ich baue das Zelt auf und starte mit leichtem Sturmgepäck zum 1179 Meter hohen Gipfel des Skierffe, dem markanten Berg im Rapadalen. Von seiner Rückseite ist der felsige Sporn relativ einfach zu besteigen, ein unscheinbarer Pfad führt hinauf und nur das letzte Stück ist steinig.

Plötzlich bin ich oben, stehe an der Abbruchkante und unter mir geht es 700 Meter senkrecht hinab. Der Blick auf das Delta des Ráhpaädno verschlägt mir den Atem. Tief unten schlängeln sich die verästelten Arme des mächtigen Flusses durch einen grünblauen Teppich aus Seen, Sümpfen und Wäldern. Eingekeilt zwischen den Felsabbrüchen des Skierffe und des gegenüberliegenden Gipfels Tjahkelij münden die pulsierenden Adern des mit Gletschersedimenten durchsetzten Wassers in den Laitaure.

Wenn ich jetzt einen epileptischen Anfall bekäme, würde ich mich vielleicht nicht halten können, und über die Klippe in die Tiefe stürzen. Ich bin mutterseelenallein – dabei sollte ich doch eigentlich nicht mehr zu Solotouren aufbrechen. Zu riskant, so ganz ohne mögliche Hilfe. Aber diesen gutgemeinten Ratschlag meines Arztes habe ich ignoriert. Doch jetzt hier zu stehen an diesem Ort, mich nicht sattsehen zu können an dieser Landschaft, hat etwas Unwirkliches. Denn vor ein paar Monaten war ich noch ein Schatten meiner selbst.

AM BODEN ZERSTÖRT

Es war Anfang Mai. Innerhalb eines Tages erleide ich zwei Krampfanfälle, bin mit weit aufgerissenen Augen für einige Sekunden völlig weggetreten und erstarre zu einem Stock. Nina, meine Frau, fährt mich in die Notaufnahme des Klinikums. Nach kurzer Wartezeit werde ich sofort verkabelt und an alle möglichen Geräte angeschlossen. EKG, Blutdruck, Infusion.

Der erste neurologische, psychische und allgemeinmedizinische Befund ist ohne größere Auffälligkeiten. Blut und Nervenwasser liegen im Normbereich und auch bei der Computertomografie ist nichts Verdächtiges zu erkennen. Auch kein Tumor, wie der Arzt trocken anmerkt. Aufgrund des zweimaligen Bewusstseinsverlusts mit Die Erkrankung, die so plötzlich ohne Vorwarnung über mich hereinbricht, wirft mich aus der Bahn.hochgerissenem Arm und tonischer Haltung ist allerdings von einer Epilepsie auszugehen. Um diese vorläufige Diagnose weiter zu untermauern, stehen in den folgenden Tagen noch mehr Untersuchungen an. Doch auch nach zwei verschiedenen EEGs scheinen die Ärzte immer noch nicht schlauer zu sein. Schließlich muss ich noch eine Nacht ins Schlaflabor. Doch auch hier lassen sich keine epilepsietypischen Potenziale nachweisen. Dennoch folgt eine abschließende Beurteilung: Am ehesten ist von einer kryptogenen fokalen Epilepsie auszugehen. Ich soll Antiepileptika schlucken und mich einer ambulanten Weiterbehandlung unterziehen.

Die Erkrankung, die so plötzlich ohne Vorwarnung über mich hereinbricht, wirft mich aus der Bahn. Doch schon im Krankenhaus mache ich mir selbst Mut. Es gibt Schlimmeres. Ich habe »nur« Epilepsie. Wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, schränkt es einen hoffentlich kaum ein. Doch die Medikamente, die ich einnehmen muss, haben heftige Nebenwirkungen. In den ersten Wochen leide ich unter Schwindelgefühlen und Müdigkeit. Oft komme ich morgens kaum aus dem Bett, kann mich am Nachmittag schon wieder hinlegen und schlafe abends vor dem Fernseher ein.

MANCHMAL IST ES EINFACH ZUM KOTZEN

Es folgt eine emotionale Achterbahnfahrt. Und die Frage nach dem Sinn. Doch es gibt auch Hoffnung. Mit der Diagnose Epilepsie in der Tasche reifen Pläne und Ideen für einen Neuanfang. Ich will diese Zeit des vermeintlichen Stillstands nutzen, Veränderungen ins Auge fassen, unnütze Dinge über Bord werfen und Geliebtes neu entdecken.

Doch es ist ein Auf und Ab. Als die Nebenwirkungen der Tabletten – Schwindel und Müdigkeit – nachlassen, kommt der Durchfall. Zwei Wochen lang. Dann gibt es als Zugabe noch eine Gürtelrose. Und ich muss noch mehr Pillen schlucken. Ein Schritt vor und zwei zurück. Manchmal ist es einfach zum Kotzen.

Als das Schlimmste überstanden scheint, wollen wir nur noch weg. Endlich Erholung finden, Abstand gewinnen, den Stress abschütteln. Vier Wochen lang wollen wir durch Schweden und Norwegen reisen. Ich bin zuversichtlich, während dieser Auszeit vom Alltag neue Kraft tanken zu können. In der ersten Woche habe ich Kopfschmerzen, und Gliederziehen, aber dann geht es stetig aufwärts. Und je länger wir unterwegs sind, desto mehr können wir abschalten.

Es ist überwiegend trocken und warm. Meistens können wir draußen vor dem Zelt frühstücken. Das tut gut und spornt uns an, immer wieder in die Natur aufzubrechen. Das Gefühl, krank zu sein, rückt mehr und mehr in den Hintergrund.An einigen Orten machen wir länger Station. In der Region Höga Kusten zum Beispiel, wo wir Wanderungen im Skuleskogen-Nationalpark unternehmen. Über Stock und Stein, durch Schluchten und Wälder, an Seen und dem Meer entlang. Und am Kallsjön in Jämtland. Dort besteigen wir bei etwas rauerem Wetter den Gipfel des Suljätten und stapfen durch sumpfiges Gelände. Und schließlich am Femundsee in Ost-Norwegen. Zwischen Rentieren, Ameisenhügeln und Pilzen kommen Nina, ich und unsere Tochter Selma endgültig zur Ruhe. Meine Epilepsie-Pillen nehme ich nicht mehr so stur zur immer gleichen Uhrzeit ein, schlafe lieber aus und habe immer seltener mit Schwindel zu kämpfen. Das Gefühl, krank zu sein, rückt mehr und mehr in den Hintergrund.

Zu unserer großen Freude spricht Selma in diesem Urlaub ihren ersten korrekten Satz: »Ich möchte raus!«. Jeden Morgen lässt sie uns wissen, dass sie das Zelt verlassen und an die frische Luft möchte. Für mich werden diese drei Worte gar zu einer Art Mantra. Auch ich möchte wieder raus. Zu den Orten im Norden, an denen meine Passion für diese Landschaften seinen Anfang nahm. Aber auch zu neuen Orten, wo ich noch nicht gewesen bin.

CHARGING COMPLETED

Während unserer Reise reift in mir ein Plan. Meine Akkus sind wieder gefüllt und ich fühle mich stark genug, um ein neues Abenteuer in Angriff zu nehmen: Eine Durchquerung des Sarek und des Padjelanta-Nationalparks in Schwedisch-Lappland. Mit dieser Reise möchte ich zurückkehren zu meinen Anfängen, dorthin, wo vor über zwanzig Jahren alles begann. Damals wanderte ich auf dem Kungsleden von Abisko nach Kvikkjokk und war gleichsam fasziniert von der Landschaft und der Freiheit, die sich mir im hohen Norden Schwedens bot. Es war der Beginn einer Leidenschaft, die bis heute ungebrochen ist. Gegen Ende der Wanderung kam ich am Ostrand des Sarek-Nationalparks vorbei – dem Teil, der als wegloses Land gilt. Das war mir damals dann doch eine Nummer zu groß.

Aber bereits zwei Jahre später wagte ich mich erstmals ein Stück hinein in diese urwüchsige Welt – angestachelt vom Nordlandfieber, mit einem Rucksack voller Respekt und jugendlichem Entdeckergeist. Ich schaffte es von Kvikkjokk durch den südlichen Teil des Parks bis zur Kapelle von Alkavare, dann machte mir das Wetter einen Strich durch die Rechnung. Immerhin: Die anfangs oft bedrückende Einsamkeit machte mir zum Ende der Tour nichts mehr aus. Im Gegenteil, ich war mittlerweile der Ansicht, dass zwei Wanderer in einem Tal bereits einer zu viel sind.

Nach unserer Auszeit im Norden bin ich mir sicher: Ich will zurückkehren an diesen Ort. Ich fühle mich ausreichend sicher, auch in der Wildnis trotz allem wieder allein bestehen zu können.

GANZ ALLEIN IM WALD

Der Gipfel des Skierffe ist der Punkt, an dem ich die Ungewissheit vollends zurücklasse. Von hier an tauche ich ein in »Europas letzte Wildnis« und folge einem unscheinbaren Pfad hinunter ins Rapadalen und hinein in den dichten Wald der tieferen Lagen. Ein Wirrwarr aus Bäumen, Bächen und Sträuchern. Der Weg mäandert durch den Wald wie der Fluss durch das breite Tal. Das Laufen strengt an. Schließlich finde ich die Abzweigung, die aus diesem Chaos hinausführt.

Regenschauer und Sonnenstrahlen wechseln sich ab. Ich treffe einen Schweizer, mit dem ich in der wilden Einsamkeit einen kurzen Plausch genieße. Dann geht es bei Wind und Nässe wieder allein weiter. Als ich die kleine Nothütte bei Skárjá erreiche, klebt mir die Hose an den Beinen. Ich werfe nur kurz einen Blick in die Zelle mit dem Nottelefon und baue fix mein Nylonzelt am Smájllájåhkå auf. Raus aus den nassen Klamotten und rein in die eigene, kleine Welt.

In der weiten Hügellandschaft Padjelantas steige ich schließlich aus den weißen Höhen hinab in die grüne Oase Staloluokta. Hinter mir lasse ich die gepuderten Zacken der Sarek-Berge zurück, vor mir breitet sich der große See Virihaure aus. An seinem Ufer errichte ich mein Zelt, schaue, träume und lasse die Gedanken schweifen. Vielleicht der schönste Fleck bisher. Weite und Stille. Langsam geht die Sonne unter. Ich lebe in diesem Moment.

Die Epilepsie gerät vor dem Hintergrund der Landschaft fast völlig in Vergessenheit. Nur einmal am Morgen und am Abend werde ich daran erinnert, wenn ich meine Pille schlucke. Anfallsfrei überquere ich Stock und Stein. Als ich die Ny-Sulitjelma-Hütte auf der norwegischen Seite erreiche, ist die Tour fast geschafft. Ein letzter Zeltplatz, bereits mit Blick auf die Bergarbeitersiedlung Sulitjelma. Am Abend leuchten im Tal die Straßenlaternen. Früh wandere ich das letzte Stück hinunter zurück in die Zivilisation. Als ich um 8:30 Uhr in Sulitjelma eintreffe und vor dem Dorfladen stehe, herrscht mal wieder Mistwetter. Was soll’s? Ich habe es geschafft, ganz alleine. Und habe zurückgefunden zu mir selbst und in mein Leben.