Weiter zum Inhalt

Solo mit Lemmingen in Jämtland

Weiterlesen mit NORR+

Ab 1 Euro/Monat erhältst du Zugang zu allen Artikel und exklusiven Aktionen. Jetzt registrieren und einen Monat lang kostenlos testen.

An der Schnittstelle zwischen Frühling und Sommer legt der Fjälltourismus eine Pause ein. Wenn in Jämtland das Schmelzwasser strömt und die ersten Blumen hervorkommen, kann man mit der Natur ganz allein sein.

Als der Zug in dem kleinen jämtländischen Dorf Undersåker hält, ist es schon Abend, aber das schwedische Sommerlicht behält den Himmel eigensinnig im Griff und lässt verwaschene Sonnenstrahlen durch eine marmorgraue Wolkendecke sickern. Bemerkenswert ist, wie sich meine Stimmung verändert hat. Vor sieben Stunden bahnte ich mir den Weg durch die summende, brummende Menschenmenge im Stockholmer Hauptbahnhof. In der Aufregung hatte ich meine Zahnbürste vergessen und womöglich auch, das Bügeleisen abzuschalten. Letzteres war natürlich nur eine Zwangsvorstellung, geboren aus dem Stress zwischen dem Klingeln des Weckers und der Abfahrt des Zuges. Die schwere Waggontür, die ich jetzt aufstoße, ist dieselbe wie heute Morgen, aber draußen erwartet mich eine völlig andere Welt. Ein verlassenes hölzernes Bahnhofsgebäude. Ein paar unbeleuchtete Villen. Ein luftleerer Fußball. Stille. Dann kommt ein Auto über den Hügelkamm und biegt in die Zufahrt zum Bahnhof ein. Es ist Nicklas, der Fotograf, der hier in der Nähe wohnt. Er will mich nach Vallbo fahren, zum Ausgangspunkt des Wanderwegs, der uns zum Lunndörrsfjäll führen wird. Dort werde ich einige Tage allein in der Lunndörren-Hütte des Schwedischen Tourismusverbands verbringen. Sie ist um diese Jahreszeit geschlossen, aber wie in allen anderen Fjällhütten gibt es auch hier einen Schutzraum, der Besuchern jederzeit offen steht.

Ich werde allein über das Fjäll gehen. Allein schlafen, allein aufwachen. Mein eigenes Essen zubereiten, meinen eigenen Kaffee kochen, meinen eigenen Gedanken nachhängen. Allein. Nicklas hat gerade vor kurzem ungefähr die gleiche Tour gemacht, aber zusammen mit jemand anderem. Er beneidet mich. »Ich vertrete ja die Auffassung, dass geteilte Freude nur die halbe Freude ist«, bemerkt er mit einem schiefen Lächeln, als wir das Auto in Vallbo geparkt haben. Er öffnet den Kofferraum und lässt seinen ständigen Begleiter heraus, den Hund Nansen. Der ist natürlich nach dem norwegischen Entdeckungsreisenden Fridtjof Nansen getauft, und was die Sache mit der halben Freude betrifft, ist er definitiv eine Ausnahme. Der Husky-Mischling läuft uns auf dem Wanderweg fröhlich voraus, unbekümmert um seine verrutschte Packtasche. Wir gehen durch dichten Altwald, vorbei an den bemoosten Rundstämmen von zugewucherten Sennhütten und Samevisten, den Sommerdörfern der Sami. An einigen Stellen fließen plötzlich Bäche über den Pfad, das Schmelzwasser vom Fjäll sucht sich neue, improvisierte Wege durch die schräg ab- fallende Waldlandschaft.

DIE SAUBERSTE LUFT DER WELT

Es ist die Jahreszeit, in der die Fjällbirken ausschlagen, aber die Mücken noch nicht aufgewacht sind. Die Sonne steht fast ununterbrochen über dem Horizont, aber viele Fjällstationen und Hütten sind noch geschlossen. Die Saison zwischen Frühling und
Sommer ist die Zeit des frischen Grüns und des strömenden Wassers und für den Einzelwanderer die beste Gelegenheit, Weite und Einsamkeit zu genießen. Jetzt blühen rosa Alpenazaleen und dichte Büschel der Diapensie, die trotz ihres schwedischen Namens »fjällgröna« eine weiße Blume ist. Sie drängelt sich durch das Ackerbeerengestrüpp, eigensinnig davon überzeugt, dass der Sommer da ist oder zumindest nahe. Von Bibern abgenagte Baumstämme liegen wie Mikadostäbe an einem Wasserlauf, den wir passieren. Ein Lemming guckt unter einem Steg hervor und verschwindet ebenso rasch wieder in seinem Versteck. Rechts und links von uns höre ich es rascheln, und Nicklas spricht aus, was ich denke: »Dies ist ein Lemmingjahr. Du wirst sehen, sie sind überall. Sie werden dir da oben Gesellschaft leisten.« Die Luft, die ich einatme, duftet ein wenig nach Torf und Tannennadeln und fühlt sich an wie die sauberste der Welt. Obwohl wir ein ziemlich hohes Tempo vorlegen, ist der Puls ruhiger geworden. Die Entschleunigung hat begonnen.

Als wir etwas später den Bergwald verlassen, öffnet sich vor uns ein weiter Ausblick, und da wir oberhalb der Baumgrenze sind, bietet sich uns ein 360-Grad-Panorama. Hinter uns ragt das Ottfjäll auf, in dunklem Schwarzblau mit weißen Schneeflecken, wie der Rücken eines Schwertwals. Der granitgraue Himmel lässt ein paar warme Sonnenstrahlen durch, die das grüne Moos auf den Felsen zum Glitzern bringen. Es ist zehn Uhr abends, als wir bei der Lunndörren-Hütte ankommen.
Nicklas will gerade die Tür zum Schutzraum öffnen, als er innehält. Die Gardine ist vorgezogen. Das war sie nicht, als er vor ein paar Tagen hier war. Vorsichtig öffnet er die Tür einen Spalt breit und schaut hinein. Tatsächlich – wir sind nicht allein. Zwei Personen liegen ruhig da und dösen, jede in der unteren Etage eines Stockbetts.
Helen und Annie schauen aus ihren Schlafsäcken auf, als Nicklas hereinkommt und in  frechem Göteborger Slang fragt, ob sie gern Gesellschaft hätten und ob sie die Leckereien gefunden haben, die er in der Hütte zurückgelassen hatte. »Wir haben uns nur ein bisschen über die Äpfel gewundert«, sagt Helen und setzt sich blinzelnd im Bett auf. »Wer mag das wohl sein, der hier Äpfel liegen lässt?«

KAFFEE BEIM KÖNIG

Am nächsten Morgen wollen die beiden Mädchen auf den Santaa, einen der am nächsten gelegenen Gipfel, die sich rings um die Lunndörren-Hütte erheben. Nicklas und ich gehen gemeinsam bis zum Eissee, Issjön, über abwechslungsreiches Terrain mit krummen Fjällbirken und rauschenden Bächen, hier und da über eine offene Steppenlandschaft mit flachen Steinen, Sand und vereinzelten Grasbüscheln. Der Boden ist von auffälligen Schlaglöchern und quer verlaufenden Spalten durchzogen, und bald ragen zwei identisch geformte, schotterbedeckte Gipfel vor uns auf, die auf der Karte als »Pyramiden« eingezeichnet sind. Mit ihren glatten, steilen Flanken sehen sie aus wie von Menschen erbaut, aber es handelt sich natürlich auch hier um ein Werk des Landschaftsarchitekten namens »Eiszeit«.

Vor ungefähr 8000 Jahren ergoss sich nach einem Dammbruch ein Schmelzwassersee mit mächtigem Druck in die Landschaft und schuf das, was wir jetzt um uns herum sehen. Unten in einer Senke liegt der Eissee, und am Ufer die Jagdhütte des Königs, verrammelt, aber ein perfekter Platz für unsere Kaffeepause. An die Hüttenwand gelehnt, genießen wir Kaffee und Sonne, bis es Zeit wird, sich zu verabschieden. Nicklas und Nansen verschwinden in Richtung Norden, nach Vallbo, wo das Auto wartet, und ich mache mich auf den Rückweg nach Lunndörren. Ich gehe langsam. Schlendere geradezu. Lausche auf den leisen Wind, den man hin und wieder hören und fühlen kann. Auf das Rauschen der Bäche. Meine eigenen Schritte. Meinen eigenen Seufzer des Behagens, als mir die Sonne auf die Nase scheint.

Wieder bei der Hütte angekommen, bade ich nackt im Teich unterhalb der Sauna. Drinnen sitzen die Mädchen und spielen Yatzee. Siehaben rot verbrannte Gesichter und ganz schön müde Knochen. Wir erzählen einander kurz von unseren Touren, dann krieche ich in meinen Schlafsack und ruhe mich aus. Ich höre, wie Annie in dem Vogelbuch blättert, das die beiden dabei haben, und wie das Spiel »Vogelraten« allmählich Form annimmt. Wie aus einer verschwommenen Parallelwelt höre ich die Stimmen, die Fakten über Brutgewohnheiten herunterleiern, über mittellange Schwanzfedern, Nestbau in Bäumen und Gleitflug mit ausgespannten Schwingen. Ich glaube, ich bin fest eingeschlafen, nachdem Helen »Mäusebussard« gesagt hat, und von Annies Vogelstimmen-Imitation, so etwas wie »huithuit- huit« und dann »yup«, wache ich wieder auf. »Klar, Buchfink!«, ruft Helen. Sie gehen Drosseln, Sperlinge, Finken und Gänse durch, und ich denke, dies hier ist ja eigentlich nicht das, was ich mir vorgestellt hatte.Ich wollte doch allein sein, das war der Plan. Aber andere Leute aus der Gegend, so wie Annie und Helen, hatten genau die gleiche Idee: Wer schlau ist, läuft jetzt noch rasch auf das Fjäll, bevor die Touristen kommen.

UNBERECHENBARE NATUR

Der Schutzraum ist ziemlich eng, aber trotzdem gemütlich. An den Wänden stehen drei Etagenbetten aus Massivholz, ausgestattet mit Kissen und Wolldecken. Es gibt einen Tisch und ein paar Hocker, einen Gaskocher und einen Kaminofen. Auch die meisten Küchenutensilien sind vorhanden samt einigen Büchern. Ich nehme mir »Unbekanntes Fjäll« von Tore Abrahamsson, und tatsächlich ist darin auch von Lunndörrsfjällen die Rede. Da steht etwas über die Eiszeitformationen, über die tief ausgehöhlten U-Täler, wo vordringende Gletscher sich ihren Weg direkt über dasFjäll gebahnt haben. Hier in der Nähe findet man die größte Konzentration von U-Tälern, die in der schwedischen Fjällkette vorkommt.

Dass die Kräfte der Natur sich auch in unserer Zeit noch machtvoll äußern können, wird mir wieder bewusst, als ich die Geschichte des bekannten Anaris-Unglücks lese, das sich im Februar 1978 ereignete. Nicht weit von hier kamen damals acht Jugendliche
um. Sie waren auf einer Skitour, als das klare, vielversprechende Wetter sich wie mit einem Keulenschlag in eiskalten, undurchdringlichen Nebel verwandelte. Der Versuch, ein Biwak zu graben, schlug fehl, weil dort, wo die Gruppe sich gerade befand, der Schnee nicht hoch genug lag. Die erste Nacht überstanden sie trotzdem noch ganz gut, aber der nächste Tag brachte keine Besserung, es wurde stattdessen noch kälter. Am Abend und in den frühen Nachtstunden gab es die ersten beiden Toten durch Erfrieren. Danach beschlossen zwei der noch Lebenden, einfach einzuschlafen, weil sie gehört hatten, dass man dann schneller stirbt. Es ist merkwürdig zu lesen, wie junge, gesunde Menschen in einen derart resignierten Zustand verfallen können. Was ihnen fehlte, war eine antrainierte Routine, die sie hätten anwenden müssen, als Kälte und Wind übermächtig wurden. Am dritten Tag schaffte es immerhin einer aus der Gruppe hierher zur Lunndörren- Hütte, wo er die Bergrettung alarmieren konnte. Er war der einzige, der überlebte. Warum niemand auf den Gedanken kam, die Reservekleidung überzuziehen, in die Schlafsäcke zu kriechen oder den Proviant aufzuessen, bleibt ein Mysterium. Wahrscheinlich hatten alle gehofft, dass die Lage sich bessern würde, und als die physische und psychische Erschöpfung sie überwältigte, wurden sie apathisch. Ich liege sicher und geborgen unter meiner Decke und lausche auf den Wind, der draußen vor dem Fenster heult. Das Thermometer zeigt zwölf Grad.

TIERE SCHAUEN DICH AN

Als es in der Hütte wieder Morgen wird, rekle ich mich noch auf meinem Bett in der oberen Etage, während Helen und Annie eilig packen und sich auf den Weg machen. Kaum haben sie die Tür hinter sich geschlossen, wird es hörbar still. Keine Atemzüge mehr außer meinen. Ich spüre, wie sich ein Lächeln unter der Decke ausbreitet, die ich immer noch bis zur Nase hochgezogen habe, und dann beschließe ich aufzustehen. Unten am Boden verliere ich sogleich das Gefühl für Zeit und Raum. Ich merke gar nicht, was ich tue. Der Frühstücksbrei wird aufgegessen, der Kaffee wird gekocht. Irgendwie werden die Butterbrote geschmiert und für den Tagesausflug eingepackt, aber alles passiert, ohne dass ich mit dem Kopf dabei bin. Als ich meine Stiefel schnüre, ist es, als ob die Zeit stillgestanden hätte oder vorbeigerast wäre. Jetzt lässt sich die Sonne blicken. Der richtige Moment, um aufzubrechen.

Ich folge den Kreuzmarkierungen, die in Richtung Vålådalen und dann nach Süden zum Tossåsen weisen, auf den Lönndörrspass, stets von schnell strömendem Wasser begleitet. Manchmal muss ich waten, einmal ziehe ich sogar die Schuhe aus, weil es zu
tief wird. Die Wolken sehen aus, als wären sie am Himmel festgenagelt, aber irgendwie bewegen sie sich offenbar trotzdem und verdecken abwechselnd die Sonne. Nachdem ich zehn Minuten gewandert bin, höre ich mich selber sagen: »Was ist denn das?« Und dann, mit mehr Emphase: »Aber das ist ja eine Sturmmöwe!« Ein wenig geniert schaue ich mich um. Es hat also nicht lange gedauert, bis ich anfing, mit mir selbst zu reden. Ich gehe zu leisem Singen über, summe irgendeine Melodie, als ich plötzlich merke, dass ich beobachtet werde. Zwei Rentiere mit bepelztem Geweih stehen schräg vor mir und glotzen. Ich halte sofort an, und nach einer Weile kommen sie mir ganz ruhig entgegen, fallen dann in Trab und laufen mit ein paar Metern Abstand an mir vorbei. Die Lemminge sind nicht so cool, sie sehen entweder panisch oder irritiert aus, wenn ich geradewegs in ihre Welt hineinwandere. Falls sie nicht gleich hinter einen Busch oder in ein Erdloch schlüpfen, versuchen sie so etwas wie ein Fauchen, als glaubten sie, mir Angst einjagen zu können. Und sie sind, wie gesagt, sehr zahlreich. Dort, wo die Landschaft sich zu einer weiten Fläche öffnet, flattern ein paar Mornellregenpfeifer tief über dem Boden. Sie sind für ihre Furchtlosigkeit bekannt und haben außerdem die kleine Eigenart, dass das Weibchen das prächtigere Federkleid besitzt, das Revier bewacht und im Herbst in die wärmeren Zonen vorausfliegt. Das Männchen übernimmt dagegen  die Hauptverantwortung für die Brutpflege und passt auf die Jungen auf.