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Klang der Stille

Unser Alltag ist laut. Vor allem in der Stadt sind wir umgeben von nie verstummenden Geräuschen. Auf der Suche nach der Stille versuchen wir unser Glück am See Joutsijärvi in der finnischen Landschaft Satakunta.

Ich stehe an der Statue »Drei Schmiede« mitten im Zentrum von Helsinki. Eine Minute lang will ich einfach nur zuhören und die Geräusche der Stadt auf mich wirken lassen. Ein Presslufthammer läutet seine tosende Fanfare ein. Im Hintergrund das Rauschen der Autos. Ein Handy klingelt. Ein Auto hupt. Und noch eines. Vielleicht war es dasselbe? Eine Kehrmaschine kommt auf mich zu. Nichts wie weg hier! In der Nacht summt der Kühlschrank und im Büro klickt und piepst es den ganzen Tag. In der Schule meiner Tochter hängt im Speisesaal ein sogenanntes Lärmometer. Es leuchtet gelb, wenn es im Raum lauter wird und schlägt um zu rot, wenn die Schmerzgrenze überschritten wird. Im Café vermischt sich das Dröhnen von Radio und Fernseher mit dem Verkehrslärm der Straße zu einem grauen Brei.

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Flucht vor dem Lärm

Lärm untermalt unser Leben. Traurig ist, dass wir uns schon längst an ihn gewöhnt haben. Wir nehmen ihn erst dann wirklich wahr, wenn er nicht mehr zu hören ist. Gemeinsam mit meiner älteren Tochter Tilda will ich mich auf die Suche nach der Stille machen. Nach einem Ort, an dem Lärmometer noch ein Fremdwort ist und wo keine Drucker den Büroflur mit ihrem Rattern beschallen. Wir haben für unser Vorhaben das Wandergebiet um den Joutsijärvi-See in der Nähe von Pori gewählt, denn dort, mitten auf dem finnischen Land, soll es besonders ruhig sein. Spät am Nachmittag kommen wir am südlichen Zipfel des Sees an. Am Bootsufer findet Tilda ein vierblättriges Kleeblatt – vielleicht verheißt es uns Glück für unseren Ausflug? Unser Plan ist, drei Tage auf dem See zu rudern und ab und an für einen Spaziergang an Land zu gehen. Wenn es die Stille noch gibt, so hoffen wir, sie hier zu finden.

Ein 30 Kilometer langer Wanderweg verläuft um den See Joutsijärvi. Genauso gut lässt sich das Gebiet per Ruderboot mit Zwischenstopps auf kleinen Inseln erkunden.

Der See riecht anders als das Meer in Helsinki. Irgendwie frischer. Und er ist mit weißen Seerosen geschmückt. Um den Joutsijärvi verläuft ein etwa 30 Kilometer langer Wanderweg. Er ist Teil der Route Satakunta-Pirkanmaa, die insgesamt 360 Kilometer misst und vom Bottnischen Meerbusen bis zur Stadt Tampere führt. Den Großteil der Strecke wollen wir aber mit dem Ruderboot bewältigen. Zum einen war ich mir nicht sicher, ob wir es schaffen würden, den ganzen See mit unserer Ausrüstung zu umrunden. Zum anderen aber, und das ist der Hauptgrund, bedeutet Rudern für mich Harmonie. Wenn das Wasser gegen den Bootsrumpf plätschert und die Ruder das Wasser durchteilen, fühle ich mich der Natur besonders nahe. Beim Rudern kommt man gar nicht erst in Verlegenheit zu hetzen. Man könnte sicherlich schon, wenn man unbedingt wollte, aber wir haben beschlossen, dass die Hektik und Eile nicht mit an Bord dürfen.

Wie still ist die Stille?

Einst wurde in Finnland in Einbäumen gerudert, die nur aus einem einzigen Baumstamm geschnitzt waren. Vielleicht gab es diese Boote ja auch hier auf dem Joutsijärvi? Selbst der finnische Sagenheld Väinämöinen bewegte sich mithilfe des Einbaums fort, denn schließlich war er laut den Erzählungen der Kalevala ein vorzüglicher Bootsbauer.

Nach einem kleinen Abendessen über dem Lagerfeuer fallen beide Ruderer schlaftrunken ins Bett. Frische Luft in grenzenloser Stille macht unendlich müde.

Es ist schon spät und einige Regentropfen sind bereits von unserer Nasenspitze geperlt. Der richtige Regen wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. Wir rudern Richtung Vohla, einer kleinen Insel inmitten des Joutsijärvi, auf der sich laut Karte ein Zeltplatz befinden soll. Hoffentlich schaffen wir es noch rechtzeitig vor dem Regen, unser Zelt
aufzuschlagen und zu essen. Tilda sitzt hinten im Boot und ich rudere fleißig. Am Seeufer finden wir ein Schild: »Makkaraluoto« – was so viel heißt wie »Wurstschäre«. Das war dann wohl die falsche Insel. »Macht das etwas?«, frage ich Tilda. »Nein!«, antwortet sie entschlossen. Diese unschuldige Sorglosigkeit fühlt sich überraschend gut an. Irgendwie befreiend. Ist es denn überhaupt wichtig, auf welcher Insel wir landen?

Der See riecht anders als das Meer in Helsinki. Irgendwie frischer.

Das Ufer der Schäre ist steinig, sodass sich erst kein passender Anlegeplatz finden lässt. Wir wollen nicht, dass das Boot Kratzer bekommt. Zum Glück finden wir dann am Ufer doch noch einen meterbreiten Holzklotz, auf dem wir das Boot an Land schieben können. Wir schlagen unser Zelt auf, machen uns ein kleines Abendessen und kriechen in unsere Schlafsäcke. Dann ist es Zeit für die Gute-Nacht-Lektüre. Tilda holt ein Comicheft mit den Abenteuern von Bamse, dem stärksten Bären der Welt, hervor. Leider erfahren wir nicht, wie es Bamse ergangen ist, denn wir schlafen beide fast sofort auf der Stelle ein.

In der Nacht werden wir von einem lauten Geräusch geweckt. Das gleichmäßige Prasseln des Regens auf unserem Zeltdach wird durch unregelmäßige, laute Schläge gestört. Im Hintergrund hören wir ein zischendes Heulen. Der Lärm begräbt alles andere unter sich. Die Schläge werden durch große von den Bäumen herabfallende Wassertropfen verursacht. Und das Heulen ist nichts weiter als der starke Wind, der sich seinen Weg an unserem Zelt vorbei durch die Bäume und das Unterholz bahnt. Und wir kamen hierher, um die Stille zu finden. Verkehrte Welt.

Tourismus im Zeichen der Ruhe

Die Stille ist in Finnland sogar amtlich geregelt. Im Jahr 2004 wurde in Satakunta ein Projekt beendet, bei dem die ruhigsten Gebiete der Region kartografiert werden sollten. Die Umweltexpertin Anne Savola war damals aktiv an der vom Regionalrat in Auftrag gegebenen Suche nach Stille beteiligt. »Anfangs machte man sich über das Projekt lustig, denn menschenverlassene Orte gäbe es in Finnland ja schließlich zur Genüge. Aber die Situation hat sich über die Jahre stark verändert. Die Stille wird heute mehr wertgeschätzt«, so Savola.

Am stillsten ist es in den sogenannten »Naturruhegebieten«. Als solche werden Orte bezeichnet, an denen möglichst wenig von Menschen erzeugter Lärm und vornehmlich die eigenen Geräusche der Natur zu hören sind. In Satakunta gibt es fünf dieser Gebiete, und eines davon ist der Joutsijärvi. Der See ist laut Savola ein besonders gutes Beispiel für ein Naturruhegebiet, denn es ist komplett unbewohnt und die Landstraßen verlaufen in ausreichend großer Entfernung. Der nördliche Teil des Sees ist besonders still.

Als Naturruhgebiete werden Plätze bezeichnet, an denen möglichst wenig von Menschen erzeugter Lärm und vornehmlich Geräusche der Natur zu hören sind.

»Solche Gebiete sind kostbar. In der Stille der Natur können wir uns von der sonst allgegenwärtigen Hektik des Alltags freimachen«, schwärmt Savola. »Stille ist ein wertvolles Gut. Ich finde es wichtig, dass es auch im belebteren Südfinnland Orte gibt, an denen die Natur zu uns sprechen kann.« Vor ein paar Jahren erörterte eine Arbeitsgruppe unter der Leitung des früheren Nokia-Geschäftsführers Jorma Ollila die Frage, wie sich Finnland besser als attraktives Reiseziel profilieren könnte. Die Stille wurde als besonderes Alleinstellungsmerkmal herausgearbeitet. Und dieser Trumpf sollte laut Arbeitsgruppe in Zukunft als zentrales Thema des finnischen Tourismus beworben werden. Auch die gesundheitlichen Auswirkungen von Lärm sind medizinisch belegt. Neben den weislich zu Bluthochdruck, Stress und sogar Herzinfarkten führen. Das klingt gar nicht gut. Wir suchen also weiter nach der Stille.

Röhren, Gurgeln, Rattern

Der Regen am Joutsijärvi hat über die Nacht aufgehört. Nach dem Fruühstück sitzen wir am Ufer auf einem Felsen und beraten, in welche Richtung wir weiterrudern sollen. Hierzulande wird ein typischer Sommertag durch das Röhren, Gurgeln und Rattern von Motorbooten, Rasenmähern und anderen Maschinen untermalt, aber am Ufer unserer Schäre gibt es solche Geräusche zum Glück nicht. Am Joutsijärvi liegen nur wenige Sommerhäuschen, und Motorboote und -schlitten sind hier schon seit über 30 Jahren verboten. Aber still ist es hier trotzdem nicht. Der Wind saust durch die Espen am Seeufer, deren kleine grüne Hände fleißig Beifall klatschen. Ich fasse ein Blatt und untersuche es genauer. Es ist hart, fast so dick wie eine dünne Holzplatte. Kein Wunder, dass es so laute Geräusche von sich gibt.

Wir rudern an das nördliche Ufer des Sees, an die Bucht Sisälmystenlahti. Hier befindet sich eine für diese Breitengrade seltene Schutzhütte aus grauem Rundholz, wie es sie eigentlich nur in Lappland gibt. Nur, dass wir uns hier nicht im äußersten Norden, sondern gerade einmal eine knappe Autostunde von Tampere und etwa drei Stunden von Helsinki entfernt befinden. Das Ufer der Bucht ist mit großen Felsen gespickt. Tilda findet natürlich gleich den größten, den sie dann auch sofort erklimmen möchte. Voller Sorge betrachte ich den entschlossenen Gesichtsausdruck der jungen Bergsteigerin. Zum Glück kann ich sie mit warmem Kakao und Keksen von ihrem Vorhaben abbringen.

Lärmende Motorboote sind auf dem See schon seit 30 Jahren verboten. Wer sich hier auf dem Wasser fortbewegt, der tut es aus eigener Muskelkraft.

Außer einem einsamen Fischer am Morgen haben wir bislang noch keine weiteren Menschen hier gesehen. Unser Ruderboot bewegt sich langsam voran. In welche Richtung geht es? Wir haben kein festes Programm und auch keine Eile. Wir rudern einmal um den See und legen an einem einladenden Ufer an, trinken warmen Saft und gehen spazieren, bevor es wieder zurück ins Boot geht. Am Ende des Tages erreichen wir die Insel Vohla, wo wir eigentlich schon am Abend zuvor unser Zelt aufschlagen wollten. Sie befindet sich tatsächlich direkt neben der »Wurstschäre«. Pünktlich zur Dämmerung machen wir ein Lagerfeuer und genießen den Anblick des Sternenhimmels.

Oder zumindest das, was davon übrig ist, denn neben der Lärmverschmutzung gibt es auch die sogenannte Lichtverschmutzung. Sie bezeichnet die zunehmende  Aufhellung des Nachthimmels durch künstliche Lichtquellen und stört den Blick auf die Sterne. Auch die Fauna wird davon beeinflusst, denn viele Tiere sind auf die Dunkelheit der Nacht angewiesen.

Jeder Vogel klingt anders

In der Stadt, das heißt zu Hause in unserem Mehrfamilienhaus, zucke ich oft bei einem plötzlichen Geräusch, Schlag oder Kreischen zusammen. Auslöser kann eine schlagende Tür, eine Bohrmaschine oder eine Waschmaschine sein, die mit drei kurzen Piepsignalen über das Ende des Programms informiert. Solche Geräusche sind natürlich nicht weltbewegend. Aber man merkt deutlich, wenn sie fehlen.

Erst wenn es ganz still ist fällt einem vielleicht auf, was man alles nicht mehr hört.

Als ich Tilda frage, welche Geräusche sie in der Natur hört, zählt sie stattdessen auf, was sie nicht hört. »Hier gibt es keine Mofas, keine Autos und keine Flugzeuge«, fällt ihr ein. Dafür höre man aber drei andere Dinge sehr gut: den Regen, den Wind und die Vögel. »Heute hört man aber nur den Wind und die Vögel, weil es ja nicht mehr regnet.« Bei den Regentropfen konnte sie große Unterschiede ausmachen. Manche trommeln laut, während andere nur leise prasseln, wie wir letzte Nacht im Zelt feststellen konnten. Beim Aufprall auf die Wasseroberfläche klingt der Regen wieder ganz anders. Aber würden wir diese kleinen Nuancen auch hören, wenn man im Hintergrund den Krach der Stadt hören würde?

In welche Richtung geht es? Wir haben kein festes Programm und auch keine Eile.

Unser kleiner Ausflug nähert sich dem Ende. Am letzten Tag sitzen wir noch einmal im Ruderboot. Dieses Fortbewegungsmittel hat sich als gute Entscheidung erwiesen: Im Boot sitzt es sich gut und auch das Gewicht des Gepäcks ist kein Problem. Und mit Kind ist das Ruderboot im Vergleich zu einem Kanu gewiss die sicherere Wahl. Handschuhe wären aber keine schlechte Idee gewesen, denn meine Hände sind nach drei Tagen voller stattlicher Blasen.

Am Ende eines Ausflugs hat man oft das Gefühl, dass die Zeit wie im Flug verging. Doch dieses Mal war es anders, denn die Zeit verging meiner Meinung nach angenehm langsam. Genau so, wie wir es wollten. Wir haben nichts Besonderes unternommen. Wir sind gerudert, gelaufen, nichts weiter. Obwohl, nicht ganz: Zum Frühstück haben wir uns ein paar Eier gebraten. Ich fühle mich erholt. Ziel unseres Ausflugs an den Joutsijärvi war es, die Stille zu finden. Dass es hier keinen Lärm gibt, überrascht nicht weiter. Überraschend ist aber die Menge und Vielfalt der vorhandenen Geräusche der Natur. Jeder Vogel klingt anders. Darüber hatte ich noch nie nachgedacht. Oder vielleicht hatte ich es zuvor einfach nur noch nie wahrgenommen.