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Värmland: Paradies für zukünftige Wildnisführer

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Wetterkunde, Seilbahnbau und Evakuierungen stehen auf dem Stundenplan, wenn der Internationale Wildnisführer Verband e.V. (IWV) seine Anwärter in der schwedischen Wildnis prüft. Die Fotografin Maren Krings hat die Abschlussprüfung begleitet – und verliebte sich dabei Hals über Kopf in die skandinavische Natur.

Die Tour beginnt mit einer Einweisung ins Jedermannsrecht. Danach folgt eine eindringliche Warnung vor pöbelnden Elchen. Peter Jäckel, Wildnisführer und Prüfer des IWV, erklärt uns schmunzelnd bei Kaffee und schwedischen Zimtschnecken, dass die Tiere ein gewisses Rauschpotenzial nach dem Konsum von überreifen Äpfeln entwickeln. Mit dieser Insider-Kenntnis gehen wir los. Den schweren Rucksack geschultert, marschieren wir in den preiselbeerroten Wald.

Warnwesten zieren unsere Rucksäcke, denn vor ein paar Tagen hat die Bärenjagd begonnen und wir wollen verhindern mit einem der Tiere verwechselt zu werden. Hochmoore, moosbewachsene Felsen sowie Kahlschläge mit mannshohem Gras, verborgene Löcher, Baumstümpfe, Schwemmsand und eine erste Kanutour fordern unsere volle Konzentration und Kraft. Am See Knon schlagen wir unsere Zelte direkt am Wasser auf. Leider möchte kein Fisch unser Abendessen bereichern, aber noch sind die Vorräte in unseren Rucksäcken reichlich. Als sich plötzlich ein abendlicher Sonnenstrahl zu uns verirrt, kommt es mir vor, als ob ich Elfen und Trolle im Wald sehen kann. Dies ist mein erster Aufenthalt in der värmländischen Wildnis. Begeistert nahm ich das Angebot, als Fotografin die Prüfungstour des IWV nach Schweden zu begleiten, an, als mich Jörg Rädel, Prüfer und Ausbildungsleiter, ein paar Wochen zuvor anrief. Voller Tatendrang packte ich Zelt, Isomatte, Kocher, Gummistiefel und Gamaschen sowie Klettergurt und Helm in den Rucksack. Und ich bin immer noch ganz hin und weg von der wunderschönen Natur.

DAMMBRUCH MIT FOLGEN

Warm liege ich ein paar Stunden später in meinem Daunenschlafsack. Rhythmisch prasseln die Regentropfen auf mein Zelt und lassen mich ins Land der Träume gleiten. Dort vermischen sich die bunten Herbstfarben mit meinen neuen Erlebnissen. Die klare Herbstluft treibt mich im Kanu über den See, neben mir paddelt Peter. Als sein Kanu umkippt und er vorbildlich von Konstantin aus dem kalten Wasser gezogen wird, ertönen aufgeregte Schreie. Die Stimmen werden immer lauter, ich wache auf. Meine Uhr zeigt vier Uhr morgens an. Die Stimmen sind echt. Die Prüflinge Konstantin, Marcel und Sascha nötigen mich, sofort aus meinem Zelt zu kommen. Schlaftrunken krieche ich hinaus in den Nieselregen. Der Schein der Taschenlampen erhellt die Nacht. Alle sind hektisch mit dem Abbau der Zelte und dem Packen der Rucksäcke beschäftigt. Hastig weist Konstantin mich an, mich zu beeilen. Vor einigen Minuten hat ihn ein Funkspruch erreicht, flussaufwärts sei ein Damm gebrochen und es ist mit einer Überflutung zu rechnen. Nun gilt es, unseren Zeltplatz am Fluss Halgån schnellstmöglich zu verlassen und Höhe zu gewinnen. Wir helfen uns gegenseitig und schaffen es somit, innerhalb von 17 Minuten abmarschbereit zu sein. Allmählich werde ich richtig wach und besinne mich, dass eine nächtliche Evakuierung Teil des Prüfungsplans ist. Unsanft stolpern wir durch die Nacht, auf der Suche nach einem Platz mit Namen Åstrandssätern, deren Koordinaten wir bekommen haben. Diese Hüttenansammlung liegt hoch genug, so dass uns ein Hochwasser nichts anhaben kann. Es herrscht Uneinigkeit über die Wegwahl, aber dann finden wir den Pfad, der durch unwegsames Gelände in den Wald führt. Nächtlich rau ertönen unsere Rufe, die Elche und Bären vor uns warnen sollen. Es dämmert, als wir die Umrisse der Hütten erkennen. Erleichterung zeichnet sich auf den Gesichtern ab, wir haben es geschafft.

LEARNING BY DOING

Ich kann mir das Lachen nicht verkneifen, als Jörg uns wenig später offenbart, dass es gar keinen Damm am Halgån gibt. Es war alles nur ausgedacht. Mit einem Augenzwinkern gesteht auch Peter, dass normalerweise ein Waldbrand der Grund für die Evakuierung ist. Aufgrund des vielen Regens wäre dieses Szenario jedoch nicht glaubwürdig gewesen, und so wurde kurzfristig ein fingierter Dammbruch ersonnen. Als Rhythmisch prasseln die Regentropfen auf mein Zelt und lassen mich ins Land der Träume gleiten.
der IWV 1986 gegründet wurde, dauerte die Ausbildung zum Wildnisführer nur zwei Wochen. Viel hat sich seither getan – aus zwei Wochen wurden ganze 55 Ausbildungstage. Das Ziel des Vereins, naturbegeisterten Menschen das nötige Handwerkszeug für den verantwortungsvollen Umgang mit Mensch, Natur und Umwelt zu geben, musste im Laufe der Jahre immer wieder den aktuellen Entwicklungen im Outdoor-Bereich angepasst und die Ausbildung modifiziert werden. Doch 27 Jahre Erfahrung haben ein einzigartiges Lehrsystem hervorgebracht. Nach einem Grundlehrgang für Einsteiger folgt der Kurs »Outdoor-Praxis spezial« mit der Ausbildung zum geprüften Wildnisführer. Sieben Module vermitteln praxisorientiertes Wissen, pädagogische Grundlagen, medizinische Kenntnisse und vieles mehr. Die Prüfungstour in Schweden und ein anschließendes Volontariat stehen am Ende der Ausbildung, die insgesamt ein bis zwei Jahre dauern kann.

DER KRÖNENDE ABSCHLUSS

Die Prüfung »on location« in Värmland ist somit das Highlight der Ausbildung. Die gute Erreichbarkeit und die abwechslungsreiche Landschaft machen die Gegend um Ekshärad zu einem idealen Ort für die Abschlussprüfungen des IWV. Für die Organisation vor Ort und den Kontakt zu den Einheimischen ist Peter Jäkel verantwortlich, der mit seiner Firma »PJ Die Erlebnis-Profis« seit 13 Jahren Teil des Ausblidungsteams ist und die Wälder, Canyons, Hochmoore, Seen und Flüsse der Umgebung wie seine eigene Westentasche kennt. Nur er weiß über den genauen Routenverlauf Bescheid. Er sammelt die Koordinaten, welche die Prüflinge dann auf ihrer Tour orten sollen. Trotz der Praxis des schwedischen Jedermannsrechts holt er sich die Erlaubnis von den Waldbesitzern für die Lagerplätze ein. Die große Gastfreundschaft der Värmländer macht die Prüfungstour zu einem besonderen Erlebnis.

EINE BADEWANNE IM WALD

Nach drei Tagen Wandern macht sich die erste Müdigkeit bei den Teilnehmern bemerkbar. Endlich ist der Lagerplatz für die Nacht zu sehen. Der Tag endet auf einer Lichtung bei Gammelsätern. Skurril thront dort eine Badewanne auf der Wiese – umringt von Wald und dem endlos klaren Sternenhimmel Schwedens. Während der Rest sich ein Abendbrot auf dem Kocher zubereitet und die nassen Kleider am Feuer trocknet, versinkt mein Körper im warmen Badewasser und mein Blick verliert sich am großen Himmelszelt. Auch die Prüflinge nehmen ein wohlverdientes Bad, denn die sechs Tage lange Prüfungstour fordert den Kandidaten geistige und körperliche Höchstleistungen ab. Gepäck und Verpflegung tragen sie in ihren Rucksäcken. Im Schnitt werden pro Tag 14 Kilometer zu Fuß und mit dem Kanadier zurückgelegt. Das erlernte Wissen in der Praxis anzuwenden, darauf kommt es an. Die Bergung eines umgekippten Kanus sowie die Versorgung von offenen Brüchen und Verbrennungen und anderen Notfällen gehören fest zu dem mit großer Sorgfalt inszenierten Programm. Den Rest fordert die Natur selber ein. Jeden Abend fertigen die Prüflinge eine Wetterkarte an. Und jeden Tag übernimmt ein anderer die Aufgabe des Wildnisführers.

Eine besondere Herausforderung zum Abschluss ist die Querung des Flusses Musån auf einem Floß. Das Gepäck, in Seesäcken verstaut, agiert als Schwimmkörper für die zusammengebundenen Stämme. Spannend wird es, als uns die Koordinaten zum Brattfallet-Canyon führen. Hier benötigen wir eine mobile Seilbahn, um den Canyon überqueren zu können. Nach drei Stunden Arbeit ist die Schlucht mithilfe technischer Meisterleistungen bezwungen! Kindlich ist unsere Freude, als wir in rasanter Geschwindigkeit mit der Seilbahn von einer Seite zur anderen über die Schlucht schweben und die neuen Wildnisführer zu ihrem Erfolg beglückwünschen. Sie haben es geschafft!