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Hornstrandir: Wandern in der Einsamkeit

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Im äußersten Nordwesten Islands ragt die Halbinsel Hornstrandir ins Nordmeer. Fast am Polarkreis, Wind und Wellen ausgesetzt, gilt der unbewohnte Landarm als unwegsamstes Gebiet der gesamten Insel, das selten besucht wird. Wer die weite Anreise auf sich nimmt, findet neben Fjorden, Fjälls und grandioser Natur vor allem eines: Einsamkeit.

Die Häuschen von Isafjördur klammern sich an eines der nordwestlichsten Landstückchen Islands. Ein vergessener Ort in den Westfjorden, der zwischen Bergrücken und wogenden Wellen dem arktischen Wind trotzt. Und eigentlich gibt es nichts zu tun hier. Vor vierhundert Jahren ein wichtiger Handelsposten der Hanse, ist Isafjördur heute ein Nest, von dessen roten, grünen und blauen Wellblechhäusern die Farbe blättert, wo Fahrzeuge mit Vierradantrieb durch die Hafenstraße brummen und das kulinarische Glanzlicht ein Chicken Satay im Restaurant »Thai Koon« ist. Doch wer nach Isafjördur reist, kommt nicht des Ortes wegen. Wer hierher reist, sucht Wildnis – und findet sie. Auf der Halbinsel Hornstrandir, dem nördlichsten Arm der Westfjorde. Als eine von Europas »last true wilderness areas«, eine der letzten wahren Wildnisregionen, – wird die Halbinsel im Reiseführer Iceland von Lonely Planet bezeichnet. Als kaltes und unwegsames Gebiet, gerade mal zwanzig Kilometer südlich des Polarkreises gelegen. Ein Ort, den Walfänger und Fischer mehrere Jahrhunderte lang bewohnt hatten, um ihn in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts wieder sich selbst zu überlassen. Seit 1975 eines der striktesten Naturschutzgebiete, ist Hornstrandir nunmehr unbewohnt.

WIND UND WELLEN BESTIMMEN

Im Tourismusbüro in Isafjördur steht Elias Oddsson, Direktor des Tourunternehmens Vesturferdir, hinter der Theke. An ihm kommt keiner vorbei, der nach Hornstrandir will, denn er organisiert die Bootsfahrten zur Halbinsel. Ein großer Mann mit großen Händen, ein Seemann, der vielleicht versehentlich Geschäftsmann geworden ist. »Heute haben wir Wind aus Nord, morgen Wind aus Ost, dann Wind aus West«, sagt er und blickt auf den Fahrplan wie auf ein Sorgenkind – ein Fahrplan, der eigentlich keiner ist, denn Wind und Wellen sind in Isafjördur seit Jahrhunderten stärker als die Pläne der Menschen. Doch Elias Oddsson kennt Wind und Wetter und plant für den Folgetag trotz »Wind aus Ost« eine Fahrt mit einem kleinen Schnellboot. Wir kaufen eine Hinfahrt zur verlassenen Walfängerstation Hesteyri im Süden Hornstrandirs und fünf Tage später – oder je nach Seegang – eine Rückfahrt von Hornvik im Norden das Landarms. Dazwischen werden zwei, drei oder vier Tage Trekking liegen, je nach – wie könnte es anders sein? – den Wetterverhältnissen.

Als wir am nächsten Morgen im Hafen auf die schaukelnde »Gudrun Kristjans« steigen, nieselt es, und die Wolkenschwaden lappen hinab bis ins Meer. Es gibt kein großes Deck auf dem Boot, nur Sitze in Einerreihen wie im Flugzeug. Und bald ist klar, warum: Kaum haben wir den Hafen hinter uns gelassen, fegen die Wellen über den Bug, die Gischt zischt gegen die Fenster, und die Landzunge des Snaefjallströnd, der wie ein Walrücken mit Schneeflecken auf der anderen Seite des Fjords liegt, ist zwischen den Wellenbergen kaum mehr zu sehen.

TEE MIT ZUCKER IM ALTEN ÄRZTEHAUS

Nach zwei Stunden ist Hornstrandir in Sicht: Mächtige Basaltfelsen und Fjorde zwischen Wolkenbauschen. Doch trotz Regen ist die Ankunft in Hesteyri freundlicher, als es bei einer verlassenen Walfängerstation zu vermuten wäre: Nicht verrostete
Industriehallen erwarten uns, sondern ein Haus, das eher an französische Herrschaften denn an Walfänger erinnert. Einst gehörte es dem Arzt der Halbinsel, jetzt tischt im Sommer hier eine ältere Dame den Ankömmlingen Kaffee oder Tee in Porzellantassen auf, bevor diese in alle Himmelsrichtungen losziehen. Ansonsten gibt es keine touristische Infrastruktur auf Hornstrandir. Keine Straßen, keinen Einkaufsladen. Nur hie und da Hütten oder Notbiwaks, die Wanderern und Fischern bei Wetterumschwüngen Schutz bieten. Dass dieses Wetter auf Hornstran- dir auch im Juli unberechenbar sein kann, erfahren wir schon eine Stunde, nachdem wir in Hesteyri unseren Tee getrunken haben: Auf dem Pfad hinauf zur Hochebene, Richtung Kjaransvikurpass, trommelt der Regen auf die Kapuzen, die Schritte schmatzen im Matsch, während auf dem Weg ein Bach aus Regenwasser talwärts sprudelt. Und je näher wir dem Pass kommen, desto heftiger jagt der Wind über die Ebene und peitscht uns Schwaden eiskalter Regentropfen entgegen.

IM REGENSTURM AM POLARKREIS

Irgendwann hängen die Handschuhe nass und schwer an den Händen, die Feuchtigkeit schleicht die Ärmel hoch, und ein Rinnsal fließt in die Schuhe. Noch eine Stunde wandern wir durch den Eisregen, dann geht es nicht mehr weiter. Zu klamm sind die Hände, die Wangen taub, die Steinmännchen im weglosen Geröll unter dem tropfenden Kapuzenrand kaum noch zu erkennen. Eine halbe Stunde später liegen wir im Zelt in den Schlafsäcken, ein winziges Fleckchen Geborgenheit mitten im Sturm. Der Regen prasselt auf das Zelt, der Wind zerrt an den Planen – Hornvik scheint bei diesem Wetter unerreichbar weit weg, obwohl es nur 25 Kilometer entfernt liegt. Doch nachts um drei Uhr ist es auf einmal still, kein Trommeln mehr und kein Flattern. Es hat aufgehört zu regnen. Und als wir am nächsten Morgen den Kopf aus dem Vorzelt strecken, sind die Berge rund um den Fjord zwar mit Neuschnee gezuckert, gleißen aber im Licht der Morgensonne, deren Strahlen über den Fjord gleiten.

DAS NORDMEER IM BLICK

Hornvik rückt wieder näher, als wir mal über Geröll knirschen, mal durch Neuschnee stapfen, mal mit hochgekrempelten Hosen einen Bach furten, dann weiter bergwärts steigen, bis auf den Kjaransvikurpass, und von diesem in das nächste Tal blicken. Ein
weites Trogtal, das einst von Gletschern geschliffen wurde und sich heute grün nach Norden zieht, bis es in den Atlantik gleitet. In dieser Richtung geht es talwärts, nur um auf der anderen Talseite wieder hochzusteigen – ein stetiges Auf und Ab zwischen Bergen und Buchten, Fjälls und Fjorden ist das Wandern auf Hornstrandir, unterbrochen von Zeltnächten. Wobei sich am nächsten Abend zeigt, dass nicht alle dieser Zeltnächte im Regensturm untergehen. Hoch über zwei Buchten steht das Zelt diesmal, umgeben von Moos, auf dem Wassertropfen wie Perlen in der Abendsonne glänzen, während eine Brise leise über die Ebene streicht. Über alles hat sich Ruhe gelegt. Weit hinter uns scheinen Europa, Reykjavík, Isafjördur, Hesteyri, während wir auf das europäische Nordmeer blicken, das irgendwo zum arktischen Ozean wird, der die Polkappen umspült. Die letzte Etappe führt zu diesem Meer hinab, vom Atlapass zwischen fast 700 Meter hohen Bergen durch das Rekaviktal zur Küste. Doch als wir den Atlantik erreichen und der Geruch von Salz und Seetang in der Luft hängt, finden wir keinen Strand. Stattdessen stapeln sich vor uns Schwemmholz und Treibgut, kreuz und quer, meterhoch. Über Tausende von Kilometern tragen es die Strömungen aus Sibirien und Skandinavien mit sich und schwemmen es hier an Land. Rutschige Baumstämme, Fischernetze, Kanister, gelbe Bojen, Gummistiefel, Bootsfender, verrostete Tanks – der Weg in die Bucht von Hornvik gleicht einer Schatzsuche in Schrott und Ramsch. Begleitet vom Donnern und Gurgeln des Meeres, das sich dahinter hebt und senkt, während Möwen hoch droben heiser kreischen.

NACH VIER TAGEN AM ZIEL: HORNVIK

Am Abend des dritten Tages erreichen wir schließlich Hornvik. Eine Bucht mit einem Sandstrand wie eine weite Sichel, hinter dem sich wilder Roggen still im Wind wiegt, dahinter ein grüner Talboden, gesprenkelt mit weißem Wollgras und rosaroten Orchideen. Nur die rote Biwakschachtel aus Kunststoff, die wie Treibgut von einer arktischen Forschungsstation am Ufer liegt, erinnert daran, dass hier regelmäßig Trekker unterwegs sind. Und es gibt ein Waschhaus für jene, die hier ihre Zelte aufschlagen, um auf ein Schiff zu warten. Zu Letzteren gehören auch wir, bis am Morgen des fünften Tages die »Bliki«, ein Schnellboot wie die »Gudrun Kristjans«, im Grau des Nieselregens auftaucht. Eine Handvoll Trekker und uns holt sie ab, wobei manche den Landarm früher als geplant verlassen – die raue Gegend beeindruckt, aber sie zehrt auch.

Auf der Rückfahrt blicken wir noch einmal auf Hornstrandirs Küsten, Islands nordwestlichstes Ende: Mächtige Hochebenen, deren Wände senkrecht ins Meer stürzen, Felsen zwischen Nebel und Gischt, in deren Nischen Tausende von Möwen und Papageientauchern brüten. Derweil stampft und trudelt »Bliki« durch das Nordmeer, quält sich Wellenberge hoch und schlingert zwischen deren Kämmen wieder hinunter, während der Motor dröhnt und vibriert. Drei Stunden lang. Dann endlich hört das Schaukeln auf, und die bunten Dächer Isafjördurs tauchen vor uns auf. Eine halbe Stunde später werden wir am Steg anlegen und aussteigen. Die Hauptstraße von Isafjördur entlang schlendern und das tun, worauf wir uns nach fünf Tagen in einer der rauesten Gegenden Europas während der ganzen Rückfahrt gefreut haben: uns in die »Gamla Bakarid« setzen, die alte Bäckerei, dort die nassen Jacken ausziehen, die Beine strecken und – einen Espresso bestellen.