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Myggskär Am äußersten Meer

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Eine herbstliche Paddeltour im äußeren Schärengarten ist nicht ganz ungefährlich, wenn ein Tiefdruckgebiet das andere ablöst. Aber mit gesundem Menschenverstand, Hartnäckigkeit und etwas Glück kann man es trotzdem bis nach Myggskär schaffen.

Es ist der Tag, nachdem Tomas Tranströmer den Nobelpreis für Literatur bekommen hat. Gestresst suche ich in meinen Bücherregalen nach seinem Namen. Wenn ich mich recht erinnere, besitze ich nicht nur einen, sondern sogar zwei Bände aus seinen gesammelten Werken. Geschenke von Leuten, die hoffen, dass ich über Tomas Tranströmer zur Lyrik finden könnte. Hat er nicht einen Gedichtzyklus mit dem Titel »Östersjöar« (Ostseen) geschrieben? Das wäre doch die ideale Lektüre für die Fischerhütte, in der wir übernachten wollen, ganz weit draußen im südlichen Schärengürtel von Stockholm – falls wir je dort ankommen. Ich muss die Suche aufgeben, ich habe keine Zeit mehr. Erst seit heute Morgen ist die Paddeltour beschlossene Sache. Die ganze Woche war die Wetterprognose düster, es wurde vor starkem Wind gewarnt. Oder wie ein schwedisches Boulevardblatt im Kriegsberichtton titelte: »Multiple Tiefdruckzone greift Schweden an.« Vor ein paar Wochen war Henrik Trygg, der Fotograf, auf die Idee gekommen, dass wir für unsere herbstliche Paddeltour nicht auf gutes Wetter warten, sondern einfach ein Datum festlegen sollten: »Ich habe keine Lust mehr, Touren zu verschieben. Es ist besser, erst mal loszufahren und sich dann vor Ort den Wetterbedingungen anzupassen.«

Obendrein haben wir ein sehr ehrgeiziges Ziel: Myggskär, die Mückenschären am äußersten Schärenrand nordöstlich von Huvudskär. Dort gibt es zwei alte Fischerhütten, in denen man übernachten kann. Henrik war schon einmal dort und “Wir sind auf der ganzen  Route ungeschützt, bis Sandhamn. Wenn der Wind von dort kommt, bildet sich ein richtiges Kanonenrohr.”sagt, dass die Schären zu den schönsten Orten der Stockholmer Inselwelt gehören. Die Hütten sind mit Kaminöfen ausgestattet, so dass wir dort bei Bedarf unsere Kleider trocknen und uns aufwärmen können.  Die äußerste Randlage unseres Ziels – wir müssen auf dem Weg dahin drei große Meeresbuchten überqueren – ist zugleich Vor- und Nachteil. Der Vorteil besteht darin, dass dort vermutlich kein Gedränge herrscht. Der Nachteil ist, dass die Paddeltour dorthin mit Risiken verbunden sein könnte. Vor allem das letzte Stück, die Passage über Huvudskärsfjärden, wo es nur kahle Klippen und Felseninseln gibt. »Wir sind auf der ganzen Route ungeschützt, bis Sandhamn. Wenn der Wind von dort kommt, bildet sich ein richtiges Kanonenrohr«, hat Henrik gesagt, als wir die Karten anschauten. Die Kombination »Multiple Tiefdruckzone« und »Kanonenrohr« hörte sich nicht so gut an. Aber als wir morgens telefonierten, hatte Henrik Informationen von einer Wellenboje irgendwo da draußen: »Die Wellenhöhe hat sich von 2,7 auf 2,4 Meter verringert. Der Wind flacht ab«, sagte er. In zwei Meter hohen Wellen bin ich noch nie gepaddelt – aber wenn es »abflacht«, dann klappt vielleicht alles. Wir haben beschlossen loszufahren. Die Frage ist nur, wie es Marie ergehen wird.

Marie Andersson ist 34 Jahre alt und stammt aus Mellerud. Sie pendelt zwischen Stockholm und Borås, wo sie eine Ausbildung zur Mode-Designerin mit dem Schwerpunkt Sportmode macht. Daneben betreibt sie einen Internetversand für gebrauchte Ski- und Outdoorkleidung. Sie ist mehrere Winter lang in Chamonix und Fernie in Kanada Ski gefahren, und im Sommer fährt sie Fahrrad, klettert und segelt ziemlich viel. Das erzählt sie Henrik und mir im Auto auf dem Weg nach Dalarö, wo wir die Fähre nach Ornö nehmen wollen, um dann bis zur Ostseite der Insel weiterzufahren. Bis jetzt habe ich Marie erst einmal getroffen. Damals erwähnte sie, dass sie sich mehr in der Natur aufhalten möchte und gern mal bei einer Reportage dabei wäre. Als Henrik und ich ein paar Kumpel fragten, ob sie mit nach Myggskär kommen wollten, lehnten alle ab, bis auf Marie, die sofort zusagte. »Ich bin noch nie mit einem Seekajak gepaddelt, aber dafür viel gesurft. Und ich bin zäh«, fügte sie hinzu. Der Wind peitscht den Schaum aus den Wogen, als wir am Fähranleger von Dalarö ankommen. Als ich aus dem Auto steige, um den Wind zu testen, fliegt meine Kapuze ab, und ich bekomme eine Dusche aus den mikroskopisch kleinen Wassertröpfchen ins Gesicht, die über das Land geweht werden. Wieder im Auto, lese ich Instruktionen von einer Website mit der Überschrift »Über das Paddeln in Wind und Wellen« vor. Die anderen schauen aus dem Fenster, ohne etwas zu sagen. Ich komme mir vor wie eine Stewardess, die die Sicherheitsvorschriften herunterleiert, bevor das Flugzeug abhebt, während die Leute denken: »Ich habe keine Lust zuzuhören. Wenn wir abstürzen, ist doch sowieso alles vorbei.«

Als wir Kyrkviken auf Ornö hinter uns haben und in die Fjärdlångbucht hinausgepaddelt sind, befinden wir uns im Windschatten einiger südlich gelegener Inseln. Die Wellen sind etwa einen halben Meter hoch und kommen schräg von vorn. Auf dem Rückweg bin ich völlig fertig. Eine große Welle hebt das Kajak hoch, so dass ich mit dem Kajak surfe und fast eine Klippe ramme.Henriks Vorhersage stimmt, der Wind flaut allmählich ab. Dafür gießt es jetzt in Strömen. Das Wasser läuft in die Jackenärmel rein und den Kragen hinunter, und auch durch ein kleines Loch in meiner Spritzdecke. Bald bin ich nass bis auf die Haut. Aber es ist ein gutes Gefühl, unterwegs zu sein. Nach etwa einer Stunde legen wir auf Krokholmen an, einer kleinen, bewaldeten Insel. Wir ziehen trockene Sachen an, trinken Kaffee und essen frische Zimtschnecken aus der Bäckerei in Dalarö. Weiter draußen ist der Seegang immer noch kräftig, und wir müssen uns damit abfinden, dass wir Myggskär heute nicht mehr erreichen werden. Also bauen wir auf einer felsigen Landspitze die Zelte auf, mit schöner Aussicht auf das Meer im Osten. Dann reißen die Wolken nach und nach auf. Wir machen eine Paddeltour zur Südseite der Insel, wo die Wellen heranrauschen, an den Klippen abprallen und wieder zurückgleiten. Eine schöne Gelegenheit, in der aufgewühlten See Gleichgewichtsübungen zu machen – es ist unmöglich, sich auszurechnen, aus welcher Richtung die nächste Welle kommt.

Marie und ich haben einen völlig unterschiedlichen Paddelstil – ich bin der Hase, sie die Schildkröte. Sie ist langsam, aber zielbewusst losgepaddelt. Ich frage mich, ob sie argumentieren würde wie die Skiführer in den Alpen, die einen ganzen Tag lang in exakt demselben langsamen Tempo auf Fellen bergauf steigen. Am Anfang glaubt man fast, sie machen sich über einen lustig, aber später schnauft man (das heißt ich) vor Anstrengung, während sie weitergehen, ohne auch nur kurzatmig zu werden. Auf dem Rückweg bin ich völlig fertig. Eine große Welle hebt das Kajak von hinten hoch, so dass ich mit dem Kajak surfe und fast eine Klippe ramme. Die Arme haben keine Kraft mehr, aber vor allem kann ich mich nicht mehr konzentrieren. Ich habe das Kommando verloren, die Wellen schubsen mich herum, wie sie wollen, und ich kämpfe fieberhaft damit, sie zu parieren. Endlich gelingt es mir, unsere geschützte Bucht anzusteuern. Marie gleitet an mir vorbei und sieht genau so munter aus wie bei unserem Start. Von jetzt an denke ich nicht mehr darüber nach, wie sie die langen, ungeschützten Strecken auf dem Weg nach Myggskär bewältigen wird, sondern frage mich stattdessen, ob ich es wohl bis dahin schaffen werde.

Bei Sonnenuntergang denke ich an Tomas Tranströmer. Am Himmel sind ungewöhnlich viele verschiedene Wolkenformationen gleichzeitig zu sehen. Hohe, bedrohliche Haufenwolken, ein paar Federwolken, eine längliche, zigarrenähnliche und eine seltsam bogenförmige Wolke. Zwischen ihnen strahlt ein geradezu biblisches Licht, das sich weich über die Inseln legt, wo die Blätter der Birken inzwischen golden geworden sind. Ein Sonnenlicht, das zugleich warm und kühl ist, wie man es nur im Herbst sieht. Hätte Tranströmer diese unregelmäßigen Wolken und das Licht in einem Gedicht einfangen können? Hätte er es überhaupt gewollt? Ich vermute, dass er, als er über die Ostsee und die Schären schrieb, eigentlich etwas ganz anderes erzählen wollte. Einen Sonnenuntergang wie diesen hätte er vielleicht einfach nur genossen und ihn so gelassen, wie er ist.

KURS AUF MYGGSKÄR

Es ist Samstagmorgen. Gestern Abend haben wir Feuer gemacht und ausgiebig und lange zu Abend gegessen. Die Nacht war sternenklar, und die Brandung hat uns in den Schlaf geschaukelt. Der Wind hat abgeflaut. Laut Henrik befinden wir uns jetzt in einer Lücke zwischen zwei Tiefdruckgebieten. Später sollen von Norden her, durch das »Kanonenrohr« von Sandhamn, kühle Winde aufkommen. Wir rechnen damit, es bis nach Myggskär zu schaffen. Aber was ist morgen mit der Heimfahrt? Wir beschließen, es darauf ankommen zu lassen. Laut Seekarte gibt es die Möglichkeit eines langen Umwegs im Schutz einer Reihe kleiner Inseln, falls die Nordwinde über Huvudskärsfjärden zu stark werden. Der Hanstensfjärden ist noch gemütlich, aber als wir Huvudskärsfjärden erreichen, ist von Norden her schon Wind aufgekommen. Die Wellen aus nördlicher Richtung treffen auf die Dünung, und das Wasser wird wieder unberechenbar. Aber mit dem Nachtschlaf sind Kraft und Konzentration zurückgekehrt. Das Hinauspaddeln ist anstrengend, aber trotzdem ein Genuss. Wir kommen an ein paar hohen, steilen Felsen- inseln vorbei, die kerzengerade aus dem Wasser ragen. Ich sehe einen Seehund (und bin kurz vorm Kentern, als ich zu beobachten versuche, wohin er schwimmt), und die Wolken sind so unregelmäßig und imposant wie gestern. Doch schließlich erreichen wir unser Ziel, legen an einem kleinen Steg an und ziehen die Kajaks auf die Felsen.

HÜTTENROMANTIK

Ich verstehe, warum Henrik wollte, dass wir uns bis hierher durchschlagen. Die Landschaft ist für diese Lage am äußersten Schärenrand ungewöhnlich abwechslungsreich. Zwischen einem kleinen kahlen Felseneiland und der Hauptinsel Nahe der Küste erhebt sich abrupt ein felsiger Hügel, und oben auf dem Gipfel wachsen in Spalten und Senken dichtes, tiefgrünes Heidekraut, Wacholderbüsche und weiße Rentierflechten, die wie von innen heraus leuchten.  verläuft ein schöner, natürlicher Kanal. Auch oben an Land gibt es ein kanalähnliches kleines Gewässer, und wir können es nicht lassen, eines der Kajaks hochzuschleppen und dort zu paddeln. Die Hauptinsel ist flach, ganz kahl und zum Meer hin vom Inlandeis glattgeschliffen. Die Wellen überspülen die Felsplatten. Nahe der Küste erhebt sich abrupt ein felsiger Hügel, und oben auf dem Gipfel wachsen in Spalten und Senken dichtes, tiefgrünes Heidekraut, Wacholderbüsche und weiße Rentierflechten, die wie von innen heraus leuchten. Der Hauptgrund dafür, dass ich Myggskär für einen der schönsten Orte überhaupt halte, sind die beiden kleinen Fischerhütten. In dieser Jahreszeit, Anfang Oktober, sind sie wie zwei große, starke Arme, die einen festhalten und in denen man sich geborgen fühlen kann. Wir nehmen die etwas größere Hütte, sie hat eine Kochnische und einen Raum mit Kaminofen, zwei Etagenbetten und einem Küchentisch am Fenster mit Aussicht auf Huvudskär. Alles ist einfach, praktisch und so richtig zum Wohlfühlen. Auf dem Fensterbrett stehen zwei leere Sektflaschen, die jetzt als Kerzenleuchter dienen – ich kann die Leute wirklich gut verstehen, die ihre Ankunft hier mit Sekt feiern.

Die Fischerhütten und die Myggskär gehören der Skärgårdsstiftelsen, dieser fantastischen Institution aus Zeiten des »Volksheims« in den fünfziger Jahren. Hauptzweck der Stiftung war und ist es, den Schärengarten möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen und ihn gleichzeitig zu schützen. Zurzeit werden fast 15 Prozent des weitläufigen Stockholmer Schärengürtels von der Stiftung verwaltet – Inseln, die sonst in Tausende von Grundstücken für Besserverdienende aufgeteilt worden wären. Die Übernachtung in den Fischerhütten auf Myggskär ist gratis. Es wird erwartet, dass man höchstens zwei Nächte bleibt und danach sauber macht, seinen Abfall mitnimmt, das Jedermannsrecht respektiert – kurz gesagt, sich korrekt verhält. Auf einem Zettel schlägt die Stiftung vor, für 300 Kronen im Jahr ihrem »Freundeskreis« beizutreten. Etwa 20 000 Personen haben sich schon dafür entschieden, Skärgårdsstiftelsen auf diese Weise zu unterstützen. Ich beschließe umgehend, dass ich auch dazugehören will. Als ich Feuer im Kamin mache, reiße ich Zeitungspapier aus der Unterhaltungsbeilage einer Boulevardzeitung. Dort findet man unter anderem eine Fotoreportage mit folgendem Titel: »Prominente lassen sich als blutrünstige Zombies schminken« und ein Interview mit einer 23-jährigen Bühnenbildnerin, die »davon träumt, das James-Bond-Girl zu werden«. Ich würde am liebsten für immer hier bleiben.

SONNENAUFGANG ÜBER DEM MEER

In der Nacht heult der Wind im Schornstein immer lauter, und es zieht durch die Fenster. Als wir morgens das Kaminfeuer anzünden, ist die Hütte vollkommen ausgekühlt. Man spürt, dass Herbst ist. Ich gehe hinaus und wasche mich auf einer Klippe mit Aussicht aufs Meer. Die Sonne hängt über dem Horizont wie ein kleiner glühender Ball, und der Himmel ist ganz klar. Obwohl wir uns im Hinblick auf den Wind wohl ein wenig beeilen sollten, bleibe ich eine Weile dort stehen und genieße die Stille. Wir schreiben ein paar Zeilen in ein Gästebuch, das bis zum Bersten mit dankbaren Zeilen gefüllt ist, und verabschieden uns von Myggskär. Die Sonne steigt langsam über der Ostsee auf. Es ist immer noch wolkenlos, und der Umweg, zu dem uns der zunehmende Nordwind zwingt, ist ein richtiges Geschenk. Wir gleiten an einsamen Felseninseln vorbei, spüren die starke Strömung, die das Meer um diese Jahreszeit hat, sehen noch einmal einen Seehund.

Gegen Abend zieht das nächste Tiefdruckgebiet über dem Stockholmer Schärengarten auf. Aber da sitze ich schon zu Hause und blättere in Tomas Tranströmers gesammelten Werken: Die Minuten vergingen. Untiefen und Felseninselchen memoriert wie Psalmenverse. Und dieses Gefühl: »genau hier sind wir«, das man erhalten muss, wie wenn man ein randvolles Gefäß trägt und nichts verschüttet werden darf.