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Spitzbergen-Expedition: Auf Walfang mit Kamera

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Die karge Insellandschaft von Spitzbergen lockt immer mehr Naturliebhaber auf Kreuzfahrtschiffe. Kameras laufen auf Hochtouren, wenn Eisbären, Papageientaucher, schimmernde Gletscher und russische Ruinen vorbeiziehen.

EXPEDITIONSLEBEN

»Gooood morning folks!« Die Lautsprecherstimme teilt mit, dass das Frühstück serviert ist und wir uns in einer guten Stunde im »Mud Room« versammeln, um für den ersten Landgang des Tages in die Schlauchboote zu steigen. Alles ist bis ins kleinste Detail gut und professionell organisiert. Bei Spitsbergen Travel, dem größten Anbieter von Kreuzfahrten auf der Inselgruppe, wird nichts dem Zufall überlassen. Wer lieber mit einer kleineren Gruppe unterwegs ist, kann mit der MS Origo in See stehen. Vera Simonsson und Oscar Westman, beide aus Schweden, bieten auf dem dienstältesten Schiff Touren in kleinerem Rahmen an.

Der Vorteil der kleineren Schiffe liegt darin, dass man der Tierwelt sehr viel näher kommt und vielleicht das ersehnte Foto von einem Eisbären schießen kann, ohne sein 500-mm-Objektiv zu benutzen. Unabhängig davon, welche Alternative man wählt, trifft man auf interessante Menschen mit interessanten Lebensgeschichten. Das Expeditionsleben scheint einen bestimmten Schlag von Menschen anzuziehen, der den All-inclusive-Passagieren der Mittelmeerkreuzer nicht unähnlicher sein könnte. Ich fragte meinen Freund Mikael, der seit 20 Jahren in Longyearbyen arbeitet, was das Beste an Spitzbergen sei. Die Antwort war einfach. »So lange und so weit auf Kreuzfahrt zu gehen, wie man es sich leisten kann.« Ich kann ihm nur zustimmen.

RUGER, KALIBER 308

Auch Spitzbergen hat seine Big Five. Und manche sind spektakulärer als andere. Der Wal ist natürlich die größte Attraktion. Schließlich waren die Wale der Grund dafür, dass man einst beschloss, dem Eis, der Kälte und dem rauen Meer zu trotzen, um an Reichtümer zu gelangen, von denen es in den Meeresbuchten nur so wimmelte. Tausende von Weißwalen, Grönlandwalen, atlantischen Nordkapern, Buckelwalen und Finnwalen wurden hier gefangen. Am zweitgrößten ist das Walross. Heute findet man die meisten Walrosse auf der Sandinsel Moffen, nördlich des 80. Breitengrades. Hier gibt es einen Süßwassersee voller Muscheln für die Jungen und, noch wichtiger, keine Eisbären. Der kleinste der fünf »Großen« ist der Polarfuchs, der sich nur sehr selten zeigt. Am zweitkleinsten ist das kurzbeinige Spitzbergen-Ren.

Das Tier, das die meisten der Spitzenbergen-Reisenden zu sehen hoffen, ist einer der ca. 3 000 Eisbären. Die meisten leben in den nördlichen und östlichen Gebieten der Inselgruppe, aber während des Sommers, wenn sich das Packeis zurückzieht und die Bären hungrig sind, kommt es oft vor, dass sie die Nähe der Menschen suchen. Sie werden von allem angelockt, was sie kriegen können – auch von Menschen, wenn sich die Gelegenheit bietet. Die Bären können es sich nicht leisten, wählerisch zu sein. Wer sich auf eine Expedition gen Norden begibt, hat sehr gute Chancen, einen Eisbären zu Gesicht zu bekommen. Das ist nicht ganz ungefährlich. Beim Wandern oder Skilaufen, aber auch im Seekajak sollte man immer auf der Hut sein. Um jedes Lager herum wird ein elektronisches Warnsystem aufgebaut. Doch von den auf der Insel obligatorischen Schusswaffen wird immer als letztes Mittel Gebrauch gemacht.

Wir bekommen deutliche Anweisungen: nie mehr als 20 Meter vom Guide entfernen, keiner wandert auf eigene Faust los. Die Bären können sich hinter einem Stein verstecken und blitzschnell hervorpreschen. Deshalb läuft immer ein Guide an der Spitze und einer bildet das Schlusslicht. Falls ein hungriger Eisbär auftaucht, gilt erstens: Um den Guide sammeln, sich groß machen, rufen und lärmen. Wenn dieser alte Trick nicht funktioniert, kommen Signalraketen zur Anwendung. Will sich der Bär daraufhin immer noch nicht trollen, dann gibt es nur noch eine Lösung: Ruger, Kaliber 308. »Aber«, so versichert mir unser Guide, »so weit ich mich erinnern kann, mussten wir bisher nur zweimal scharf schießen«.

DAS ANGEBOT

Wir haben in Longyearbyen angelegt. Gute Stimmung macht sich breit. Bunte Jacken, teure Stiefel und weitere arktistaugliche Ausrüstungsgegenstände dominieren das Bild. Gesprächsfetzen über die Begegnungen mit Eisbären (echte und frei erfundene!) und bevorstehende Expeditionen schwirren in der Gegend herum. Urbaner als hier in Longyearbyen wird es auf Spitzbergen nicht. Bald werden wir Touristen diese kleine Zivilisation verlassen – per Schiff, Kajak oder zu Fuß, und zu einem exotischen Einschlag in der weiten Ödnis werden. Eine bunte Minderheit im Verhältnis zu den zahlenmäßig überlegenen Säugetieren in naturfarbenen Pelzen.

Aber dann sind da noch die Anderen. Jene, die hier leben. Kjell Mork ist der starke Mann von Spitzbergen. Er lebt seit mehr als 30 Jahren in Longyearbyen und ist Vorsitzender des Gemeindevorstands. Mit seinem prächtigen Bart und dem ernsten Blick erinnert er eher an einen wettergegerbten Jäger. Wir trinken im »Funken« einen Kaffee und unterhalten uns über alte Expeditionen, Bücher und Landkarten. Und über Eisbären. Kjell selbst hat mehr als 1 000 Bären gesehen, und er wittert meine Neugierde. Er beugt sich vor und fragt, ob ich nicht Lust hätte, für einige Wochen seine Wildnis-Hütte zu mieten und die Bären aus nächster Nähe zu erleben, ganz allein. »Dann hast du deine Story. Das heißt, wenn du lebendig zurückkommst«, sagt er und lächelt.

AM RAND DER WELT

Barentsburg wurde 1932 von der Sowjetunion angelegt und hat bisher noch nie schwarze Zahlen geschrieben. Trotzdem wurde der Bergbau all die Jahre über weiter betrieben, selbst nachdem in Russland die Planwirtschaft verabschiedet wurde. Man fragt sich, wer eigentlich an der Kohle aus Barentsburg verdient. Der Tourismus ist hingegen eine immer wichtigere Einnahmequelle für die Menschen geworden, die hier leben. Briefmarken, Souvenirs, ein schneller Wodka in der Kneipe. Die meisten Kreuzfahrtschiffe machen heute in Barentsburg Halt, um den letzten faszinierenden Hauch des Kalten Krieges zu spüren, in dem man dem gesunden Menschenverstand und vor allem der kompromisslosen Natur trotzte, um im Kampf gegen den Westen ja nicht klein beizugeben. In diesem melancholischen russisch-sowjetischen Winkel wacht noch immer Lenins nicht mehr ganz so stolzer, aber umso trotzigerer Blick über die Bevölkerung. Auf der einzigen Straße fährt ein rostiger Laster vorbei. Der Fahrer sieht zu uns herüber, ohne zu grüßen.

»In Barentsburg leben heute 500 Personen, davon 150 Frauen und 16 Kinder, von denen drei Jugendliche sind. Außerdem gibt es 150 Schweine«, erzählt uns der ernste russische Guide, gleich nachdem wir an Land gegangen sind. Ich denke an die drei Teenager, die hier aufwachsen. Kinder der russischen und ukrainischen Bergmänner. Vielleicht wurden sie hier geboren. Sehen sie ihre Zukunft im Bergwerk oder zu Hause in der Ukraine? In Barentsburg gibt es mehr Fragen als Antworten. Wenn es eine Art schräges Disneyland mit Sowjet-Thema gäbe, sähe es wohl so aus. Heruntergekommen, dreckig, unsentimental. Ein Ort, an den freiwillig kein Mensch zieht. Und trotzdem sind sie hier. Diese 500 Menschen in der arktischen Wüste, deren einzige Nachbarn die Eisbären sind.

Unser Besuch endet mit einer farbenfrohen Folklore-Vorführung, bevor wir auf das Schiff zurückkehren. Und nicht eine Sekunde wirkt falsch oder künstlich. Die Arbeiter spielen und singen selbst. Musik, Lied und Tanz handeln von der Heimat, Mutter Russland, der Wolga, unglücklicher Liebe und einem heimlichen Kuss. Noch nie fühlte sich Sehnsucht so echt an wie hier.