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Liebe auf den ersten Blick

Fårö mit seinen schmeichelnden Sandstränden und mystischen Steinen ist die verehrte Sommerflamme vieler Schweden. Wir wandern um Gotlands winzige Schwester und lassen uns von ihr den Kopf verdrehen.

Als der schwedische Regisseur Ingmar Bergman 1960 erstmals nach Fårö kam, war er auf der Suche nach einem Drehort für seinen Film Såsom i en spegel (dt. Wie in einem Spiegel). Als Set hatte er schon die Orkneyinseln im Visier. Doch die Produktionsleitung verwehrte ihm das schottische Archipel aufgrund zu hoher Kosten und bat ihn, zumindest einen Blick auf Fårö als Alternative zu werfen. Mit großer Skepsis setzte Bergman nach Fåro über – und war überwältigt. »Feierlich ausgedrückt, habe ich mein Zuhause gefunden. Salopp gesagt, war es Liebe auf den ersten Blick«, schwärmte er von dem kleinen Eiland, das über Gotlands Nordspitze thront.

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Das Wandern auf Fårö besteht so manches Mal daraus, Gatter zu öffnen und wieder zu schließen, um die wolligen Schafe nicht zu ermuntern, ihr heimatliches Revier zu verlassen.

Auch Melanie, Victoria und ich landen heute zum ersten Mal auf der Insel an, bei der so viele ins Schwärmen geraten, wenn sie ihren Namen hören. Von dem nordöstlichen Zipfel Gotlands sind wir auf die kleine Fähre gestiegen, um in den kommenden Tagen die nördliche Hälfte des Eilands zu umrunden. Wir möchten erfahren, was es auf sich hat mit der Passion für Gotlands kleine Schwester, die dort auf der anderen Seite des Sundes nun vor uns liegt und früher noch nicht einmal als Insel auszumachen gewesen wäre. Als die ersten Menschen vor ca. 4 000 Jahren in diese Gegend kamen, segelten sie zwischen zersplitterten Schären umher. Fårö hob sich in ihrer Gänze erst gemächlich nach der letzten Eiszeit aus dem Meer. Die kleinen Binnenseen, mit denen das Eiland gespickt ist, sind ehemalige Meeresbuchten. An einer dieser schlagen wir nun im Mondschein unser Zelt auf.

Hunde aus Kalk

Der in der Sonne glitzernde, kristallklare Farnavik begrüßt uns am nächsten Morgen. Wir bereiten uns ein Frühstück aus Haferflocken und sitzen kauend nebeneinander, während unser Blick auf der pittoresken Landschaft weilt, so karg und steinig, durchzogen mit einigen struppigen Heidegewächsen. Der leichte Wind trägt eine salzige Brise und verrät die Nähe zur See. Fortan wollen wir der Küste folgen und laufen auf eine Meeresenge zu. Der Gamle Hamn (dt. Alter Hafen) war einst ein nach Norden hin offener Wikinger-Handelsposten, der sich durch Landhebung und schwere Stürme geschlossen hat. In diesem achen Meerwasserbecken können wir ein ungewöhnliches, versteinertes Gebilde, das einem Vierbeiner ähnelt, erspähen. Tatsächlich hört das Ungetüm inoffziell auf den Namen »hunden« (dt. Hund).

Der berühmteste Kalkstein sieht aus wie ein Hund. Andere erkennen in ihm aber eindeutig eine Kaffeekanne.

Fårö ist, wie Gotland, bekannt für seine zahlreichen Kalksteinsäulen, die aussehen, als hätte sie ein exzentrischer Künstler in einem Rauschzustand platziert. In Wirklichkeit sind die Raukar Nachbleibsel aus Urzeiten. Vor 490 Millionen Jahren entstand in dieser Region, die damals durch stete Kontinentalverschiebung noch ungefähr auf Höhe des Äquators lag, ein riesiges Korallenri . Kalk lagerte sich an achen Stellen nahe der Küsten ab und erodierte. Vom Meer ausgewaschen und vom Regen verwittert, blieben Gebilde übrig, die an die Ära vor unserer Zeit erinnern und auf seltsame Weise berühren. Es beginnt zu nieseln, aber wir sind derartig fasziniert von diesem eigentümlichen Ort, dass wir die Tropfen kaum bemerken.

Kontaktanzeigen und Pärchenstunde

Mitten im Nichts tut sich ein Häuschen auf, an dem ein »Loppis«-Schild (dt. Flohmarkt) prangt. Dankbar für einen trockenen Unterschlupf, stellen wir die Rucksäcke ab, stöbern durch die Kuriositäten und fragen uns, wie das Leben hier früher wohl ausgesehen haben mag.

Im Laufe der Jahrhunderte verließen immer mehr Fåröer ihre Heimat. Während 1870 noch 1 300 Insulaner auf Fårö zu Hause waren, sind es heute nur noch knapp 500 und darunter vermutlich wenige Singels. 1947 schlossen sich deshalb sechs Fåröer Junggesellen zusammen und schalteten eine Kontaktanzeige in einer finnischen Tageszeitung, um Finninnen auf ihre Insel zu locken. In Finnland waren während zweier Kriege viele Männer gefallen und es herrschte dementsprechend Herrenmangel. Die Fåröer Jungs bekamen zuhauf Briefe und diese Kennenlernmethode sprach sich auf Fårö schnell rum. So schalteten immer mehr Männer Kontaktanzeigen in finnischen Medien. Der Funke musste jedoch schnell überspringen, denn viel Zeit zum Kennenlernen blieb nicht. Da Fårö noch bis 1998 militärisches Sperrgebiet war und nur von Schwedinnen betreten werden durfte, musste schnellstens geheiratet werden, damit die Auserwählten, dann mit schwedischer Staatsbürgerschaft, zu ihren frisch gebackenen Bräutigamen ziehen konnten.

Mittlerweile knurren uns die Mägen und als wir das Lauters Café passieren, können wir nicht widerstehen und kehren ein. Die Tische und Stühle sind in den bizarren Steinruinen des alten Hofes platziert und wenig später fallen wir in dem behaglichen dachlosen Gemäuer über geräucherten Lachs und kleine Schokotörtchen her, während uns die Sonne die letzten Tropfen von unseren Regenjacken trocknet. Victoria entdeckt ein Kubb-Spiel und wir treten auf der ausgedehnten Rasenfläche mit den hölzernen Klötzen gegeneinander an. Empört über den abermaligen Sieg meiner beiden Konkurrentinnen möchte ich gerade zur vierten Revanche aufrufen, als Melanie mahnt: »Kommt, wir müssen weiter, den Sonnenuntergang will ich an den Kalksteinsäulen im Norden fotografieren.«

Die Kalksteinsäulen am Strand erzählen von Fårös Historie im tropischen Meer und wecken eine ursprüngliche Liebe zur Natur.

Später passieren wir Lauters Hamn und wandern weiter entlang Fårös steiniger Nordwestküste durch das Naturreservat Digerhuvud. Möwen kreischen über unseren Köpfen und der Geruch von Seetang mischt sich mit dem Duft sonniger Blumenwiesen, durch die wir immer dort, wo es am Strand zu unwegsam wird, wandern. Vor uns reihen sich haselnussbraune Holzschuppen an kleine weiße Steinhäuschen und ein fischiger Geruch steigt uns in die Nase, der verrät, dass wir uns am Helgumannens fiskeläge (dt. Fischerlager) befinden. Der Heringsfang war früher eine lebenswichtige Einnahmequelle für die Insulaner und die Buden wurden während der Fangperioden von den an der Küste wohnenden Bauern behaust. Heute werden sie nur noch hobbymäßig von einigen Insulanern genutzt. Wir machen eine kurze Rast, lassen uns vor einem alten Holzkahn zu Boden sinken und schauen aufs Meer hinaus.

Der Geruch von Seetang mischt sich mit dem Duft sonniger Blumenwiesen.

Gerade noch rechtzeitig erreichen wir einen in goldenes Licht getauchten Steinstrand in Langhammars. Unzählige Raukar türmen sich wie Monster aus der Urzeit auf. Waren wir bislang fast allein, so picknicken hier Familien und Pärchen trinken Rotwein auf ihren Wolldecken. Der Feuerball versinkt langsam zwischen den Kalksteinen im Meer, während die See sanfte Wellen an das steinige Ufer spült. Es ist eine magische Stimmung, die über der Insel liegt. So, als hätte sie gerade alle, die auf ihr unterwegs sind, mit diesem letzten abendlichen Akt auf ihrer kargen Bühne restlos verzaubert. Immer noch ergriffen von dem schmalen Streifen Licht am Himmel, merken wir kaum, dass es allmählich kühl wird. Wir sollten uns nach einem Ort zum Schlafen umsehen und so schultern wir unsere Rucksäcke und folgen der Küstenlinie weiter Richtung Osten.

Die Wolken spiegeln sich im Schein der untergehenden Sonne auf dem Meer und lassen die Insel dadurch noch mystischer wirken.

Grollender Schreck

Auf diesem Teil der Insel ist es schwierig, direkt am Wasser zu wandern. Stattdessen stiefeln wir auf schmalen Sandwegen. Einer führt auf eine Wiese mit windgepeitschen Sträuchern, die in eine Bucht mündet, und wir entscheiden spontan, uns hier zur Ruhe zu betten.

Der nächtliche Frieden soll jedoch nicht lange halten. Mitten in der Nacht erwache ich schlagartig von einem dumpfen Grollen und blicke in das panische Augenpaar von Victoria. »Hast du das auch gehört?«, fragt sie. Da erhellt sich der Himmel geisterhaft. Dass heute noch ein Unwetter aufziehen könnte, damit hatten wir wirklich nicht gerechnet. Es ist, als hätte das Eiland aus heiterem Himmel einen Streit heraufbeschworen – wie die erste, völlig überraschende Unstimmigkeit in einer frischen Beziehung. Da wir uns gutgläubig als höchsten Punkt auf einer platten Fläche drapiert hatten, fürchten wir kurzzeitig, vom Blitz getro en zu werden. Als wir beim nächsten bedrohlichen Donner das Wetterradar bemühen, können wir zu unserer Erleichterung feststellen, dass sich das heftige Gewitter über dem nur wenige Kilometer entfernten Gotland zusammengebraut hat, aber nicht zu uns nach Fårö, sondern hinunter in den Süden zieht.

Barfuß kriechen wir am nächsten morgen aus unseren Schlafsäcken an die frische Luft, um uns zum Frühstücken niederzulassen.

Unzählige skurrile Raukar türmen sich wie Monster aus der Urzeit auf.

Am Himmel ziehen ein paar Seeschwalben vorbei. Ihre Rufe, im Wechsel mit dem sanften Schwappen in der Bucht, kreieren eine rhythmische Melodie. Die Sonnenstrahlen glitzern auf dem Wasser und der Duft des Strandgrases, das uns hier überall umgibt, steigt uns wohlig in die Nase. Nur Melanie kann den Moment weniger genießen und bringt Victoria und mich unfreiwillig zum Schmunzeln, als sie, um ein paar Fotos zu erhaschen, erst mit ihren nackten Füßen fluchend über das schneidende Gras humpelt und ihr Kameragestell dann versehentlich in den skelettierten Überresten einer Möwe platziert, was zu einem entsetzten Aufschrei ihrerseits führt.

Nimmer am Puls der Zeit

Später führt uns unser Pfad durch eine archaische Kulturlandschaft, gezeichnet von winzigen Äckern. Auf von Steinmauern gesäumten Weide ächen grasen ein paar Pferde. Hier und da stehen kleine steinerne Gehöfte. Da es auf Fårö seit jeher an Holz mangelte, errichtete man die Häuser hier schon viel früher aus Stein als auf Gotland. Moderne Einflüsse kamen ansonsten aber reichlich zeitverzögert. Da die Insel mit ihren kargen Böden es ihren Bewohnern nie leicht machte, sie zu bewirtschaften, besaßen die Fåröer kaum Mittel für moderne Veränderungen. Die ursprüngliche Kulturlandschaft ist fast noch exakt so erhalten, wie man sie hier bereits im 17. Jahrhundert vorfand.

Auf von Steinmauern gesäumten Weide ächen grasen ein paar Pferde.

Immer wieder öffnen wir Gatter und werden dabei argwöhnisch von Schafen beäugt. Wir passieren ihren für diese Region typischen »lambgift« (dt. Schafstall), einen mit Reet gedeckten Windschutz, der in der oberen Etage Platz für Heu bietet. Der winzige Stall mutet an, als wäre er einem Hobbitland entsprungen. Weiter geht es über den schneeweißen Sandstrand Ekeviken, der unter unseren nackten Füßen quietscht und daran erinnert, dass wir auf einem Millionen Jahre alten tropischen Korallenriffspazieren. Weniger tropisch ist die Temperatur der See, in die wir uns für ein erfrischendes Bad stürzen. Zufrieden lassen wir uns in der warmen Sommerbrise trocknen.

An der nordöstlichsten Spitze liegt der Norra Austen, ein Strand, der von Dünen gesäumt wird, hinter denen sich ein knorriger Kiefernwald emporreckt. Wie in Trance wandern wir weiter, immer entlang der Wasserkante, da wir hier mit unserem Gepäck am wenigsten einsinken. Als wir eine Trinkpause einlegen, bleibt Melanies Blick wie versteinert an ihrem Rucksack hängen, wo eigentlich zwei Wanderstiefel vertäut sein sollten. Nun aber baumelt hier nur noch ein Treter. Sein Gegenstück muss sich bei unserer Barfußwanderung von ihrer Tasche gelöst haben. Mit nur einem Stiefel auf einer Insel weiterzuwandern, auf der es außer einem Lebensmittelladen keine Geschäftegeschweige denn einen Schuhverkauf – gibt, ist keine Option. Glücklicherweise taucht der Schuh nach kurzer Suche in einem Schlickhaufen auf und wir können den Trip fortsetzen.

Um vom Fähranleger Broa zum Farnavik zu gelangen, legen wir die ersten zehn Kilometer auf einer von blühender Schafgarbe gesäumten Asphaltstraße zurück.

Es dämmert bereits, als wir den Leuchtturm Fårö fyr erreichen. Die See am weißen Leuchtfeuer wütet über die Felsen. Wir beschließen, heute an diesem wilden Ort zu bleiben, an dem uns die Wogen Geschichten vom Meer erzählen und uns damit in den Schlaf wiegen.

Sehnsucht nach dem Ursprung

Durch kleine zerzauste Zauberwälder gelangen wir am nächsten Tag nach Sudersand, dem Endpunkt unserer Tour und werden von Melancholie ergri en. Für Ingmar Bergman war Fårö Liebe auf den ersten Blick. 1965 baute er sich hier ein Haus und wohnte fortan auf Fårö, wo er zwei Dokumentationen über das Eiland und die Insulaner drehte, denen er sich mehr und mehr zugehörig fühlte. Am 30. Juli 2007 verstarb Bergman auf der Insel und wurde dort begraben, wo er nun sein Zuhause gefunden hatte.

Der winzige Stall mutet an, als wäre er einem Hobbitland entsprungen.

Die Uhren ticken langsamer auf Fårö. Spuren der Urzeit, unserer Geschichte und längst vergangener Tage, sind hier überall präsent. Und vielleicht ist es das Archaische in uns, was uns berührt, wenn wir auf Fåro treffen. Womöglich ist es die Sehnsucht nach dem Ursprünglichen, weshalb sich so viele mit der Insel verbunden und auf ihr zu Hause fühlen. Und auch Mela- nie, Victoria und ich spüren, dass wir mit einer Geschichte über eine neue und gleichzeitig auf ursprüngliche Art vertraute Sommerliebe zurück aufs Festland kommen werden.

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