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Wie man im schwedischen Wald überlebt

Julias Überlebenskurs

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Mit einem Überlebenskurs in Smålands tiefen Wäldern will NORR-Autorin Julia Brzezinska aus Stockholm das Großstadtleben hinter sich lassen. Nach sieben Tagen in der Wildnis ist sie ein anderer Mensch. Und neu verliebt.

Du bewegst dich über weite Strecken ohne Nahrung und Wasser, meistens alleine und unterkühlt«. So stand es in der Beschreibung des Survival-Kurses, für den ich mich vor einiger Zeit in einem optimistischen Moment angemeldet hatte, und weiter: »Dieses Programm richtet sich an alle, die ihre mentale Stärke verbessern wollen und/oder sich auf eine Expedition in Gebiete vorbereiten, wo es kaum oder gar keine Infrastruktur gibt.« Klar wollte ich – aber würde ich es auch schaffen?

Ich war früher schon einige Etappen auf dem Kungsleden gewandert und fand meinen Körper eigentlich ziemlich stark und ausdauernd. Aber was mich jetzt erwartete, war eine ganz andere physische und mentale Herausforderung. Hinzu kam, dass ich Angst vor der Dunkelheit und vor wilden Tieren habe. Und ganz nebenbei: Ein Feuer in meinem heimischen Kachelofen anzuzünden, war mir auch noch nie gelungen.

Trotzdem wollte ich diesen Kurs unbedingt machen. Wenn ich den meistere, dann ist alles möglich, dachte ich. Und nach dreißig Jahren Großstadtleben im Stockholmer Zentrum war mir mehr denn je bewusst, wie sehr mir die Natur fehlte. Ich war bereit, das urbane Dasein hinter mir zu lassen. Dieser Kurs, so hoffte ich, würde mir helfen, den entscheidenden Schritt zu tun.

Schlafmangel und Hunger

Nun befinde ich mich mit den anderen Teilnehmern irgendwo in den tiefen Wäldern Smålands. Zwei Kurstage liegen bereits hinter uns, fünf weitere stehen noch aus. Bis jetzt haben wir eine gediegene Erste-Hilfe-Ausbildung bekommen, unser Orientierungsvermögen ausführlich bei Tag und bei Nacht getestet und das Gepäck von unnötigem Ballast befreit. Und der Survival-Lehrer hat uns gezeigt, wie man ein mustergültiges Notbiwak baut.

Wir bekommen nur äußerst knappe Informationen und die Anweisungen ändern sich auch immer wieder kurzfristig – so testen die Ausbilder unsere mentale Stärke. Mit dem Mangel an Kontrolle komme ich gut klar, schwerer ist es, mit nur wenig Schlaf und Nahrung zurecht zu kommen. Ich kann mich kaum wach halten und nicke bei den Gruppenbesprechungen immer wieder ein. Kopfschmerzen und Hunger haben meinen Körper im Griff. Ich schlafe in der Hocke ein, zucke zusammen und wache wieder auf.

So kann es nicht weiter gehen, denke ich, und versuche, mich mit aller Kraft wach zu halten. Doch es gelingt mir nicht. Ich schlafe ein, wache wieder auf und habe tausend Fragen im Kopf. Wann ist die nächste Mahlzeit? Wann dürfen wir schlafen? Was passiert als nächstes?

Die Stimmung der insgesamt zwölf Teilnehmer schwankt. Einer denkt ernsthaft darüber nach, nach Hause zu fahren. Ein anderer kann nicht aufhören, von leckerem Essen zu reden. Der Wald wirkt dunkel und fremd. Ich kann noch nicht ganz fassen, dass ich in Kürze meine Kurskameraden verlassen und alleine in die Nacht wandern werde.

Die Bäume stehen hier so dicht, dass einem alles Mögliche einen Streich spielen kann, ohne dass man die geringste Ahnung hat, womit man es zu tun hat. Sanfte Geräusche werden vom moosbedeckten Erdboden verschluckt, aber einen abbrechenden Zweig hört man kilometerweit.

Dann geht es plötzlich los. Essenspakete werden verteilt. Jeder bekommt gleich viel, eine Tüte mit 3600 Kilokalorien, bestehend aus Mahlzeiten und Snacks. »Esst was und dann treffen wir uns hier in 45 Minuten«, lautet die nächste Anweisung. Ich erwecke die gefriergetrocknete Pasta mit kochendem Wasser zum Leben. Kann ich noch fünfzehn Minuten warten, bis das Essen fertig ist, oder soll ich mir die Nudeln lieber schon halbfertig in den Mund stopfen? Auf Schwedisch nennt man so etwas »Jägeressen«.

Die Stimmung in der Gruppe wandelt sich direkt. Alle sind plötzlich fröhlich und haben wieder Farbe im Gesicht. Niemand möchte mehr nach Hause fahren. Es scheint, als ob das Essen Wunder gewirkt hätte. Der Wald sieht aus wie im Märchen mit sanften runden Hügeln. Ich packe meine Essensrationen in meinen Rucksack. Die verbleibenden Kalorien werde ich mit meinem Leben verteidigen.

Schließlich wird uns noch gezeigt, wie wir exakt hundert Meter mithilfe unserer Schritte vermessen. Wir gehen hin und her, vor und zurück, im Wald, auf Wegen, mit und ohne Gepäck. Nach einer Weile weiß ich, dass ich genau 62 Schritte für hundert Meter brauche. Es wird Nacht und wir dürfen endlich schlafen.

Die praktische Phase

Der Kurs ist in zwei Abschnitte eingeteilt, eine Ausbildungs- und eine praktische Phase. Das ist eine sinnvolle Struktur, aber ich bin trotzdem nervös, was die praktische Phase betrifft. Die Sätze aus der Kursbeschreibung hallen in meinem Kopf wider: »Du solltest keine Höhenangst, Klaustrophobie oder Angst vor Wasser und Dunkelheit haben«.

Laut Kursleitung sind wir jetzt soweit, dass wir alleine in die Wildnis gelassen werden können. Wir haben Informationen darüber bekommen, welche Gegenden wir besser vermeiden sollen und eine Übersicht über bestimmte Kontrollpunkte, die wir in einem bestimmten Zeitrahmen passieren sollen. Einer nach dem anderen geht seinen Weg. Dazwischen vergehen einige Minuten, so dass wir nicht sehen, wohin unsere Kameraden verschwinden.

Ich gehe auf einer Landstraße irgendwo in Südschweden umher und fühle mich wie Rasmus aus Astrid Lindgrens Buch Rasmus und der Landstreicher. Die Sonne scheint und ich komme an wunderschönen Gehöften und grasenden Kühen vorbei. Es fehlt nur noch Nils Holgersson, der auf einer Gans vorbeifliegt.

Das Leben ist schön und es gibt nichts, worüber ich mir Sorgen machen müsste. Alles, was hier draußen wichtig ist, sind essen, schlafen, waschen und das Wetter. Primitiv und angenehm. Ich weiß jetzt, wie man Wasser sucht und es zum Trinken aufbereitet. Und Feuer mache ich mittlerweile innerhalb von einigen Sekunden. Trockene Birkenrinde, ein paar Zweige und der Feuerstahl, schon funkelt es. Ich sehe schon vor mir, wie ich meinen Kachelofen zu Hause endlich zum Brennen bringe.

Nach unserer ersten Nacht im Notbiwak bin ich sogar zuversichtlich, dass ich auch heute Abend ein Dach über dem Kopf haben werde. Im Notfall kann man sich einfach unter eine Tanne legen, habe ich gelernt. Ich halte kurz an, um auf die Karte zu schauen, und sehe, dass ich sowohl Zeit als auch Energie sparen kann, wenn ich eine Abkürzung durch den Wald nehme. Ich hole den Kompass heraus und berechne die Strecke. In achthundert Metern sollte eine Lichtung kommen und ich zähle meine Schritte: 62, 62, 62 und so weiter.

Doch die Wirklichkeit stimmt nicht mit der Karte überein. Eine Stromleitung war dort nicht zu sehen und der Fluss, aus dem ich Wasser geschöpft hatte, sollte eigentlich auch nicht hier liegen. Wie ich die Karte auch drehe und wende, kann ich nicht erkennen, wo ich bin. Egal, in welche Richtung ich schaue, es sieht überall gleich aus.

Ich bekomme Panik und versuche sie mit meiner neu erlernten Technik in Schach zu halten, um einen kühlen Kopf zu bewahren. Ich sage laut »S.T.O.P.«. Das ist die Abkürzung für »stanna« (halte an), »tänk« (denke nach), »orientera« (orientiere dich), »planera« (plane). Nach einer ordentlichen Pause habe ich einen Plan und gehe Richtung Westen. Sich zu verlaufen, ist hier draußen nicht die eleganteste Lösung.

Albtraum im Moor

Kurze Zeit später komme ich auf einen Waldweg. Es ertönt ein Muhen. Ich schreie. Ein paar gefleckte Kühe schauen mich mit großen Augen an. Wenn die mir nur sagen könnten, wo ich bin. Aber das wäre ja Schummelei. Stattdessen sehe ich eine bekannte Gestalt aus dem Wald kommen. Es ist Charlotte. Wir umarmen uns und schreien vor Freude. Ihr Orientierungssinn ist ungefähr so gut wie meiner. Doch gemeinsam gelingt es uns, unsere Position zu bestimmen. Eigentlich sind wir gar nicht so weit vom nächsten Kontrollpunkt entfernt, doch der Weg dorthin führt durch ein Moorgebiet, das Svenskmyren heißt. Das klingt doch fast heimelig, versichern wir uns und holen den Kompass heraus.

Doch wir irren uns. Svenskmyren ist der schlimmste Platz in ganz Südschweden, es ist ein Moor ohne Grund und Boden, wo alles, was wie begehbare Fläche aussieht, in Wirklichkeit fließende Grasbüschel sind. Warum dort überhaupt Bäume wachsen können, ist mir ein Rätsel. Wir springen von Büschel zu Büschel. Ungefähr jedes zweite Mal tragen sie uns, die übrigen Male sinken wir direkt ein. Ein Albtraum, aber es ist zu spät zum Umkehren. Wir müssen da jetzt durch und all unseren Mut zusammennehmen.

Charlotte erwischt eine richtige Niete und sinkt bis zur Taille ein. Unsere Stiefel sind mit Matschwasser gefüllt. Wir dürfen und können nicht aufgeben. Da sagt Charlotte, 48 und Mutter zweier Kinder sowie Unternehmerin plötzlich: »Julia, wenn ich nach Hause komme, werde ich meine Firma auf Vordermann bringen und meine Preise erhöhen. Dieser Kurs hat mich wirklich herausgefordert und mir gezeigt, zu was ich alles in der Lage bin. Meine Kunden lieben mich. Es ist an der Zeit, dass ich das begreife«.

Sie hat Recht. Wenn uns der Kurs nur eines gebracht hat, dann, dass wir viel mehr können als wir glauben. Kurze Zeit später erreichen wir den Checkpoint.

Neue Liebe – neues Leben

Zurück in der Stadt bin ich nicht mehr die gleiche Person wie vorher. Ich wasche jetzt immer sofort ab und Dinge, die ich sonst aufgeschoben hätte, werden gleich erledigt. Auch meine Freunde haben meine Veränderung schon bemerkt. Ich hätte abgenommen, sagen sie. Das stimmt: Meine Klamotten hängen alle ein bisschen lose an mir herum. Vor allem verbinde ich seit meiner Zeit in Smålands Wäldern mit der Natur ein geradezu romantisches Gefühl – als hätte ich dort eine neue Liebe gefunden.

Und ich empfinde Wertschätzung für Dinge, die mir zuvor nie bewusst waren. So erinnere ich mich ganz besonders an meine zweite Nacht im Wald. Ich war über ein Prachtexemplar von einem Baumstumpf gestolpert, hatte ihn mit einem ordentlichen, aber liebevollen Tritt zum Fallen gebracht, seinen Stamm umfasst und ihn zum Lager geschleppt. Nur wer schon mal selbst altes Stumpfholz zum Feuermachen genutzt hat, weiß, was für ein fantastisches Erlebnis das ist. Dass nichts schöner und intensiver brennt. Wie wunderbar das Harz knistert und die Luft mit seinem Duft füllt.

Meine Angst im Wald ist komplett verschwunden. Es ist der friedlichste Ort überhaupt. Ich wünschte, mehr Menschen würden das so sehen.

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