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Padjelanta – das höhere Land

Der samische Name für Padjelanta lautet Badjelánda – das Höhere Land. Es ist ein Nationalpark, der an den Sarek grenzt, und die bevorzugte Gegend von Wanderern, die ganz für sich sein möchten. Zum Herbstanfang packt NORR-Mitarbeiter Håkan Stenlund seinen Rucksack, verstaut die Angelrute und nimmt Kurs auf die Konsul-Persson-Hütte.

Hier im Schatten des Sulitelma-Massivs weht ein ziemlich kalter Wind. Ich habe mein Einmannzelt aufgebaut, obwohl in der Hütte, die mein Wanderziel war, bestimmt noch ein Platz frei ist. Ich habe für Häuser nicht viel übrig. Am liebsten würde ich nur noch draußen schlafen, unter freiem Himmel. Aber das Wetter spielt nicht immer mit, und heute schon gar nicht. Der Neuschnee, der auf die Gipfel fällt, kommt hier unten, 860 Meter über dem Meeresspiegel, als Nieselregen an.

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Der Padjelanta-Nationalpark liegt in Schwedisch Lappland gleich an der norwegischen Grenze Mit 1984 km² ist er der größte Nationalpark Schwedens und einer der größten Europas.

Bei der erwähnten Hütte handelt es sich um die »Konsul Perssons Stuga« bei Sårjåsjaure am Nordkalottenweg. Auf der Karte heißt sie »Sårjåsjaurestugan«. Das Haus ist ein Klassiker der schwedischen Fjällwelt. Ende des 19. Jahrhunderts kam Konsul Nils Persson aus dem südschwedischen Helsingborg hierher und gründete in Sulitelma auf der norwegischen Seite der Grenze mehrere Eisenerzgruben. Zur Erinnerung an ihn ließ seine Tochter hier im Jahr 1922 die Hütte errichten, an einem Sandstrand des gletscherblauen Fjällsees Sårjåsjaure.

Auf der Wanderung trifft Håkan Stenlund sowohl auf Forellen als auch auf die Hüttenwirtin Ylva Pavval.

Der frühere UN-Generalsekretär Dag Hammarskjöld kam oft mit Freunden an diesen abgelegenen Ort. Sein Buch »Vägmärken« (deutsch: Zeichen am Weg, Knaur Verlag) ist der einzige Begleiter, den ich auf dieser Wanderung akzeptiere. Ich habe es schon viele Male gelesen, meine Taschenbuchausgabe fällt fast auseinander, aber sie wird noch eine weitere Lektüre überstehen. Ich bin also nicht einsam, auch wenn ich allein wandere. Oder, wie Hammarskjöld schreibt: »…wenn man zu denen gehört, die schon einmal ihren Kopf auf Wüstensand gebettet und einen Stern ihren Bruder genannt haben. Einsam. Aber Einsamkeit kann wie eine Kommunion sein.«

Hammarskjöld schwärmt von der Aussicht auf die weißen Berge im Westen, aber er stellt auch fest, dass »der Tisch hier nicht gedeckt ist«. Dieses Problem muss man selber lösen.Ich fange ein paar Lachsforellen im Ausfluss des Sårjåsjaure-Sees. Sie schnappen heftig und deutlich spürbar nach den Fliegen, die ich als Köder auswerfe. Man merkt, dass es Herbst wird. Fische sind in dieser Jahreszeit weniger wählerisch, genau wie Menschen. Jetzt gilt es, auf Vorrat zu futtern. Eine der Lachsforellen, etwa 700 Gramm schwer, wird mein spätes Abendessen. Die übrigen lasse ich wieder frei, denn ich brauche sie nicht. Ich bereite meinen Fisch auf dem Gaskocher in der Apsis zu. Auf hartem Brot schmeckt er wunderbar. Gräten und Flossen werfe ich aus dem Zelt.

Am nächsten Morgen treffe ich einen anderen Wanderer, der meint, ich hätte »die Natur verunreinigt« und solle die Fischgräten aufsammeln. Ich frage ihn, ob es denn besser wäre, sie in einer Plastiktüte nach Kvikkjokk zurückzubringen, wo sie zur Müllkippe weitertransportiert würden, als sie hier den Wühlmäusen und den Raubmöwen zu überlassen. Er schaut mich an, als ob ich ein Bauerntölpel wäre. Das bin ich auch. Ich wandere nach Osten weiter und lasse die Gräten liegen. Sie werden hier viel schneller verschwinden als auf der Müllkippe. »Kontrolliere nicht jeden deiner Schritte: nur der Weitschauende findet den rechten Weg. «Sechs Kilometer liegen zwischen Konsul Perssons Stuga und den Staddajåkkå-Hütten, wo Ylva Pavval als Hüttenwirtin arbeitet.

Den Winter über wohnt sie in Jokkmokk, aber ihre Familie hat ihre Rentierherden in Padjelanta. Seit frühester Kindheit hat Ylva das Sommer-halbjahr hier verbracht, in Padjelantas samischer »Metropole« Staloluokta, wo es übrigens auch ein hervorragendes Touristenzentrum mit Sauna gibt. Es liegt zwölf Kilometer von hier entfernt. Ich unterbreche Ylva bei ihrem Morgenabwasch, was ihr, glaube ich, ganz recht ist. Wir plaudern eine Weile, und das Abwaschwasser wird kalt. »Ich wollte ein bisschen weg aus dem Elternhaus«, sagt sie lachend, als ich sie frage, warum sie sich entschieden hat, hier Hüttenwirtin zu werden. »Du hast also nicht daran gedacht, Padjelanta zu verlassen?« »Niemals!«

Es ist logisch und richtig, dass die Sami entlang der Wanderwege hier im Nationalpark, den sie »Badjelánnda« nennen, die Hütten betreiben. Und mir ist es lieber, einer Ylva aus Jokkmokk als einer Ylva aus Stockholm als Hüttenwirtin in Lappland zu begegnen. Drei Samidörfer, Jåhkågasska, Sirkas und Tourpon, teilen sich hier die guten Weidegründe für Rentiere. Padjelanta wurde 1963 durch einen Reichstagsbeschluss zum Nationalpark erklärt. Der Grund dafür war das besondere, hochgelegene Terrain des Parks, das eine in der Fjällwelt einzigartige Flora hervorbringt. Es ist flächenmäßig der größ-te Nationalpark Schwedens. Das Wort Padjelanta, Höheres Land, wird verständlich, wenn man bedenkt, dass zu dieser Fläche, 1984 Quadratkilometer insgesamt, ebenso viel Gletschereis wie Fjällbirkenwald gehört, jeweils 14 Quadratkilometer. Außerdem gibt es hier zwei für das Fjäll ungewöhnlich große, landschaftsbeherrschende Seensysteme, Virihaure und Vastenjaure. Sie tragen ebenso zum herrlichen Panorama bei wie ein Hochplateau, das von den gewaltigen, alpinen Massiven Sarek und Sulitelma eingerahmt ist.

Frag niemals nach der Höhe des Berges, bis du den Gipfel erreicht hast. Dann wirst du sehen, wie niedrig er war.

Der See Virihaure kommt einem fast so groß vor wie ein Binnenmeer, wenn man ihn bei Staloluokta liegen sieht. »Stalo«, wie es im Volksmund heißt, ist eine Art Knotenpunkt. Der Padjelantaweg und der Nordkalottenweg begegnen sich hier, aber vor allem kommen viele Leute vorbei. Hubschrauber fliegen ein und aus, und die meisten Wanderer, die ich treffe, sind dorthin unterwegs. »Heute abend gehe ich in Staloluokta in die Sauna«, sagt ein deutscher Einzelwanderer, mit dem ich auf der Brücke über den Viejejåkkå ins Gespräch komme. »Da verkaufen sie be-stimmt auch Bier«, fügt er hinzu und sieht schon ganz durstig aus.

Die Stimme der Natur

Von Jokkmokk zum Virihaure kam 1732 kein Geringerer als der »Flower-Power-König« Carl von Linné, damals erst 25 Jahre alt. Das Wenige, was ich vom »Iter Lapponicum« gelesen habe (so heißen seine postum herausgegebenen Reiseschilderungen), lässt vermuten, dass er sich in Staloluokta ziemlich wohlfühlte. Nur den Fjällfisch, zu dem er eingeladen wurde, mochte er nicht: »…frischer, gekochter Saibling, von dem ich nicht viel essen konnte, denn er war nicht genügend gesalzen.« Der Käse hingegen und die aus Rentierblut hergestellten Klöße schmeckten ihm. Aus seinen Aufzeichnungen geht hervor, dass er von den Sami – den Lappen, wie man sie damals nannte – beeindruckt war und feststellte, dass sie ein sehr gesundes Leben führten, an dem man sich ein Beispiel nehmen konnte. Er ging sogar so weit, den Schustersitz der Sami nachzuahmen, um seine Muskeln zu dehnen.

Der Virihaure ist heute nicht mehr annähernd so schwer zu erreichen wie damals, als Linné und sein Führer, zu einem früheren Zeitpunkt der Reise, sich in dem großen, westlich von Lycksele in Südlappland gelegenen Sumpfgebiet »Lyxmyrans Elände« verirrten. Der Wissenschaftler notierte: »Kein Prediger kann die Hölle grauenhafter schildern als diese Gegend. Ich habe die Unterwelt durchstreift.«

Der höchste Punkt von Padjelanta liegt zwischen Tuottar und den Tarraluoppal-Hütten. 950 Meter, kaum der Erwähnung wert. Und absolut keine Mutprobe, auch kein Streifzug durch die Unterwelt. Einmal, als ich auf dem Padjelantaweg wanderte, war ich unter Zeitdruck. In drei Tagen legte ich 120 Kilometer zurück. Inzwischen bin ich älter geworden und weiß, dass es nicht nötig ist, so hart zu kämpfen. Aber manchmal ist es schön, eine Prüfung zu bestehen. Wenn man es geschafft hat, wird einem klar, dass das scheinbar Unüberwindliche sich eben doch bewältigen lässt. Ein Paar mit Kopfhörern kommt mir entgegen. Sie haben kaum Zeit, »hej« zu sagen. Ich wandere immer ohne iPod, MP3 oder andere Geräuscherzeuger. Ich möchte hören, wie der Wind pfeift und heult und wie mich unten im Tal der Regen einholt. Die Natur ist nie ganz still. Nicht einmal hier.

Die Vor- und Nachteile des Alleinwanderns

Das Alleinwandern hat natürlich Vor- und Nachteile. Wenn du dein Lager aufschlägst, ist da niemand, auf den du zählen kannst. Du musst dein eigenes Teewasser kochen, dein eigenes Zelt aufbauen und mit dir selber reden. Niemand macht etwas für dich. Einige der Leute, mit denen ich sonst unterwegs bin, sind sozusagen Naturtalente. Sie tun alles in der richtigen Reihenfolge und mit beeindruckender Effektivität.

Ich brauche dann eigentlich nur noch zuzuschauen und meine Schlafunterlage aufzublasen, und schon ist die Sache geregelt. Diesmal läuft alles etwas chaotischer ab – oder jedenfalls nach meinem eigenen System. Zum Beispiel habe ich nicht den kleinen, sondern den großen Gaskocher mitgenommen, damit ich Fische in der großen Pfanne braten kann. Außerdem habe ich einen zu schweren Schlafsack dabei und eine Unterlage, die zu viel Platz beansprucht. Ich notiere mir ein paar Sachen, die ich neu kaufen will, wenn ich nach Hause komme – nachdem ich mich mit mir selbst gründlich darüber beraten habe. Brauche ich diese Dinge oder will ich sie einfach nur besitzen? Das ist ein wichtiger Unterschied.

Der Vorteil des Alleinwanderns ist, dass du ausschließlich auf dich selbst Rücksicht zu nehmen brauchst. Du kannst losgehen, wann du willst und wohin du willst. Du kannst essen, wenn du Lust dazu hast, und dich ausruhen, wenn du selber müde bist, nicht irgend jemand anders. Außerdem ist es eine gewisse Herausforderung, allein zu wandern. Du musst eventuelle Probleme mit deinen eigenen Fähigkeiten lösen, und oft funktioniert es besser, als wenn jemand anders die Entscheidungen trifft.

Frei sein, aufstehen und alles zurücklassen können – ohne sich noch einmal umzudrehen. Ja sagen.

Das Wetter ist nicht besonders schlecht, als ich allein durch Padjelanta wandere. Aber auch nicht besonders gut. Es weht ein hartnäckiger Wind, die Wolken hängen tief, so dass die Gipfel manchmal in grauen, regenfeuchten Wattebäuschen verschwinden. Aber es gibt kein Unwetter, was schon eine große Erleichterung ist.

Bis ich 25 war, passte im Prinzip alles, was ich brauchte, in einen Rucksack, der etwas größer war als der, mit dem ich jetzt herumlaufe. Ich glaube, das war in meinem bisherigen Leben die Zeit, in der ich mich am freiesten und lebendigsten fühlte. Dass ich inzwischen tonnenweise Dinge angesammelt habe, hat mich nur unfreier gemacht. Genau darüber denke ich ziemlich oft nach: Könnte ich das – aufbrechen und nicht mehr zurückschauen?

Die Frage ist interessant, weil sie in jeder Hinsicht enthüllt, was im Leben wichtig ist. Dinge besitzen wir oft nur deshalb, weil wir gern jemand anders wären. Aber das Leben ist immer größer als das eigene Spiegelbild. Natürlich rede ich hier nicht von Verantwortungslosigkeit. Einfach wegzugehen, seine Kinder sich selbst zu überlassen und seine Lebensaufgabe in den Wind zu schreiben, ist nicht dasselbe wie die Bereitschaft, »nicht zurückzuschauen«. Ich rede von dem, was uns an den Ort bindet, an dem wir leben. Bleiben wir, weil wir uns dort wohlfühlen, oder weil wir uns dort wohlfühlen wollen? Oder, noch schlimmer, weil wir anderen vorspielen möchten es wäre so Alles, was ich brauche, passt in einen Rucksack. Und das Dach über meinem Kopf, unter dem ich mich mittlerweile am wohlsten fühle, ist ein Einmannzelt. Warum besitze ich dann so viele andere Sachen?

Unterhalb der Tarrekaise-Hütte fließt der Perlälv nahe am Weg entlang. Ich entdecke ein paar Saiblinge, die wach geblieben sind und werfe einen Fliegenköder aus. Ein Saibling beißt an, und ich habe mein Abendessen. Es wird also nicht unbedingt schwieriger. Weder die Wanderung durch das Höhere Land,
noch das Leben an sich.

Padjelanta

Der Padjelanta-Nationalpark ist Teil des Weltnaturerbes Laponia und der größte Nationalpark Schwedens. Die nächsten Städte sind Jokkmokk (210 Kilometer entfernt) und Gällivare (190 Kilometer entfernt). Der Padjelanta-Wanderweg erstreckt sich über 160 Kilometer von Kvikk-jokk bis Ritsem. Rund zehn Tage sollte man für die Strecke einplanen.

Übernachtung: Entlang des Weges gibt es einige Übernachtungshütten, die je nach Saison durchgehend bewirtschaftet sind. Alle Hütten im Nationalpark werden von der Sami-Kooperative »Badjelandda Ekonomiska Föreningen« betrieben.

Anreise: Von Gällivare und Jokkmokk aus fahren Busse des Länstrafiken Norrboten nach Kvikkjokk und Ritsem.

Karten: Fjällkartan für Padjelanta und Sulitelma, 1:100 000, Läntmäteriet.

padjelanta.com