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Perlen und Tücken

Das Wasser vor der Höga Kusten zählt zu den beliebtesten Paddelrevieren Skandinaviens, das sich bei schwerem Seegang aber als kräftezehrendes Abenteuer entpuppen kann. Ein Kajaktrip zwischen romantischer schwedischer Schärenkulisse und rauen, erbarmungslosen Klippen.

Die Sonne scheint und das Wasser glitzert. »Das wird schon gut gehen«, rede ich mir ein, ohne zu wissen, ob das wirklich der Wahrheit entspricht. Kajaken am Weltnaturerbe Höga Kusten, das zu den gefragtesten Paddelgewässern in ganz Skandinavien gehört, stand schon lange oben auf meiner Bucket List. Mein Mangel an Erfahrung und mein Respekt vor tiefen Gewässern ließen mich jedoch immer wieder auf Alternativen ausweichen. Fester Boden unter den Füßen hatte dabei Vorrang. Das heißt, bis jetzt. Jetzt stehe ich hier, in Näske, am nördlichen Tor zum Nationalpark Skuleskogen, in Begleitung extra einbestellter Freunde, für die Paddeln seit vielen Jahren fester Bestandteil ihres Lebens ist. Hier wollen wir unsere Kajaks ins Wasser lassen. In meinem Bauch tanzen Hunderte Schmetterlinge einen hektischen Foxtrott.

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Ein paar Wanderer, die nach Süden unterwegs sind, schauen uns bei den Vorberei- tungen zu. Hinter den Bootshäusern stehen Wohnmobile in einer Reihe. Ein Geschwader von Kormoranen fliegt in hübscher Formation über den Jachthafen. Auch wir lassen uns nun auf der Bucht nieder, um über die Meeresenge hinaus auf die offene See zu paddeln.

An manchen Tagen ist das Meer vor der Höga Kusten spiegelblank und gleicht einem See. Foto: Roger Borgerlid

SCHWEDEN UND NORWEGEN IN EINEM

Für meine Freunde Per und Brittis ist das hier Alltag. Brittis paddelt schon seit ihrer Jugend in den Siebzigerjahren. Damals waren Kanadier angesagt, mit denen das Überqueren von Buchten, die dem Wind voll ausgesetzt waren, sich oft schwierig gestaltete. Brittis und Per sind von Beruf Biologen und haben während der letzten 40 Jahre viel Zeit hier an der Höga Kusten verbracht. Am liebsten im August, wenn das Meer warm ist und glatte Klippen und schöne Zeltplätze zum Landgang verlocken. »An der Höga Kusten kann das Wetter zwar sehr unfreundlich sein, aber das Positive überwiegt«, versichert Per. »Weite Wasserflächen, großartige Natur, nur wenige Häuser und nicht so viele Touristen wie in Südschweden – man fühlt sich nie beengt«, sagt er.

»Mich erinnert die Landschaft an den lieblichen Stockholmer Schärengarten und die raue norwegische Küste zugleich«, stimmt Brittis ihm zu, während wir gemächlich weiterpaddeln. Die Bucht liegt still da. Eine kaum spürbare Brise aus nördlicher Richtung kühlt uns den Rücken. Meine Nerven haben sich beruhigt. Das Kajak fühlt sich stabil an und der Körper beginnt, sich an frühere erfolgreich gelungene Paddeltouren zu erinnern. Vereinzelte Häuser, halb versteckt zwischen den Fichten auf Storstenslandet, tauchen zu unserer Rechten auf. Zur Linken erhebt sich Hummelvik, eine Verlängerung von Skuleskogen, das teilweise als Naturschutzgebiet ausgewiesen ist. Bald kommen die beiden kleinen Inseln Tärnettholmarna in Sicht, die durch die starke postglaziale Landhebung mit einem schmalen Sandstreifen zusammen gewachsen sind und wir nehmen Kurs auf die Eilande, auf denen es sich vorzüglich wandern lässt. Von hier aus könnte man direkt in den Nationalpark spazieren, zur Schlucht Slåttdalsskrevan und dem See Tärnättvattnet.

Die Wege hier im Skuleskogen sind gut markiert, aber anspruchsvoll, und sie ziehen Wanderer aus vielen Gegenden der Welt an, die kommen, um einen unberührten Wald, eine außergewöhnliche Flora und steile Felsen, die in Küstennähe aus dem Wasser ragen, zu entdecken. Gerade jetzt sind die Ruhepause und der Lunch an den weichen Sandstränden der Tärnettholmarna aber viel verlockender als ein Slalom um Steine und rutschige Baumwurzeln auf dem steilen Wanderpfad. Nicht einmal die Möglichkeit, einen Blick auf Schwedens vielleicht berühmteste botanische Rarität, die Langbartflechte, zu erhaschen, kann uns auf die Beine bringen. Stattdessen essen wir unsere Butterbrote und ein wenig Schokolade. Wir kochen Kaffee, nehmen ein Bad im flachen Sund und schmieden Pläne für die Weiterfahrt.

Ein erfrischendes Bad zwischendurch darf nicht fehlen. Foto: Roger Borgerlid

Wir entscheiden uns gegen die Insel Mjältön, die bei anderen Wetteraussichten ein selbstverständliches Ziel gewesen wäre. Besonders ihr Süden mit ein paar schönen Zeltplätzen würde uns interessieren. Doch es ist ein Wind aus südlicher Richtung vorhergesagt, der sechs bis acht Sekundenmeter erreichen soll. Bei solchem Gegenwind würde das eine lange und schwierige Paddelprozedur werden, sodass die Entscheidung dagegen leicht fällt, vor allem mir, dem unerfahrensten Mitglied der Gruppe. Stattdessen suchen wir uns einen südöstlichen Kurs aus, zur Fahrrinne, die zwischen den beiden Inseln Skrubban und Norra Ulvön verläuft. Dahinter ist nur noch offenes Meer. Auf der Karte entdecken wir einen kleinen Punkt, der spannend aussieht, und so packen wir zusammen und brechen auf.

Jetzt fällt das Paddeln plötzlich schwerer. Die blanke, beinahe unbewegte Wasseroberfläche ist verschwunden. Die Wellen sind kabbelig und kurz. Der Kurs lässt sich nicht mehr so leicht halten. Auf den Wellenkämmen bilden sich
Schaumkronen und mir wird deutlich bewusst, dass ich mich sehr nahe am Wasser befinde. Meine Mitpaddler werfen mir zahlreiche, gut gemeinte Ratschläge zu. »Halt den Rücken gerade und versuch die Wellen schräg von vorne zu nehmen«, ruft Brittis. »Und nicht aufhören zu paddeln!« Es wird eine mühsame und schweißtreibende Überfahrt, aber immerhin überlebe ich. Und es stellt sich heraus, dass die Insel Höggrundet die Strapazen wert war. Sanft abgerundete Klippen aus rotem Rapakiwi-Granit nehmen uns in Empfang. Begeistert ziehen wir die Kajaks an Land und starten zu einer Entdeckungstour über die kleine Schäre.

Sanfte Klippen und Schaumkresse

Per zeigt auf eine kleine weiße Blume, die in einer Felsspalte wächst. »Felsen-Schaumkresse«, erklärt er zufrieden. »Die gibt es nur hier an der Höga Kusten und in Nordnorwegen.« Die rötlichen Felsplatten sind an vielen Stellen von einer dicken grauen Flechte bedeckt. Überall Vogelkot, Treibholz und krumme Kiefern. Eine gelbe Flechte, die aussieht, als hätte jemand planlos Farbe über den großen Steinen ausgekippt, ziert die Brocken. Goldrute wächst in schönen Sträußen inmitten von Preiselbeerreisig. Wir entdecken einen Gänsesäger und eine Gryllteiste.

Es dauert nicht lange, die Insel zu umrunden. Andere, höhere Inseln zeichnen sich am Horizont ab. Die Nordspitze von Ulvön, die grauen Felswände von Skrubban. Wir können Trysunda gerade noch erkennen und sehen im Südwesten den dunklen, bedrohlich wirkenden Umriss von Mjältön. Auf der Landseite heben sich die hohen Felsformationen von Skuleskogen gegen den blauen Himmel ab und es ist mehr zu ahnen als zu sehen, dass die Schlucht Slåttdalsskrevan wie ein Schwerthieb den Granit durchschnei det. Der Begriff Höga Kusten (dt. Hohe Küste) wird von hier aus zur Realität.

Inzwischen bemalt die tief stehende Sonne die Klippen in warmen Rotschattierungen und wir haben es plötzlich eilig, unser Nachtlager anzusteuern. Vor uns liegt noch eine sehr mühselige Etappe, mit dem harschen Südwind im Rücken, der die Kajaks auf den Kämmen der Wellen surfen lässt. Das Meer ist blauschwarz und längst nicht mehr so gemütlich wie heute früh, als wir von der Landungsbrücke in Näske losgepaddelt sind.

Magische Strahlen

Mit Rückenweh, schmerzenden Bauchmuskeln und Krampfgefühlen in den Beinen können wir endlich die Kajaks auf den feinen Sandstrand von Röholmen ziehen. Die Abendsonne wärmt noch eine kleine Weile und wir packen schnell die Zelte und den Kocher aus. Behaglich zurückgelehnt und mit einer warmen Mahlzeit im Magen stellen wir wenig später dankbar fest, dass der gefriergetrocknete Wanderproviant seit den Fjälltouren der Achtzigerjahre erheblich schmackhafter geworden ist.

Nach einem erfrischenden Abendbad und etwas Smalltalk über gemeinsame Bekannte wird es Zeit, sich zur Ruhe zu betten, während die Sonne ihre letzten Strahlen verschickt. Vorher schaffen wir es noch, eine Robbe zu begrüßen, die am Strand aufgetaucht ist und uns mit großen braunen Augen neugierig beobachtet. Die Nacht wird kühl und allerlei Geräusche leisten uns Gesellschaft. Die Morgendämmerung kommt viel zu früh. Es ist ganz still und riecht nach Tang und Meer. Wir sehen Skuleskogen in einem neuen Licht, das über dem dunklen Wald nahe am Wasser jede Felsspalte, jeden Steilhang und jedes Geröllfeld deutlich hervortreten lässt. Die Morgentoilette ist rasch
erledigt, denn wir wollen schnell raus aufs Meer, das still und blank da liegt, wie mit Öl begossen, nur gesäumt von einer trägen, langsam heranrollenden Dünung. Die Inseln im Schärengarten sehen aus, als würden sie über dem Horizont segeln.

Das magische Sonnenlicht zieht alle in seinen Bann. Bild: Roger Borgerlid.


»Unfassbar magisch!«, ruft unser Fotograf Roger, leicht gestresst von der Sorge, all die Schönheiten nicht restlos einfangen zu können, bevor sie verschwinden. Nachdem er seine Modelle mal im Auflicht, mal im Gegenlicht herumdirigiert hat, paddelt er mit mir im Schlepptau zurück zu den Tärnettholmarna, da die anderen der Gruppe noch eine längere Route geplant haben. Dort bereiten sich früh aufgestandene Wanderer gerade ihr Frühstück am flach abfallenden Strand zu, wo vom Meer glatt geschliffenes Treibholz sich unter den Kochtöpfen in Asche verwandelt. Sand und das spezielle Licht, das die Sonne über das Wasser wirft, lässt Paddelnde und Zeltende inne halten und diesen magischen Moment fast ehrfürchtig geniessen.

Die Inseln im Schärengarten sehen aus als würden sie über den Horizont segeln. Sonne und der Skuleskogen als dramatische Kulisse machen es leicht, sich zu entspannen und einfach nur zu sein. Wir bleiben lange liegen, jeder mit dem Kopf auf einem Baumstumpf, und lüften unsere Eindrücke.

Spontaner Abgang

Es wird Zeit, sich wieder auf den Rückweg zu machen. Zufrieden packen Roger und ich alles zusammen und paddeln los. Doch als wir die Landspitze vor den Tärnettholmarna umrundet haben, treffen wir nicht mehr auf ein
stilles, in der Sonne glitzerndes Meer, sondern auf eine kräftig bewegte See mit meterhohen Wellen, die von Süden heranrollen. Das fühlt sich gar nicht gut an. Nachdem ich um die erste Halbinsel herum bin, paddle ich schnell in die nächste Bucht hinein, denn ich weiß, dass man von dort das Kajak über eine schmale Landbrücke auf die andere, windgeschützte Seite schleppen kann. Der Plan funktioniert ausgezeichnet. Beim Tragen helfen mir ein paar jugendliche Camper, die mich ganz beeindruckt fragen, ob ich auch die Eskimorolle kann. Nein, kann ich nicht. Auf bedeutend ruhigerem Wasser paddle ich erleichtert weiter, aber es dauert nicht lange, bis ich wieder zwischen die hohen Wellen gerate. In der Ferne entdecke ich Roger, dessen Plan es ist, die Landzungen weit draußen auf offener See zu umrunden. Ein unangenehm rauer Seegang peitscht direkt von hinten. Das Heck des Kajaks strebt seitlich weg, sodass ich die Wellen von der Seite abbekomme und kurz vor dem Kentern bin.

Jetzt fühlt es sich entschieden so an, als wäre ich in die Risikozone geraten, in mehrfacher Hinsicht. Und es liegt noch eine weite Strecke vor mir, bis ich bei der Landungsbrücke von Näske in den Windschatten paddeln kann. Ich halte den Atem an und paddle weiter, versuche das Kajak mit allen Mitteln auf Kurs zu halten, das Heck genau gegen den Seegang auszurichten. Jetzt fangen die Wellen auch noch an, sich zu brechen, und ich merke, dass Wasser unter den Spritzschutz läuft. Ich weiß, dass ich mich jetzt darauf konzentrieren muss, mit genügend Abstand um die nächste Landzunge herumzukommen. Und es gelingt mir tatsächlich. Dann taucht eine weitere Landzunge auf, die umfahren werden will.

Das Meer ist jetzt anders, mit kurzen, schäumenden Wellen, die in Dreiergruppen von beiden Seiten angreifen. Und es wird schlimmer, als ich mich dem Land nähere und in seichteres Wasser gerate. Bis zuletzt hoffe ich vergebens, dass ich es schaffen werde. Hinter der nächsten Halbinsel ist es ruhiger, doch bis dorthin komme ich nicht. Als ich merke, dass sich das steinige Ufer unaufhaltsam nähert und dass es zu spät ist für den Versuch, noch
einmal weiter hinaus zu paddeln, muss ich mich entscheiden – und es muss schnell gehen, wenn das Kajak nicht an den Felsen zerschellen soll. Um die Havarie zu vermeiden, hilft nur eine kontrollierte Notlandung. Sobald ich höre, wie das Kajak gegen die Steine stößt, reiße ich den Spritschutz auf und hieve mich ins Wasser. Glücklicherweise finde ich festen Stand und kann mein Boot zwischen ein paar Steinen hindurchbugsieren und ans Ufer ziehen.

Schokolade und Glücksgefühle

Erst mal esse ich ein Stück Schokolade. Danach teile ich Roger per SMS mit, was passiert ist und dass alles in Ordnung ist. Dann atme ich ein paar Mal tief durch und merke, dass ich am ganzen Leib zittere und einen ganz trockenen Mund habe. Und nun? Ich sichere das Kajak und wandere los, um ein Haus zu suchen. Das Ufergelände ist holprig und es wäre nicht möglich, das Kajak über Steine und umgefallene Bäume zu tragen. Solange dieser Wellengang herrscht, kann ich es auch nicht wieder ins Wasser ziehen, ohne einen Fußbruch zu riskieren. Ich kann nur abwarten, bis der Wind sich legt und die Wellen sich beruhigen. Allmählich ebbt das Katastrophengefühl ab. Nichts und niemand hat Schaden genommen, weder der Mensch noch das Kajak.

Wie klein die Welt doch ist, bestätigt sich wieder einmal, als ich Bo treffe, den Bewohner des Hauses, an dem ich schließlich klopfe: Es stellt sich heraus, dass die Insel Röholmen, auf der wir einige Stunden zuvor gezeltet haben,
seinem Großvater gehörte. Später hilft uns Bo, das Kajak zu holen. »Sie hat ihre Perlen und ihre Tücken, die
Höga Kusten«, denke ich, als ich müde, aber wohlbehalten wieder Richtung Heimat fahre, während meine Schmetterlinge sich zufrieden zu einem Langsamen Walzer wiegen. Aber das Abenteuer zu Wasser an diesem Fleckchen Erde war alle Aufregung mehr als wert.

Das UNESCO-Weltkulturerbe Höga Kusten erstreckt sich zwischen Härnösand und Örnsköldsvik an der Ostküste Schwedens.

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