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Von Beeren, Löyly und Rentieren

Unwirklich, magisch, wild – unsere Autorin hat sich mit ihrer zehnjährigen Tochter auf den Weg gemacht, um sich der Seele Finnisch Lapplands auf zwei Rädern zu nähern. Und dabei spannende Menschen und lokale Rituale kennenzulernen.

Meine Tochter Marlene ist ein Landei. Das war sie schon von klein auf und aus tiefster Überzeugung. In Städten hält sie es nicht lange aus und wenn, dann vorzugsweise am Fenster. Sie braucht frische Luft, sagt sie. Und sie muss sich bewegen und austoben können. Wie gut, dass wir uns in diesen Punkten einig sind. Jedes Jahr unternehmen wir in den Sommerferien eine kleine Mutter-Tochter-Eskapade – am liebsten mit dem Rad. So können wir Strecke machen und haben gleichzeitig ausreichend Zeit für die kleinen Wunder am Wegesrand.

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Bei unserer diesjährigen Suche nach sauberer Luft und Wildnis landen wir ziemlich schnell in Finnisch Lappland. Schließlich soll es hier die reinste Luft auf diesem Planeten und hunderte Quadratkilometer nahezu unberührter Wildnis geben. Auch meine Zehnjährige ist sofort Feuer und Flamme: »Da müssen wir hin, Mama!« Als Reisezeit suchen wir uns Mitte August aus – dann gibt es nicht mehr so viele Mücken wie in den Sommermonaten Juni und Juli, dafür umso mehr reife Beeren und Pilze. Und die Polarnächte sind noch immer hell genug, um endlos lange draußen sein zu können.

Wälder und magische Stille

Weit und breit umgibt uns nichts als Wald und magische Stille. Sind wir hier richtig? Nach etwa einem Kilometer sorgt ein Wegweiser für Klarheit: Magical Pond Iglu Dorf, hier – mitten im Nirgendwo, im tiefsten Nordosten Finnlands – befindet sich unsere Unterkunft.  Als hätten Riesen damit gewürfelt, liegen 20 schwarze Holziglus verteilt um einen kleinen Weiher. Ihre Fronten und Teile der Dächer sind komplett verglast. »Das ist ja wie draußen schlafen«, staunt meine Tochter. »Nur viel gemütlicher.« Und wirft sich mit einem Jubelschrei auf das riesige Doppelbett, rollt sich in das darauf drapierte Fell ein und strahlt.

Der Wald ruft. Von den Ästen der Nadelbäume hängen Flechten herab. Für die hier freilebenden Rentiere sind sie echte Pralinen und zugleich ein Indikator für die hervorragende Luftqualität. Wie ein Flummi springt Marlene über die saftigen Moose und Farne, stopft sich glänzend blaue Heidelbeeren in den Mund und hält immer wieder abrupt inne »Hier hat ein Bär gelegen! Hast Du das gehört? Das war bestimmt ein Wolf!« Für sie ist es das reinste Sommer-Märchenland, magisch und voller Abenteuer.

Mit Ebike zwischen Heidelbeeren und Seen

Nach einer kurzen und ungewohnt hellen Nacht sowie einem ausgiebigen gesunden Frühstück satteln wir am nächsten Morgen unsere Mountainbikes, jede von uns mit einem Rucksack für die Nacht auf dem Rücken. Wir haben uns eine zweitägige Tour durch das Hinterland von Ruka vorgenommen, insgesamt 94 Kilometer. Ein ordentliches Pensum für eine Zehnjährige, daher hat das Leihfahrrad zur Unterstützung einen Elektromotor. 

Die ersten Kilometer fliegen nur so an uns vorbei, das wechselhafte Wetter kann uns in der grandiosen Natur nicht die gute Laune verderben. Wir radeln auf kleinen Sträßchen und geschotterten Waldwegen durch Birkenmischwälder und genießen die Wildnis und die Stille – gerade einmal zwei Einwohner leben hier auf einem Quadratkilometer.

An einem kleinen Unterstand am Wegesrand rasten wir und verzehren unser Lunchpaket. Zum Nachtisch gibt es frisch gepflückte Heidelbeeren– wie Rotkäppchen entfernen wir uns auf der Suche nach den größten und saftigsten immer weiter von unserem Rastplatz. Als wir uns mit blau verschmierten Händen und Mündern umdrehen, um den Rückweg anzutreten, ertappen wir an unseren Bikes zwei Rentiere. Offenbar haben sie die Reste unserer Mahlzeit angelockt. 

Schnell ergreifen sie die Flucht, darum radeln auch wir weiter und erreichen am frühen Nachmittag unser Etappenziel, den Isokenkäisten Klubi, nur zwei Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Wörtlich übersetzt bedeutet dieser finnische Zungenbrecher Klub der großen Nummern. Warum? In dem ehemaligen Bauernhof direkt am Ufer des Heikinjärvi-Sees beherbergt die Familie Kämäräinen seit 1990 Urlauber, darunter viele finnische Prominente – große Nummern eben. Seit über 30 Jahren schätzen die Gäste der Schwestern Sirpa und Katja nicht nur die Ruhe, sondern auch die gute Wildküche, die Schlittenfahrten und Schneeschuhwanderungen.

Finnische Saunazeremonie in der Blockhütte

Vor allem aber lieben die Gäste die hauseigene Rauchsauna. Über drei Millionen Saunen kommen in Finnland auf gerade einmal fünfeinhalb Millionen Einwohner. Mit dem, was hierzulande unter finnischer Sauna verstanden wird, hat das Original allerdings wenig zu tun. Vielmehr ist die Sauna eine Institution, die aus dem finnischen Alltag nicht wegzudenken ist: Hier sind alle gleich, jeder ist per Du und wer Stille sucht, der sollte in den Wald gehen. In der Sauna werden Probleme ausdiskutiert, Klatsch und Tratsch ausgetauscht, ja, sogar Politik wird bei hohen Temperaturen gemacht. In Finnland, noch vor wenigen Jahrzehnten ein Agrarland, war es an der Tagesordnung, Kinder in der Sauna zur Welt zu bringen – schließlich war das der sauberste Ort im ganzen Haus. 

Bei einer Rauchsauna, wie Marlene und ich sie heute genießen dürfen, handelt es sich laut Sirpa um die Krönung der finnischen Saunakultur. Sie ist in einer gemütlichen Blockhütte am Seeufer untergebracht, und wird von Aimo, dem Vater der Schwestern, rund acht Stunden lang durch ein offenes Feuer mit wohlriechendem Holz angeheizt. Ist die richtige Temperatur erreicht, lässt er den Rauch zügig entweichen – Duft und Hitze bleiben dabei erhalten.

Katja reicht uns ein beigefarbenes Frotteemützchen, der unsere Köpfe drinnen vor der Hitze und draußen vor Auskühlung schützen soll. Dann erklärt sie uns das traditionelle Ritual: »Als erstes duscht ihr in der Sauna, indem ihr euch mit einem Eimer Wasser überschüttet. Seife und Shampoo liegen ebenfalls in der Sauna bereit. Und wenn Ihr mögt, reibt Ihr Euch dann mit diesem Heilschlamm aus Mittelfinnland ein – er ist gut gegen Rheuma und Muskelkater und fungiert außerdem als Jungbrunnen«, zwinkert sie mir zu und reicht uns jeden einen kleinen Becher mit Torf. Das lässt sich Marlene nicht zweimal sagen und verwandelt sich in kürzester Zeit in ein Schlammmonster.

Genüsslich geben wir uns anschließend der angenehmen Wärme hin: In der Rauchsauna herrschen moderate Temperaturen um die 75 Grad und die Luft ist deutlich weniger trocken als hierzulande. »Das kommt durch den Löyly«, erklärt mir Katja. »Dabei handelt es sich um den Dampf, der entsteht, wenn ihr Wasser auf die heißen Steine werft.« Laut heidnischem Glauben hat der Löyly sogar magische Kräfte, und tatsächlich: Es zischt, und die Außenwelt ist weg. Von Sirpa lernen wir später: »Hier in Finnland fragt keiner, wie die Sauna war. Wir fragen immer, ob der Löyly gut war«. 

Nach dem ersten Gang springen wir in den kalten, glasklaren See, schwimmen eine Runde und schlüpfen zurück in die Sauna. Jetzt reicht uns Katja ein Bündel Birkenzweige, mit denen wir für eine bessere Durchblutung Arme und Beine abklopfen. Oder auspeitschen, wie Marlene es formuliert. »Es ist wichtig, dass die Zweige zum richtigen Zeitpunkt geschnitten werden«., erklärt uns Katja. »Ihre Blätter müssen ganz frisch sein. Dann werden sie in Meersalz eingelagert. Wenn wir sie im Winter wieder herausholen und in Wasser einlegen, sind sie wie frisch geschnitten. Und so eine natürliche Birkenmassage wirkt Wunder.«

Leben wie die Finnen

Gut erholt radeln wir am nächsten Morgen weiter nach Vuotonki, eines der ältesten Dörfer der Region Ruka-Kuusamo. Im Pohjolan Pirtti, dem nordischen Gasthaus, empfängt uns Tanja Pohjola. Sie bietet Besuchern an, einen Tag als Finne oder Finnin zu verbringen – mit vielen Einblicken in die Historie der Region, in traditionelle Lebensweisen und mit einem Backkurs in ihrer gemütlichen Stube mit Holzofen. Ihr Mann Matti, der in elfter Generation auf dem Hof lebt und der aus dem Süden Finnlands stammenden Tanja beim zweiten Date unmissverständlich klargemacht hat, dass er Lappland nie verlassen würde, hat den riesigen Kachelofen bereits angeheizt. Nun dreht er mit Tanjas Hilfe die Tischplatte der Tafel im Wohnzimmer einmal auf den Kopf – fertig ist die Arbeitsfläche zum Backen.  

Tanja reicht jeder von uns ein etwa faustgroßes Stück Teig. Er besteht lediglich aus Wasser, Salz und Gerstenmehl, und wir walzen ihn mit Nudelhölzern zu runden Fladen aus. Anschließend drücken wir mit einem traditionellen Holzkamm kleine Vertiefungen in den Teig. Matti platziert unsere Fladen im Holzofen, und nach etwa zehn Minuten halten wir duftendes Rieska, eine Art finnisches Knäckebrot, in der Hand.

Doch bevor wir dieses bebuttern und als Beilage zum Essen verzehren dürfen, steht noch der Nachtisch an: Dafür hat Tanja süßen Hefeteig mit Kardamom vorbereitet und zeigt uns, wie wir mit fachmännischem Schwung daraus Pulla, finnische Zimtkringel, formen können. Wir bestreichen unsere kleinen Kunstwerke mit Eigelb und streuen Zimt und Zucker darüber. Wieder schiebt Matti das Backwerk in den Ofen, und im Handumdrehen duftet der Raum wie eine Weihnachtsbäckerei.

Jetzt bittet uns Tanja an den gedeckten Tisch. Es gibt Elchbraten mit Kartoffeln und Gewürzen, der ebenfalls im Kachelofen geschmort wurde, dazu probieren wir unser Rieska und die Zimtröllchen. Nach mehreren Tassen Kaffee – die Finnen sind Weltmeister im Kaffeetrinken – schwingen wir uns gut gesättigt und ein wenig träge wieder auf unsere Bikes. 24 Kilometer stehen uns noch bevor. Es ist windig und schüttet wie aus Gießkannen. 

Bis auf die Knochen durchnässt und mit schnell schwindendem Akku radeln wir über hügelige Sträßchen, durch tropfende Wälder und vorbei an nebligen Wiesen. Als wir erschöpft und frierend die Talstation des Gondellifts erreichen, der uns über den Berg zurück nach Ruka bringen soll, hat dieser wegen des starken Winds für den Rest des Tages geschlossen. Jetzt streikt meine Tochter, keinen Meter weiter will sie mehr fahren, schon gar nicht über den Berg und mit leerem Akku. Und wie so oft in scheinbar ausweglosen Situationen passiert ein Wunder: In der Liftgesellschaft arbeitet Mika, dessen Mitleid wir offenbar erregen. Er bietet an, unsere Bikes in einen Transporter zu laden, räumt uns den Beifahrersitz frei und bringt uns wohlbehalten wieder an den Ausgangspunkt unserer Tour. 

Wenig später ist auch Marlene wieder guter Dinge. Sie hat auch schon einen Plan für den Abend: »Weißt Du, wie wir uns für die Strapazen belohnen können, Mama? Wir testen einfach noch ein paar finnische Saunen!«

Alle Infos zur Tour

Tourenbeschreibung

Die Rundtour führt vom Ski-Resort Ruka durch eine leicht hügelige Wald- und Seenlandschaft in einem weiten Bogen wieder zum Ausgangspunkt in Ruka zurück. Unterwegs spielt die Natur die Hauptrolle, man kann in Seen baden, im Wald picknicken oder sogar übernachten und dabei die hellen Polarnächte genießen. Es handelt sich um keine beschilderte Route, daher sind Kartenmaterial, Proviant ein funktionierendes GPS und die wichtigsten Werkzeuge essenziell. Von Ruka bis Isokenkäisten Klubi sind es 50 Kilometer. Von Isokenkäisten Klubi zurück nach Ruka kann man auf einer 44 Kilometer lange Route radeln

Übernachten

Das Magical Pond Igloo Village in Rukatunturi besteht aus 20 individuellen, verglasten Holziglus, die mitten im Nadelwald an einem kleinen See liegen. In der Nacht kann man den Sternenhimmel und mit etwas Glück sogar Polarlichter sehen. Jedes Iglu hat seine kleine Küchenzeile, im Haupthaus gibt es eine Sauna sowie ein erstklassiges, nordisches Frühstück.
 magicalpond.com

Isokenkäisten Klubi liegt inmitten der Wildnis und verfügt über drei Blockhütten für 6-10 Personen, ein Quartier mit acht Doppelzimmer sowie zwei auf dem See schwimmenden Iglus mit eigenem Steg. Besonders empfehlenswert ist die Rauchsauna, weitere angebotene Aktivitäten sind etwas Huskywanderungen, Bärenbeobachtung oder kulinarische Abende. ikki.fi/en 

Rund 130 individuelle Cottages und Apartments für Selbstversorger rund um Ruka, die meisten mit eigener Sauna, vermietet der Anbieter Rukako Oy. 
rukako.fi/en

Essen und Trinken 

Riipisen

Das Riipisen Restaurant in Ruka ist berühmt für seine nordischen Wildspezialitäten. Besonders empfehlenswert: Das Rentier-Filet mit Wurzelgemüse & Blaubeerjus, die Waldpilz-Cremesuppe oder das Elch-Carpaccio. 
riistaravintola.fi/en

Pizzeria Ruka 
Einen nordischen Twist – etwa mit Lachs, Rentier, Pfifferlingen oder Moltebeeren – verleiht die zu Recht gepriesene Pizzeria Ruka der beliebten italienischen Spezialität aus dem Holzbackofen. pizzeriaruka.fi

Wild Out Finland

Absolutes Highlight: Ein Ausflug mit Wild Out Finland zum Lunch inmitten der Natur. Der gelernte Koch Tomasz zaubert mit allem was der Wald und die nahe Umgebung hergeben am offenen Feuer ein fantastisches Drei-Gänge-Menü und setzt damit auch ein Zeichen gegen Food Waste. Seine Partnerin Tessa leitet Gäste beim Bau von Vogelhäuschen an, die im Anschluss gemeinsam aufgehängt werden. 
wildout.fi

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