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Autark zum Horizont – Vier Freunde auf Wandermission quer durch Island

Fuß vor Fuß mit grünem Abdruck. Vier Freunde durchqueren Island samt komplettem Proviant auf dem Rücken und eigener Stromerzeugung. Ein Tagebuch über tückische Hindernisse und neue Erkenntnisse.

PROLOG

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Vom nördlichsten zum südlichsten Festlandpunkt auf Island mit einer Mission – Wendelin, André, Julian und ich, Umweltingenieure aus Karlsruhe, wollen nicht nur 579 Kilometer wandern, sondern auch unsere gesamten Lebensmittel aus einem regionalen Biomarkt, eine tragbare Wasserturbine und eine Fotovoltaikzelle für die kommenden 27 Tage in unseren Rucksäcken befördern, um auf der Tour gänzlich unabhängig zu sein. Mit dem Abenteuer, dessen CO2-Bilanz wir so gering wie möglich halten wollen, stellen wir uns einer Heraus- forderung, die unsere ganze Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt fordert. Wir wollen außerdem mehr Menschen für nachhaltiges Reisen und erneuerbare Energien sensibilisieren.

TAG 0 – 4. AUGUST, 0:34 UHR
Wir stehen bei meinem Kumpel Mathew im Wohnzimmer in Reykjavík und packen die letzten Sachen. Morgen soll es losgehen – nach einem halben Jahr Planung und Vorbereitung. Als letzte Aktion flitzen wir ins örtliche Schwimmbad, um dort die Waagen zu nutzen: 33 Kilo ist das Durchschnittsgewicht unserer Rucksäcke, davon 2 Kilogramm Wasser, 14,5 Kilogramm Ausrüstung und 16,5 Kilogramm Essen. Leichte Anspannung liegt in der Luft. Wir sind zuversichtlich, dass wir das Vorhaben meistern können – die Frage ist nur, auf welche Art und Weise und mit welchen Hindernissen.

TAG 1 – 5. AUGUST, 13:44 UHR
Rifstangi, 66° 32’ 15.4” Nord 16° 11’ 43.3” West – der nördlichste Festlandpunkt Islands. Die Temperatur liegt bei 7 °C. Aus Reykjavík sind wir nach hier oben in den Norden CO2-neutral getrampt. Aus Süden kommt konstanter Wind, der die Nase zum Laufen bringt. Zahlreiche Steinhügel erschweren das Gehen querfeldein massiv. Nach anstrengenden 13 Kilometern bauen wir erschöpft unsere Zelte auf. Zum Abendessen gönnen wir uns Kartoffelbrei, bevor wir in unsere Schlafsäcke kriechen.

Sind es nicht genau diese Momente, für die wir diese Reise wagen?

TAG 2 – 6. AUGUST, 14:30 UHR
Nach 12 Stunden Schlaf schauen wir verdutzt: Unsere Körper haben es wohl gebraucht. Die ersten Kilometer gestern hatten es in sich. Auch heute können wir kaum länger als 30 Minuten am Stück laufen, ohne die schweren Rucksäcke zwischendurch abzusetzen.

TAG 5 – 9. AUGUST, 18:03 UHR
Die Bäche, die wir bislang passierten, waren zu flach, aber am gestrigen Tage haben wir im ersten tiefen Fluss aufgeregt unsere Wasserturbine verankert. Leider mussten wir fesstellen, dass sie nicht richtig lädt und einen Wackelkontakt hat. Wir sind enttäuscht. Nach drei Tagen Dauerregen haben wir immerhin unsere Ponchos zu schätzen gelernt. Oft haben wir die gesamte Pause sitzend und schmatzend darunter verbracht. Heidelbeeren, die hier überall wachsen, schaufeln wir mit großem Appetit in uns hinein. Am Abend reißt der Himmel auf. Schnell stapfen wir an die höchste Stelle der Umgebung und erleben einen Son- nenuntergang mit Sicht auf den Canyon des Jökulsá – einem der größten Flüsse Islands – und der Grönlandsee. Nach Tagen voller Nässe hier zu stehen und das warme Licht zu spüren, zeigt, dass die Anstrengungen alle Mühe wert waren. Sind es nicht genau diese Momente, für die wir diese Reise wagen? Wir saugen die grüne Landschaft auf, wissend, dass der Weg bald ins karge Hochland führt.

TAG 6 – 10. AUGUST, 20:18 UHR
Bei strahlendem Sonnenschein auf einer weiten Ebene erwacht, holen wir schnell unsere Fotovoltaikzelle hervor, um unseren ersten eigenen Strom zu erzeugen und die Akkus zu laden. Während unseres extra dafür ausgedehnten Frühstücks schafft es die Anlage auf ganze zehn Watt. Gut zu wissen, dass wir diese Alternative zur Wasserturbine im Gepäck haben. Am Abend zieht Wendelin seine irische Flöte aus dem Rucksack und fängt an, ruhig darauf zu spielen. Wir genießen die Stille, klare Luft und Viersamkeit in vollen Zügen.

Auf ihrer Tour wandern die Jungs täglich von Horizont zu Horizont und sind immer wieder beeindruckt von den Weiten des kargen Hochlandes mit seinen magischen Sonnenuntergängen.

TAG 8 – 12. AUGUST, 13 UHR
Ein schwerer Tag liegt vor uns. Julian muss sich heute von uns trennen. Seine Knieprobleme sind zu groß, als dass er den Weg ins Hochland auf sich nehmen kann. Am See Mývatn, den wir heute erreichen, gibt es die letzte Option aufzuhören. Danach werden wir keine Straßen mehr kreuzen. So trotten wir in der prallen Sonne der Trennung entgegen.

TAG 9 – 13. AUGUST, 19:38 UHR
Nach dem Abschied von Julian verlassen wir den Mývatn und steigen zu dritt auf in Rich- tung Hochland. Es wird zunehmend karger. Nur noch vereinzelt schaut etwas Moos oder eine kleine Pflanze aus dem Boden. Von unserem Hochlandzeltplatz blicken wir andächtig auf den roten Nachthimmel im Nor- den zurück und stellen fest, dass wir an einem Tag von Horizont zu Horizont gelaufen sind.

Der zerklüftete Lava- Asche-Boden ist scharf wie Glasscherben.

TAG 10 – 14. AUGUST, 16:44 UHR
Wir balancieren durch das Lavafeld Ódáðahraun. Scharfkantige, wackelige Steine, auf deren Halt wir uns beim Aufsetzen unserer Schuhe nicht verlassen können, lassen uns jeden Schritt gut überlegen. Immer noch tragen wir gute 30 Kilogramm auf dem Rücken. Vielleicht steht es für das Motto unserer Reise: Bewusst bei dem sein, was wir gerade tun.

TAG 11 – 15. AUGUST, 17:08 UHR
Der Weg führt vorbei an dem Vulkan Askja und damit höher hinauf in kältere Gegenden, in denen wir große Schneefelder passieren. Unsere anfängliche Illusion einer flachen, gut begehbaren Gesteinsfläche ist verflogen. Kein Wunder, dass die NASA diesen Ort zur Vorbe- reitung auf die erste Mondlandung auswählte. Der zerklüftete Lava-Asche-Boden ist scharf wie Glasscherben. André bewegt sich vorsichtig auf Knien über die Isomatte ins Zelt, das er in keinem Fall zerschlitzen will. So etwas haben wir nicht kommen sehen.

TAG 13 – 17. AUGUST, 16:03 UHR
Endlich haben wir den Vatnajökull erreicht, Islands größten Gletscher der acht Prozent der Landesfläche bedeckt und einen Meilenstein markiert: Der mächtige Berg liegt etwa auf der Mitte der Gesamtstrecke. Tagelang war er immer wieder in der Ferne zu sehen. Nun stehen wir davor und fühlen uns klein und unscheinbar. Wir blicken auf Ascheberge. Nur weiter oben strahlt seine Kuppe in kristall- klarem Weiß. Wir sind fasziniert und traurig zugleich, denn wir Menschen sind gerade dabei dafür zu sorgen, dass dieser Gletscher immer kleiner wird. Zu seinen Füßen wird uns einmal mehr bewusst, dass es in der Verantwortung unserer Generation liegt, genau jetzt Lösungen zur Bewältigung der Klimakrise zu finden.

Die Wasserturbine eignet sich wider Erwarten (noch) nicht für den Gebrauch in Gletscherflüssen, denn der Sand lässt sie blockieren. Aber ein Versuch war es wert und ist ein Ansporn für die Weiterentwicklung in der Zukunft.

TAG 16 – 20. AUGUST, 21:30 UHR
Vor uns erstreckt sich eine Ebene, in der hellgrau, lehmig und milchig kleine Rinnsale fließen. Ist dies ein Vorgeschmack auf die Gletscherflüsse, die wir in den kommenden Tagen durchwaten müsseen? Auf der ersten Flussdurchquerung entlang des Gletschers holen wir uns jedenfalls schon einmal nasse Füße und laufen den ganzen Tag mit feuchtem Schuhwerk weiter. Als wir über einen Pass treten, blicken wir auf die beeindruckende Wass- erscheide Islands. Erneut versuchen wir heute, die Wasserturbine zu platzieren. In kürzester Zeit müssen wir feststellen, dass sich neben ihres Wackelkontaktes noch ein weiteres Pro- blem auftut. Der Sand, den die Gletscherflüsse mitführen, setzt der Turbine derart zu, dass sie blockiert. Am Abend aber sind die Unannehmlichkeiten des Tages – in einer heißen Quelle liegend und mit Gesang und Flöte darin musizierend – vergessen. Es klingt sicher schief, aber niemand ist da, den es stört.

TAG 19 – 23. AUGUST, 14:23 UHR
Der Wecker klingelt um 4:45 Uhr. Wir wachen auf und hoffen, dass der Fluss unmittelbar vor uns nun passierbar ist – am Abend war das noch nicht der Fall. Uns war keine andere Wahl geblieben, als direkt am Ufer zu zelten und abzuwarten, denn nachts schmilzt weniger Gletschereis. Ein Stein, der gestern noch von Wasser bedeckt war und heute frei liegt, zeigt, dass wir es versuchen können. An einer Stelle mit einer Sandbank in der Mitte beginnen wir die Querung. Schritt für Schritt tasten wir uns durch eisiges Gletscherwasser, das an den Waden schmerzt. Die letzten Schritte legen wir mit vor Kälte tauben Füßen besonders vorsichtig zurück, bevor wir nach unendlich langen drei Minuten am Ziel sind. Kurz darauf kündigt sich der Fluss Sylgja mit immer laute- rem Rauschen an. Nach längerem Suchen fin- den wir eine halbwegs passable Stelle unter- halb eines Wasserfalls. Mir sprudelt das Was- ser den Bauch hoch und ich kann dem Druck kaum standhalten. Gut, dass André da ist – er gibt mir den rettenden Tipp, zwei kräftige Schritte gegen die Strömung zu machen. Am anderen Ufer kramen wir hektisch die Ersatzunterhosen aus dem Gepäck.

TAG 20 – 24. AUGUST, 14 UHR
Als wir den See Langisjór erreichen, spüren wir plötzlich weiches Moos unter unseren Wanderstiefeln. In diesem Moment ist keine Absprache nötig: In wortloser Übereinstimmung legen wir uns hin – alle viere von uns gestreckt auf dem ersten weichen Untergrund seit zehn Tagen und halten einen ausgedehnten Mittagsschlaf. Nie hätten wir gedacht, dass wir uns einmal so sehr über eine Kleinigkeit wie Moos freuen würden

TAG 24 – 28. AUGUST, 15:28 UHR Mittlerweile laufen wir seit 24 Tagen, als sich die Sicht vor uns öffnet und der Mýrdalsjökull – der zweite große Gletscher und Meilenstein unserer Durchquerung – vor uns liegt. Farblich übertrifft die Landschaft alles, was wir zuvor gesehen haben. Das Gletschereis strahlt titanweiß unter dem blauen Himmel. Davor liegt eine große Ebene, in der sich schwarzer Sand und schimmerndes Grün abwechseln, gespickt von markanten Bergkuppen und einzeln stehenden Kegeln wie dem Mælifell mit grauer Spitze und grünem Umhang. Schönwetterwolken werfen ein bezauberndes Schattenspiel auf die Landschaft, durch die einzelne Flüsse silbrigglitzernd hindurchstreifen.

TAG 27 – 31. AUGUST, 17:43 UHR
Kötlutangi, 63° 23’ 42“ Nord 18° 43‘ 49“ West, südlichster Festlandpunkt Islands, etwa 7 °C Lufttemperatur, stürmischer Wind aus südli- cher Richtung und unsere Nasen laufen – noch immer. Als wir die Ringstraße überqueren, werden wir auf einen Schlag wieder mit vielen Menschen und der Geschwindigkeit der rest- lichen Welt konfrontiert. Touristen rasen in Mietautos vorbei, um ihr Sightseeing-Programm abzuspulen. Die letzten Kilometer legen wir auf Asphalt zurück. Es ist geschafft. Endlich oder schon? Wir verfalllen in Flüche und Lobeshymnen. Als letzte, sicher nerdige Tat, bevor wir wieder nach Reykjavík zurück- trampen, wiegen wir unseren Verpackungsmüll und uns selbst in einem öffentlichen Schwimmbad: 1 774 Gramm Abfall und eine Gewichtsreduktion von 21 Kilogramm (alle vier zusammen) sind nach 27 Tagen zu verzeichnen.

EPILOG

Die tägliche Wanderung bis zum Horizont hat unseren eigenen Horizont erweitert. Unabhängig mit allem, was wir zum Überleben benötigen, unterwegs zu sein und die Möglichkeit zu haben, eigenen Strom zu erzeugen, ist sicher nicht immer einfach, aber schenkt einem absolute Freiheit. Vielleicht ist diese Tour ein Anfang, um viele Menschen nach uns dazu zu inspirieren, bewusster zu reisen. Und wer weiß, womöglich ist ja schon bald jemand mit Strom aus einer – dann weiterentwickelten – Wasserturbine unterwegs? Wir konnten die Kraft, die in der Natur steckt, immer wieder spüren. Das Wagnis einzugehen und loszuwandern, um etwas zu bewegen, ist ein Abenteuer, das uns zu auch uns selbst geführt hat.

Gepäck und Kompensation

Beispiel-Tagesproviant pro Kopf

Frühstück: Müsli mit 25 Bestandteilen, u.a. Haferflocken, Nussmehl und Trockenfrüchte (200 g) – ca. 1 000 kcal
Snacks: Nusscreme (87,5 g), Salami, Studentenfutter, Käse, Müsliriegel (je 50 g), Schokolade (25 g) – ca. 1 500 kcal 

Abendessen: 1 Packung Ramen-Nudeln (65 g) mit Couscous (55 g), alternativ Kartoffelbrei – ca. 500 kcal

Geheime Extrapacktipps: Kleines Buch & Bleistift (125 g), Flachmann (135 g), irische Flöte – für die Stimmung (50 g), Nylonstrümpfe – gegen Blasen (15 g), Notfall-Set mit Sicherheitsnadeln, Rucksackschnalle, Nadel und Faden, Schnürsenkel (auch als Gürtel), Isomattenflickset (insgesamt 310 g)

Nachhaltiges Reisen: Die Flüge nach Reykjavík und die Bootsfahrt zurück wurden über die Stiftung myclimate klimakompensiert.

Mehr Infos zur Tourplanung, zu Packlisten und Kompensation: missioniceland.com, myclimate.org

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