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Die längste Reise

Der nördlichste Pilgerweg der Welt ist zu neuem Leben erwacht. Eine Tour auf dem schwedischen St. Olavsleden lässt uns das gehypte Phänomen verstehen und wird zum Trip durch äußere und innere Welten.

Es fühlt sich an, als ob das fröhliche Planschen des Otters Millionen Jahre der Stille durchbricht. Der kleine Kopf sieht sich ein letztes Mal um bevor er abtaucht und die Wasseroberfläche wieder glänzend hinterlässt. Genau hier sieht der Fluss aus wie ein schwarzer See, umrahmt von tiefen Nadelwäldern. Langsam senke ich meine nackten pochenden Füße und lasse sie von der Dunkelheit verschlucken. Das Wasser reißt an der Haut, die Zehen erstarren. Ich erlaube der Kälte des Flusses, mir kurz den Atem zu rauben. Es kribbelt, als die Hitze zurückkehrt und die Füße dankbar wieder in die Stiefel gleiten.

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Der Kies knistert und nutzt die Stiefelsohlen Schritt für Schritt ab.

Wir haben noch viele Kilometer vor uns. Vom Flussufer geht es zurück auf den Wanderweg. Wir gehen an mehreren Häusern vorbei und laufen oft auf Schotterwegen oder Asphalt. Der Fluss Ljungan ist unser ständiger Begleiter, sich windend und dunkel, mal direkt nebenan, mal außer Sichtweite. Emma und ich sind irgendwo auf der zweiten Etappe des St. Olavsleden. Mit anderen Worten, wir befinden uns erst in den Startlöchern dieses alten Pilgerwegs – tatsächlich dem nördlichsten der Welt –, der sich über 580 Kilometer zwischen Selånger vor den Toren von Sundsvall und Trondheim in Norwegen erstreckt. Doch eigentlich beginnt unsere Wanderung schon einen Tag früher, bei der alten Kirchenruine von Selånger. Nur einen Steinwurf von ihr entfernt liegt das neue Pilgerzentrum. Hier können sich Wanderer über den Weg informieren und auf eine Tour in den Fußstapfen vieler pilgernder Vorgänger starten.

König, Plünderer und Heiliger

Pilgern als Phänomen gewann im Mittelalter in Europa an großer Bedeutung – als sich viele, geleitet von ihrem religiösen Glauben, in Scharen zu heiligen Stätten begaben wie hier auf dem St. Olavsleden, wo wir in den Fußstapfen von Olav Haraldsson wandern. Seine Geschichte ist kontrastreich: Er war der erste König Norwegens, dann erfolgreich plündernder Wikinger – und schliesslich Heiliger. Nach zwei Jahren im Exil segelte er 1030 nach Selånger und begann seine Reise nach Norwegen, um die Macht als König wiederzuerlangen. Olav fiel in Stiklestad, aber seine sterblichen Überreste wurden nach Trondheim gebracht und der Nidarosdom wurde ihm zu Ehren über seinem Grab errichtet. Nach seinem Tod heilig- gesprochen erlangte er schnell Berühmtheit. Seit Jahrhunderten ist seine Grabstätte eines der wichtigsten Ziele christlicher Pilger.

In den vergangenen Jahren hat der St. Olavsleden einen regelrechten Hype erfahren. Putte Eby glaubt zu wissen, warum. Er hat sich mit Herz und Seele der Sanierung des Trails gewidmet – ein Projekt, das 2012 startete. »Mein Ziel ist es, Wandernde möglichst täglich daran zu erinnern, dass sie den Spuren Olavs folgen, indem sie jeden Tag entweder an einer Quelle vorbeikommen oder eine mittelalterliche Kirche oder ähnliches passieren. Nicht weil der moderne Pilger per Definition christlich ist, sondern weil es immer ein inneres Ziel für das Beschreiten dieses Weges gibt, dem sich im historischen Kontext genähert wird «, sagt er.

Heute gibt es so viele Pilgergründe, wiees Wanderer gibt. Putte meint, dass das Interesse sicher teilweise auf einen Wandertrend zurückzuführen ist. In Schweden nehmen mehr Menschen denn je klassische Bergpfade wie den Kungsleden und das Jämtland-Dreieck in Angriff. Diese sind jedoch ganz anders als eine Wallfahrt. »Der St. Olavsleden unterscheidet sich von Fernwanderwegen wie dem Sörmlandsleden auch insofern, als dass der Pilgernde hier ein klares Ziel vor Augen hat, in diesem Fall den Nidarosdom, während sich der Sörmlandsleden zwischen Aussichtspunkten und Badestellen umherschlängelt. Auf dem St. Olavsleden hat der Wandernde immer das Gefühl, auf geradem Wege nach Trondheim zu sein«, erklärt Putte. Pilgernde erlangen auf diesem Wege also auch Einblicke in Städte und Gemeinden.

Beim Pilgern steht die Einfachheit im Mittelpunkt. Der Weg ist gut begehbar und erfordert keine Vorkenntnisse oder teure Ausrüstung. Es ist unkompliziert, vielleicht nur, um die innerliche Reise zu vereinfachen. »Pilgernde suchen vor allem nach zusätzlichen inneren Dimensionen«, meint Putte.

Während der spanische Pilgerweg Camino de Santiago 2019 über 300 000 Wanderer anzog, wanderten auf dem. St. Olavsleden im gleichen Jahr rund 700 Personen. Im Vergleich eine bescheidene Zahl, aber dennoch etwas, worauf man stolz sein kann. Als Putte seine Arbeit aufnahm, waren die Zahlen durchaus bescheidener: 2012 waren nur fünf Menschen unterwegs. Als Putte den Weg begann auszu- bauen, musste er einige Strecken neu ziehen. Es wurde zu einer Herausforderung, die Autobahn E14 und Bahngleise zu vermeiden, auch wenn Olav vor 1 000 Jahren genau hier unterwegs war.

Pilgernde suchen vor allem nach zusätzlichen inneren Dimensionen.

Käsebrötchen und Länderfähnchen

Das Beschreiten eines Pfades, den unzählig viele Füße seit Tausenden von Jahren beschrit- ten haben, gibt uns das Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein. Wenn andere vor uns hier ihre Antworten gefunden haben, ist es uns vielleicht ebenfalls möglich?

Ein paar Kilometer außerhalb von Selånger bemerken wir ein Schild, das Pilgernde in Gisselåsen willkommen heißt. Neben Kaffee und Käsebrötchen bieten Tommy Nordvall und seine Frau Sigrid hier auch einen Stempel für den Pilgerpass an, für den man am Ende ein Pilgerdiplom erhält. Seit einigen Jahren interviewt Tommy jeden Wanderer, der vorbeikommt. Stolz zeigt er die Statistiken und überfüllten Fotoalben. Pilgerer aus aller Welt lächeln uns von den Bildern entgegen und schwenken ihre Fahnen. Das Paar hat Flaggen aus 40 verschiedenen Ländern gekauft, damit sich alle willkommen fühlen.

»Seit dem Start 2014 hatten wir 1 005 Pil- gerbesuche. 555 Frauen, 450 Männer, 119 Radfahrer, 30 Hunde und 4 Pferde. Insgesamt 46 verschiedene Nationalitäten«, zählt Tommy auf. Ich vermute, er hat Statistiken, die für mehrere Tage Kaffee auf der Veranda reichen. »Die ältesten, die hier pilgerten, waren zwei über 80-jährige Frauen«, kichert Tommy und schließt die Augen, während er ihre Geschichte erzählt. Er selbst ist den Trail viermal gegangen.

Bald ist es Zeit, weiterzugehen. Der Kies knistert und nutzt die Stiefelsohlen Schritt für Schritt ab. Der Wald ist dicht gespickt mit dunkelgrünen Fichten, die sich sanft im Wind wiegen. Etwas außerhalb von Matfors sprudelt die erste Quelle. Der Auftakt zu vielen weiteren Wasserläufen, die sich entlang des Pfades wie an einer Perlenkette bis nach Trondheim aufreihen. Der Legende nach war es Olav, der seinen Stab in den Boden stieß und die Quelle zum Sprudeln brachte. Es wird gesagt, dass ihr Wasser so heilsam war, dass die Menschen ihre Stöcke und Krücken fortan nicht mehr benötigten und in die Bäume rund um die Quelle hängten. Vielleicht heilt der Pfad heute etwas anderes? Gebrochene Herzen und trauernde Schritte? Was ist es genau, das einen Menschen des 21. Jahrhunderts dazu bringt,
zu heiligen Orten zu gehen?

Es ist eine Art Therapiearbeit, die während des Pilgerns stattfindet.

Um eine genauere Antwort zu finden, habe ich mit Mats Nilsson, Dozent an der Universität Karlstad, gesprochen, der zu diesem Thema forscht. »Ich habe gesehen, dass die Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela zunimmt, obwohl die Menschen immer weltlicher werden. Als Tourismusforscher bin ich neugierig, woran das liegen könnte.« Während seiner Arbeit stellte Mats fest, dass Pilger heute selten aus religiösen Gründen wandern, sondern meist aus spirituellen. »Sie entscheiden sich, an einem Wendepunkt im Leben zu pilgern. Ich konnte sehen, dass ein Teil mit der Ausbildung fertig war und vor beruflichen Entscheidungen stand, andere hatten Kinder, die gerade von zu Hause weggezogen waren, eine dritte Gruppe war kürzlich in den Ruhestand getreten. Viele gingen in Trauer. Die Pilgerreise wurde für sie zu einer Zeit des Nachdenkens und Bewertens.«

Auch wenn man auf dem Pfad immer wieder Ortschaften mit netten Gastgebern wie Majbritt und Petrus durchquert, führen viele Kilometer auch durch herrlich stille Naturgebiete, in denen man weite Blicke genießen und Ottern beim Planschen zusehen kann.

Es ist eine Art Therapiearbeit, die während des Pilgerns stattfindet. Aber warum will man Antworten auf einem Pilgerweg finden und nicht auf einem Wanderklassiker wie dem Kungsleden? »Auf einem Pilgerweg wird nachgedacht und anders als beispielsweise bei einer Bergwanderung steht das Überleben nicht im Fokus. Ich bin davon überzeugt, dass sich viele dank der Infrastruktur für einen Pilgerweg entscheiden«, sagt Mats.

Nur gehen und gehen

Die Nacht verbringen wir in Solgården bei Majbritt und Petrus. In einer Blockhütte beher- bergen sie seit einigen Jahren Wanderer. »Das Anbieten einer Unterkunft fühlt sich sinnstiftend an«, sagen sie. An ihrem Küchentisch haben sie mit vielen gesessen und gesprochen. »Es ist fantastisch, welche Begegnungen wir erleben dürfen. Viele wandern, weil sie an einem Scheideweg stehen, das ist klar.«

Der Pilgerweg beginnt an der alten Kirchenruine von Selånger. Olav landete hier damals mit dem Segelboot an, denn seinerzeit lag der Ort noch an einer Bucht. Heute sorgt der Fluss Ljungan für die nötige Abkühlung.

Auch für Majbritt und Petrus sprechen die steigenden Besucherzahlen eine deutliche Sprache. »Der St. Olavsleden ist wiedergeboren, so ist das«, sagt Majbritt und strahlt. Wie neugeboren fühle auch ich mich in diesem Moment. Denn beim morgendlichen Schwimmen im plätschernden Ljungan unter Majbritts und Petrus Haus wecke ich meinen verspannten Körper. Umarmt von tausend scharfen Nadeln, denke ich, dass Pilgern bedeutet, sich seinen Gefühlen nackt zu zeigen. Das kann wehtun – wie die messerscharfe Kälte des Wassers auf der Haut. Und doch ist es eine Chance, neue Träume gedeihen und wachsen zu lassen. Die letzten Erinnerungen an den Alltag werden weggespült. Wenn du Tag für Tag nur gehst und gehst, wird es schließlich unmöglich, deine innere Stimme zu ignorieren – sie ist laut und braucht ihren Raum. Eine innere Reise, die längste Reise.

Ich sehne mich jetzt nach meinen Stiefeln nach all den Schritten und danach, das, was ich in der kommenden Zeit brauche, in meinem Rucksack zu tragen. Die Wanderung ist zu einer Reise zu mir selbst geworden und ich bin gespannt, wann ich ankommen werde.

St. Olavsleden

Der nördlichste Pilgerweg der Welt erstreckt sich über 580 Kilometer zwischen Selånger in der Gemeinde Sundsvall und dem norwe- gischen Trondheim. Das Durchwandern dauert in der Regel einen Monat, man kann sich aber auch ein paar Etappen für drei Tage oder eine Woche aussuchen. Selånger erreicht man ein- fach über Sundsvall mit dem Zug. Vom Bahnhof aus gibt es einen ausgeschilderten Fußmarsch von 10 Kilo- metern zum Startpunkt. Zwischen vielen Orten ent- lang des Weges verkehren Nahverkehrszüge und Bus- se, sodass problemlos auch eine Etappe in der Mitte gewandert werden kann. stolavsleden.com

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