Für die Alpenatmosphäre auf Bornholms höchstem Berg Rytterknægten (162 Meter) ist Mitch Rodel verantwortlich. Direkt neben dem Aussichtsturm Kongemindet betreibt der Schweizer mit standesgemäßem Almöhi-Bart seine urige Gipfelhütte namens »Cabin Delux«. Auf der Speisekarte findet man neben Kaffee aus der eigenen Rösterei auch Brezeln und echtes Raclette. »Näher als hier oben kann man den Alpen wohl nicht kommen«, lacht er. »Es gibt sogar eine Skipiste mit zwei Liften.« Die steht zwar wegen des milden Klimas auf der dänischen »Sonneninsel« selbst in den kalten Monaten meist still, über Gäste kann sich Mitch aber dennoch nicht beklagen.
Teil 1: Der Abenteuerwald
Der Rytterknægten und das umliegende Waldgebiet Almindingen (dt. Allmende) sind zwei der beliebtesten Ziele für aktive Inselausflüge – mit zahlreichen ausgezeichneten Wander-, Lauf- und Radwegen, geologischen Highlights wie dem zwölf Kilometer langen Spalttal Ekkodalen (dt. Echotal), Feuerstellen und Schutzhütten für die Nacht im Freien. Wir sind wegen der Mountainbike-Trails hier, die sich vom Parkplatz des Kongemindet aus durch den Wald ziehen.
Es ist die erste Station unserer einwöchigen Bornholm-Entdeckungstour. Zusammen mit einer befreundeten Familie aus Deutschland wollen wir herausfinden, was die Ferieninsel neben ihren malerischen Hafenstädtchen, feinen Sandstränden und kulinarischen Hotspots auch für aktive Naturliebhaber wie uns zu bieten hat. Nach dem Frühstück im »Basecamp«, einem dänisch-hyggeligen Ferienhaus in den Dünenwäldern von Dueodde an der Südspitze, haben wir deshalb die Räder auf das Auto gepackt und uns aufgemacht zum Rytterknægten im Landesinneren.
Insgesamt siebzehn Trails aller Schwierigkeitsgrade hat der lokale Verein Trailbuilders Bornholm zusammen mit der Naturbehörde der Insel hier geschaffen – schmale, geschwungene Bahnen, 300 Meter bis 2,2 Kilometer lang, mit steilen Kurven aus Schotter, über Felsen, Holzbrücken, Baumstämme und andere Hindernisse. Zunächst fahren wir zusammen, wärmen uns auf mit der grünen »Sneglesporet« (dt. Schneckenspur) und steigern uns dann mit der blauen »Jylkâttijn«. Dann fällt die Gruppe wegen mangelnder Geduld und unterschiedlichen Adrenalinbedarfs auseinander. Da sich die Strecken einfach kombinieren lassen und allesamt am Gipfel wieder zusammenführen ist das aber völlig unproblematisch.
Wer sich nach Action sehnt, kann hier eine Woche lang jeden Tag etwas anderes testen.
Irgend- wann haben wir alle unsere Lieblingsstrecken gefunden – vom »Citronmånen« (dt. Zitronen- mond) über den »Hammaren« (dt. der Hammer) bis zum »Mørk Guld« (dt. dunkles Gold). Mitchs Hütte wird zum Treffpunkt, an dem wir uns sammeln und zusammen essen. Tatsächlich ein bisschen wie im Skiurlaub. Glücklich, mit einigen kleinen Schrammen, aber ohne größere Schäden geht es am Nach- mittag zurück nach Dueodde. Vor dem Abend- essen laufen wir noch einmal über den Sandweg durch Wald und Dünen ans Meer, um dort in die kalten Wellen zu springen. Ein Ritual, das an keinem Tag der ganzen Woche fehlen soll.
Teil 2: Coole Klippen
Die Ankunft im Granitsteinbruch nahe des Fischerdorfes Vang fühlt sich an wie eine Szene aus einem skandinavischen Krimi. Über einen staubigen Schotterweg fahren wir vorbei an Gesteinshaufen und ausgesprengten Felswänden durch das verlassene Industrieareal, als würden wir hier unentdeckt eine Geisel übergeben wollen. Auf einem leeren Parkplatz stellen wir die Autos ab und schauen uns um. Ein Stück weiter unten im Steinbruch entdecken wir einsames Auto und eine Person, die Seile und Karabiner aus dem Kofferraum packt.
Simon Hansen ist unser Kletter-Guide von Bornholms Outdoorcenter. Das Unternehmen bietet im Grunde alle Abenteuer an, die es auf der Insel zu erleben gibt: vom Felsenklettern über Kajakexpeditionen und Unterwasserjagden bis zum Coasteering, einer Klettertour entlang der Küste inklusive Klippensprüngen ins schäumende Ostseewasser. »Bornholm ist keine klassische Outdoor-Destination«, erzählt er bei der Einführung, »aber es gibt immer mehr Gäste, die Abwechslung zum Strandleben suchen und für die unsere Angebote interessant sind. Wer sich nach Action sehnt, kann hier eine Woche lang jeden Tag etwas anderes testen.«
Der Steinbruch, in dem wir nun unsere Kletterausrüstung anlegen, hat eine ruhmreiche Historie hinter sich. Zahlreiche dänische Prachtbauten wie das Kopenhagener Nationalmuseum und das Schloss Christiansborg sind aus Vangs Granit gebaut. Seit 1996 liegt das Gelände jedoch still und dass es nicht anderweitig genutzt wurde, hatte auch mit der Natur zu tun, die sich hier schnell wieder ihren Weg bahnte.
»Direkt nachdem die großen Maschinen verschwunden sind, haben sich seltene Wanderfalken angesiedelt. Sie finden hier perfekte Lebensbedingungen: Felsnischen zum Brüten und ordentlich Beute«, erklärt Simon, während er auf die zerrupften Überreste einer Möwe zeigt. 2007 startete die Gemeinde Bornholm zusammen mit dem Verein Realdania das Projekt »Nyt liv i Vang Granitbrud« (dt. Neues Leben im Vang Granitbruch), um eine nachhaltige Nutzung des Areals zu fördern. Markierte Wege, Schutzhütten und Picknickplätze wurden errichtet. Der Pier, von dem einst die wertvollen Steinblöcke in Richtung Festland verschifft wurden, ist heute ein herrlich wilder Badeplatz. Auch die Schaffung sicherer Kletterrouten in den zersprengten Klippen war ein Teil des Entwicklungsprojekts.
Von Simon angeseilt wagen wir uns alle abwechselnd an die Felsen, suchen mit unseren Händen und Füßen nach Griffen und Tritten im gelblichen Gestein, höher und höher. Das Finale bildet eine fast senkrechte, rund dreißig Meter hohe Wand im Zentrum des Steinbruchs. Der Blick vom höchsten Absatz ist atemberaubend: Durch den mächtigen Eingang zum Steibruch, über den eine avantgardistisch geformte Brücke aus Eisen führt, scheint das blaue Meer. Seevögel gleiten auf Augenhöhe vorbei, das Herz klopft und aus der Tiefe klingen ungeduldige Kinderstimmen herauf: »Komm endlich runter! Andere wollen auch noch!«
Teil 3: Die perfekte Welle
Als Lina und Dennie Hilding mit Sack, Pack und Baby im Frühjahr 2012 von Malmö nach Bornholm zogen, empfing sie die Insel direkt am ersten Tag mit ihrer ganzen Naturgewalt. Ein Sturm jagte über die Ostsee, Blitze zuckten über den Himmel und meterhohe Wellen rollten schäumend der Küste entgegen. »Wenn man auf einem Felsen mitten im baltischen Meer wohnt, wird einem bewusst, wie klein man eigentlich ist«, weiß Dennie heute. Und doch war es gerade die mächtige Natur, die den leidenschaftlichen Wellenreiter und seine Familie an diesen Ort lockte. In den Feldern oberhalb von Gudhjem kauften die Hildings einen Bauernhof und ließen hier ihren Traum einer Surf Farm auf Bornholm wahr werden, einem entspannten, komplett ökologischen Hostel für Surfer und andere alternative Outdoor-Enthusiasten. Parallel dazu arbeiteten sie weiter in ihren »alten« Berufen, Lina als Grafikdesignerin, Dennie als Psychologe.
Auf der Surf Farm schläft man im eigenen Zelt, im einfachen Hostelzimmer oder in einem der zwei Bauwagen mit Peter-Lustig-Charme. Es gibt einen großen Gemeinschaftsraum mit WG-artiger Küche, plüschigen Sesseln und Sofas, Schirmlampen, Billardtisch und goldenen Rahmen mit Surfbildern an den Wänden. Das schön spartanische Badezimmer besteht aus einer Blechwanne mit einem wassergefüllten Emailleeimer. In der angrenzenden Scheune reihen sich Surfbretter neben Strohballen und hängen Neoprenanzüge zwischen landwirtschaftlichen Geräten. Frühstückseier kommen direkt aus dem Hühnerstall, Tomaten, Kräuter und Gemüse aus dem eigenen Gemüse- garten hinter dem Haus. »Die Einfachheit ist Teil der Philosophie«, sagt Lina. »Wir wollen einen bewussten Kontrast zum hektischen, hoch technisierten Leben der Stadt schaffen. Fokus auf das Wesentliche, weniger Ablenkung, mehr Nähe zur Natur.«
Neben der Pferdekoppel zieht sich ein Weg durch die blühenden Felder Richtung Meer, das von fast allen Plätzen der Farm aus zu sehen ist. Hier an der Nordostküste sind die Surfbedingungen für erfahrene Wellenreiter am besten – wenn der Wind richtig steht und die Wellen vom Bottni- schen Meerbusen aus mit ganzer Kraft der Insel entgegenrollen. Und wenn nicht, dann steigt man eben auf das SUP-Brett um und paddelt entspannt und stehend die steilen Klippen entlang, vorbei an Grotten, Wasserfällen und steinigen Buchten. Für unerfahrene Surfer wie uns, die wahrscheinlich niemals aus den schäumenden Wellen der Nordküste zurückkehren würden, bietet Dennie eigene Kurse an den freundlicheren Sandstränden des Südens an. Sobald die Vorhersage günstig ist, füllt er den Anhänger seines alten Geländewagens mit Brettern und fährt quer über die Insel zu den passenden Spots. »Ich melde mich einfach, wenn es so weit ist«, sagt er zum Abschied unseres Farmbesuches. »Haltet euch bereit.«
Neben der Pferdekoppel zieht sich ein Weg durch die blühenden Felder Richtung Meer.
Wir haben die Hoffnung auf einen Surftrip schon fast in Dueoddes Sand begraben, als am frühen Morgen unseres vorletzten Tages doch noch das Telefon klingelt. »Hej, hier ist Dennie. Wollt ihr noch surfen?« »Klar!« »Dann kommt so schnell wie möglich zum Strand von Boderne. Ich schicke euch die Koordinaten.« Eine Stunde später laufen wir in Neoprenanzügen mit den Brettern unter dem Arm ins Wasser. Die schulterhohen Wellen rollen gleichmäßig dem flachen Strand entgegen – perfekt für unsere Ansprüche. Wie immer sind die ersten Versuche anstrengend und frustrierend. Wir verpassen die richtigen Momente, springen zu früh oder spät aufs Board oder sind schlicht zu schlecht. Neben mir höre ich die Kinder fluchen und befürchte, dass dies wohl das kürzeste unserer Bornholm-Abenteuer wird.
»Versucht einfach, ein bisschen netter zu euch zu sein. Das ist wichtig!«, ruft der Psychologe Dennie. »Und beim Hineinpaddeln in die Welle immer einen Armzug mehr machen, als ihr eigentlich wollt«, fügt er als Surflehrer hinzu. So einfach sein Rat auch klingt, er wirkt. Konzentration und Freude kehren zurück. Immer häufiger erwischen wir den richtigen Schwung und landen mit den Füßen auf dem Brett. Immer länger werden unsere Fahrten. Wir surfen den ganzen Vormittag und reiten gleich mehrere Wellen bis ans Strandende.
Abends liege ich in meinem dänischen Bett, müde und mit schmerzenden Armen, aber auch glücklich und zufrieden über den erfolgreichen Abschluss unseres Outdoor-Triathlons auf Bornholm. Wir haben die Natur der Insel aktiv und aus verschiedenen Perspektiven erlebt – in den tiefen Wäldern des Almindingens, an den hohen Granitklippen von Vang und schließlich in den Wellen der Ostsee. Es war super. Vielfältig – und ein bisschen anstrengend. Aber morgen ist Strandtag: eine Decke in den Dünen, hier und da ein Bad zur Abkühlung, maximal eine Runde Speckbrett. Und zur Krönung: ein dänisches Softeis mit Streuseln.