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Zu Zweit mit Bike in Karelien

Zwei irische Gravelbike-Enthusiasten reisen ins finnische Karelien, um verlassene Schotterstraßen und Waldwege zu erkunden. Doch im Rückblick sind es vor allem die Menschen, die ihnen in Erinnerung bleiben.

»Singt ihr gerne?«, fragt Irja Tanskanen, eine zierliche Frau um die 50 und unser Guide im Koli-Nationalpark. Wir stehen vor einem Felsblock, der als Tempel der Stille bekannt ist. Sie sagt, dass das Volkslied von der Landschaft Kareliens im Frühling erzählt. Während Irja in einer eindringlichen Molltonart mit einer Stimme singt, die so beruhigend und hypnotisierend ist, wie man es sich an einem solchen Ort nur vorstellen kann, stehen wir leicht überwältigt von dem, was wir erleben, neben ihr. Ihre Stimme hallt eine ganze Minute lang sanft von der Felswand und den Felsbrocken um uns herum wider, während sie ein Lied über ihre Heimat singt, mit Worten, die wir nicht verstehen. »Karelien ist das Land des Singens, Lachens, Tanzens und Spielens, und ich möchte diese Kultur erhalten«, sagt sie. Und – denke ich nach vier Tagen im Radsattel – auch ein Land der tollen Schotterstraßen.

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Der Geschichte auf der Spur

Der rebellische Akt, mit dem Bike abseits ausgetretener Pfade und an Orten zu fahren, die nicht dafür vorgesehen sind, ist kein neues Phänomen. Bereits in den 1950er Jahren begannen Radsportvereine damit, auch unweg sames Gelände zu erobern. Gravel Biking und Bikepacking erlebten in den letzten Jahren ein Revival, als sie in den sozialen Medien zum Trend wurden und neue Reiseziele entdeckt oder vielmehr wiederentdeckt werden. George und ich haben zusammen studiert und in Dublin gelebt. Jetzt wohnt George in Berlin und ich in Vaasa. Seither versuchen wir, mindestens ein paar Mal im Jahr gemeinsam zu radeln. Dieses Mal planen wir fünf Tage in der finnischen Region Nordkarelien.

Mit 23000 m2, von denen 70 % bewaldet sind, ist es die östlichste Gegend Kontinentaleuropas mit einer 300 Kilometer langen Grenze zu Russland. Als wir gegen Mittag mit dem Zug in dem kleinen Städtchen Lieksa ankommen, füllen wir im Lebensmittelladen zunächst unsere Vorräte auf. Der geplanten Route nach werden wir drei Tage lang an keinem anderen Geschäft vorbeikommen. Später statten wir dem Freilichtmuseum einen Besuch ab, das eine Sammlung alter Bauernhöfe aus 300 Jahren nordkarelischer Geschichte beherbergt, die alle an ihrem ursprünglichen Standort abgebaut und dann hier im Museum wieder aufgebaut wurden. In den Häusern riecht es noch immer nach den Feuerstellen, die unzählige bittere Winter überdauert haben müssen.

Wir stehen vor einem großen Felsblock, dem Tempel der Stille.

An diesem Tag liegen nur 30 Kilometer auf dem Rad vor uns. Die Hügel außerhalb von Lieksa sind zwar nicht übermäßig dramatisch, kommen allerdings ein wenig überraschend. Das Gewicht unserer bepackten Räder und die Tatsache, dass wir gezwungen sind, mit niedrigeren Gängen zu fahren, lassen uns langsamer vorankommen als erwartet. Am späten Nachmittag erreichen wir Jongunjoen Matkailu, ein kleines Paradies, das Jarkko und seiner Frau Victoria gehört. Es besteht aus einem Haupthaus mit Blick auf eine Seenlandschaft und vielen kleinen Hütten. Jarkko, der noch seine Küchenschürze trägt, kommt heraus und fragt uns, ob wir zuerst essen oder in die Sauna gehen wollen. Wir entscheiden uns für Letzteres. Die Sauna steht direkt am See und wir lassen uns nieder. Ich spüre, wie der Tag aus meinen Muskeln schmilzt, während ich an einem hausgemachten Saft aus Preiselbeeren und Minze nippe.

Mehr als Bären und Radler?

»Hey, was stand da gerade auf dem Schild?«, fragt George am nächsten Tag in einem besorgten Ton. »Ich bin mir nicht sicher«, antworte ich mit so lässiger Stimme wie nur möglich. »Ich spreche kein Finnisch.« Doch das Bild auf dem Schild lässt wenig Hoffnung: »Vorsicht vor Bären in der Gegend.« Wir sind gerade auf der Suche nach einem Windschutz, nachdem wir fast 70 Kilometer über einige der hügeligsten Strecken der bisherigen Tour geradelt sind. Die Abenddämmerung färbt sich bereits in ein tiefes Marineblau, und die Wälder beginnen sich bedrohlich anzufühlen. Nach einigen erfolglosen Erkundungen und mehr als einem »Ist das ein Bär?«-Gefühl, ist es Zeit für Plan B.

Das Bild auf dem Schild lässt wenig Hoffnung: »Vorsicht vor Bären in der Gegend.«

Wir rufen im Wildtierbeobachtungszentrum Erä-Eero an, das wir am nächsten Morgen besuchen wollten. Der Betreiber Eero hat ein paar Hütten auf seinem Land, in denen wir gerne übernachten dürfen. Im Dunkeln packen wir unsere Ausrüstung aus, essen Nudeln und schlafen volle acht Stunden lang selig. Als wir aufwachen, befinden wir uns in einem verwunschenen Dorf, das um 1700 zurückgelassen worden ist. Das tief im Wald gelegene Anwesen befindet sich neben einem Bach, an dem auch eine riesige Blockhütte thront, die auf den Außenterrassen vollständig mit alten Wurzeln überwuchert ist. Im Inneren zieren Werkzeuge und Fotos der lokalen Tierwelt die Wände. Beim Frühstück unterhalten wir uns mit Eero, der 71 Jahre alt und Urgestein des Erä-Eero ist. Mit etwas Geduld besteht die Möglichkeit, einige der wilden Tiere Finnlands wie Braunbären, Wölfe und Vielfraße in ihrem natürlichen Lebensraum zu beobachten, erklärt er uns. Und – ich erhasche tatsächlich einen Blick auf einen Vielfraß vor dem Fenster.

Auf der Fähre in Richtung Koli

Heute müssen wir uns auf den Weg machen, um eine 40 Kilometer entfernte Fähre zu nehmen, die uns in den Koli-Nationalpark bringen wird. Zum Glück geht es nach Vuonislahti größtenteils bergab – durch eine wunderschöne Landschaft mit Wäldern und vielen Bauernhöfen. Es ist ein warmer und heller Tag, und die Fährüberfahrt verläuft ruhig. In Koli füllen wir unsere Vorräte auf, bevor wir im Restaurant Kolin Ryynänen eine köstliche Mahlzeit und lokal gebrauten Apfelwein zu uns nehmen. In dieser Nacht schlagen wir unsere Zelte auf dem Koli Campingplatz auf. Die Sauna, eine kleine Hütte am Strand, genießen wir in vollen Zügen. Wir tauchen unsere müden Körper in den Dampf und nehmen ein Nachtbad, bevor wir uns zur Erholung zurückziehen.

Umrankte Holzhütten in verlassenen Dörfern mitten im Wald – die Gegend Kareliens wirkt beinahe surreal, wie aus einer Sage entsprungen.

Am vierten Tag planen wir eine Wanderung im Koli-Nationalpark. Doch der Tag startet wenig vielversprechend. George wacht mit dem Gesicht eines Boxers auf. Die Moskitos haben sich in der Nacht an ihm gütlich getan und seine irische Haut reagiert darauf. Im Nachhinein betrachtet war die doppelte Dosis Antihistaminika wahrscheinlich keine gute Idee. Die Nebenwirkungen führen dazu, dassvGeorge Mühe hat, im Sattel wach zu bleiben, während wir die Hügel von Koli in Angriff nehmen. Die Straße, die zum Besucherzentrum hinaufführt, zwingt uns zu vielen Pausen. Doch letztendlich schaffen wir es und werden von Irja, unserer Wanderbegleitung, begrüßt, die uns mit einer Tüte Pfifferlinge erwartet. Wir versichern ihr, dass wir die Pilze zum Abendessen genießen werden.

Wunderschöne Ausblicke über stille, mit Inseln gespickte Gewässer und grüne Baumwipfel eröffnet die Wanderung durch den Koli Nationalpark.

Über die Felshügel wandernd, haben wir einen herrlichen Blick auf die bewaldete Landschaft. Wir schauen auf den See hinunter, den wir am Vortag mit der Fähre überquert haben, während Irja die Inseln benennt, die auf dem windigen Wasser verstreut sind.

Wir schauen auf den See hinunter, den wir am Vortag mit der Fähre überquert haben.

Nach ein paar Stunden fahren wir weiter zum Ziel des Abends. Die Straße führt in südlicher Richtung um den See, bevor sie über tiefe Waldwege nach Westen abzweigt. Wir übernachten auf dem Glampingplatz Venejoen Piilo. Als wir am späten Nachmittag ankommen, werden wir von den Besitzern Terhi und Ville begrüßt, die das Abendessen bereits auf der Terrasse über dem Feuer zubereitet haben. Nach einer köstlichen Lachssuppe und Pfifferlingen auf Brot lassen wir den Abend mit unseren Gastgebern bei ein paar Bieren am Feuer ausklingen. Es ist ein seltsames Gefühl, wenn man bedenkt, dass wir dieses Paar erst wenige Stunden zuvor kennengelernt haben. Nach einem Gang in die Wildnissauna übernachtet jeder von uns in seiner eigenen Hütte, die mit einem kleinen Schreibtisch und einem großen, bequemen Bett ausgestattet ist. Die Rückwand der Hütte ist aus Glas und bietet einen ruhigen Blick auf den Birkenwald.

Vorerst Abschied nehmen

Wir brechen früh auf und fahren ins 40 Kilometer entfernte Joensuu, um unseren Zug zurück nach Helsinki zu nehmen. Ich habe mich allmählich daran gewöhnt, den Sattel jeden Morgen unter mir zu haben, und kann kaum glauben, dass dieses Abenteuer so bald zu Ende sein soll. Als ich mittags im Zug sitze, sehne ich mich bereits nach der langsameren Art des Reisens, die wir gerade hinter uns gelassen haben. Und zu meiner Überraschung ist es nicht das Radfahren, an das ich am meisten denke. Es ist der Reichtum der Gespräche mit den Menschen, die wir getroffen haben. George und ich haben den Kontakt zu den Leuten hier als äußerst bereichernd für unsere Reise empfunden. Wir sind uns einig, dass wir die scheinbar unendliche Weite der Wildnis am Rande Europas irgendwann wieder besuchen werden – und die Menschen, die hier leben und von der Liebe zu ihrer Heimat singen.

Auf endlosen und menschenleeren Schotterwegen geht es für Padraig und George durch Ostkarelien.

4 finnische Abenteuertipps von Padraig

1. Auf dem Drahtesel rund um Helsinki

Es gibt ein wunderbares Netz an Radwegen rund um Helsinki. Eine reizvolle Kombination aus Küstenblicken, Waldwegen und Möglichkeiten für Saunagänge in der Wildnis.
bikeland.fi

2. Biken auf dem Mustasaari-Radweg

Route zu den ostbottnischen Schären in Svedjehamn. Dieses Weltkulturerbe ist ein großartiger Ort, um die besten Küstenlandschaften Finnlands zu erleben. Entlang des Weges gibt es zahlreiche Campingplätze und Sehenswürdigkeiten.
mustasaari.fi

3. Paddeln im Kolovesi-Nationalpark

Ein absolutes Paradies mit Hunderten von Kilometern an Seen umgeben das Gebiet, in dem man fantastisch Kanu fahren kann. Die Zeltplätze sind über die Inseln und Strände verstreut.
nationalparks.fi

4. Zelten und Nordlichter bestaunen in Rovaniemi

Alles von Langlauf über Hundeschlittenfahrten und Eisfi schen kann man hier erleben. Ich habe mit Freunden mein Zelt und den Kocher auf die zugefrorenen Seen mitgenommen und bei minus 30 Grad das Nordlicht genossen.
visitrovaniemi.

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