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Retreat im Dunkeln

Nur noch wenige wissen heute, was echte Dunkelheit ist. In der Stadt ist man sich diesem Mangelzustand kaum bewusst. Auf einer polarnächtlichen Skitour in Finnisch Lappland spürt Anitra Rönkkö, wie gut Finsternis tut

Am Holztor des Fjellzentrums Kiilopää am Rande des Urho-Kekkonen-Nationalparks tummelt sich neben lodernden Fackeln und Feuerstellen eine Horde Menschen mit Startnummern auf der Brust. Der Sprecher schickt die Skifahrerinnen und Skifahrer an den Start. Dann verschwinden die Lichtstrahlen ihrer Stirnlampen einer nach dem anderen in der finsteren Ferne.

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Es ist Dezember und ich bin zum ersten Mal in meinem Leben in Saariselkä für eine Skifahrt der besonderen Art. Zur Zeit der winterlichen Polarnacht, auf Finnisch »Kaamos« genannt, veranstaltet die finnische Outdoor- Organisation Suomen Latu ein Ski-Event in Kiilopää, etwa zehn Kilometer vom Wintersportort Saariselkä entfernt. Zum Programm gehören nicht nur Skirennen verschiedener Klassen, sondern auch eine gemütliche Tourengruppe. Ziel sind hier keine neuen Rekorde, sondern die Strecke am Ende überhaupt absolviert zu haben. In der Tourenklasse schaffe auch ich es, die Natur in Ruhe zu genießen – und insbesondere die Finsternis.

Nach landläufiger Meinung ist Dunkelheit vor allem etwas Schlechtes. Sie wird gleichge- setzt mit Müdigkeit, Depression und Monstern. Auch ich habe sie früher als zermürbend empfunden. Das änderte sich auf meiner Lapplandreise im Vorjahr. Ich mag die Dunkelheit. Und damit meine ich nicht die Schwärze über der Großstadt, in die sich chaotisch blinkende Reklamelichter mischen. Ich mag die Finsternis des Nordens: dort, wo sich die Schatten im Mondschimmer scharfkantig auf der Schneedecke abzeichnen.

Versunken im künstlichen Licht

Der Dezember in Saariselkä in der Gemeinde Inari ist bekannt für seine intensiven Polarnächte. Heute ist der Tag nur knapp fünf Stunden lang. Die Sonne verharrt irgendwo hinter dem Horizont. Der Himmel erscheint in den Morgenstunden in Schwarztönen, die sich im Laufe des Tages ins Blaue färben. An klaren Wintertagen kann der Himmel an rosa Zuckerwatte hinter gepuderten Baumspitzen erinnern.

Bereits in den düsteren Morgenstunden mache ich mich auf zur Loipe, die eigens für den Lauf hier in Kiilopää gezogen wurde. Gemeinsam mit meiner Freundin Marja geht es zunächst Richtung Niilanpää. Ganz zur dor- tigen Hütte schaffen wir es jedoch nicht, denn die Strecke biegt vorher am Birkenhain ab und wir geben acht, bei der plötzlichen Abfahrt nicht im Bach zu landen.

Dunkelheit wird gleichgesetzt mit Müdigkeit, Depression und Monstern.

Obwohl Marja und ihr Mann Kari vordergründig zum Skifahren da sind, zieht sie auch die Dunkelheit der lappländischen Wildnis hierher. In ihrer Heimatstadt Oulu könne man diese so gar nicht erleben, beteuert Kari. Oulu ist kein Sonderfall. Das Problem ist schon von der Luft aus gesehen ein globales. Nächt- liche Satellitenbilder der NASA zeigen, wie die Ostküste der Vereinigten Staaten, Japan und Westeuropa in künstlichem Licht versinken. Die Helligkeit über den Großstädten lässt sich schon mit bloßem Auge über mehrere hundert Kilometer am Horizont erkennen.

Marja und ich erreichen den Sivakkaoja- Windschutz, an dem freiwillige Helfer gerade Stärkungen für die Teilnehmenden vorbereiten. Doch bevor es ans Essen geht, müssen wir erst noch eine weitere Runde von fünf Kilometern zurücklegen. Die Loipe verläuft kurz entlang des Ruijanpolku, seinerzeit einer der wichtigsten Verkehrswege Lapplands. Über diese Route gelangte man damals, als es noch keine befestigten Straßen gab, zu Pferd und Fuß vom Bottenwiek in die norwegisch-lappländische Finnmark. Im hügeligen Wald erspähen wir hier und da in der Dämmerung, für die Region typisch, natürlich getrocknetes, abgestorbenes Kiefernholz. Es ist Tag, aber irgendwie auch nicht. Mehrere Stunden lang bleibt der Himmel düster, bevor er sich einer tiefen Dunkelheit ergibt, die man in der Stadt so nicht kennt. Dunkelheit ist zu einem verschwindenden Naturschatz geworden. Wie konnte das nur passieren?

Am besten kann diese Frage Jari Lyytimäki, führender Forscher des finnischen Umweltamts, beantworten, der gemeinsam mit Forscherkollege Janne Rinne ein Buch über das Umweltproblem Lichtverschmutzung geschrieben hat. Als Lichtverschmutzung bezeichnet man künstliches Licht, das am falschen Ort zur falschen Zeit scheint. »In den letzten 70 Jahren hat die Nutzung von elektrischem Licht zugenommen. Wir mögen Licht, das ist Fakt. Im Vergleich zu vielen Tieren ist das menschliche Auge nicht besonders gut an Dunkelheit angepasst. Wir wollen uns nicht von ihr einschränken lassen«, sagt Jari. Licht, ob natürlich oder künstlich, ist zweifelsohne eine gute Sache. Manch- mal aber wird Helligkeit zu eifrig eingesetzt.

Schlechte Lichtplanung raubt uns den Seelenfrieden und die Sterne.

Lichtmasten an Radwegen blenden häufig zu grell, Reklametafeln flackern, auch wenn sie niemand sieht. Wohngebiete, Scheinwerfer, Häfen und Flugzeuge geben rund um die Uhr Licht ab. Die größten Quellen sind Hausbeleuchtung und Verkehr.

Wo ist der Sternenhimmel hin?

Schlechte Lichtplanung raubt uns den Seelenfrieden und die Sterne. Nachts kann man auf dem Land bis zu 3 000 Sterne sehen. In Helsinki erstrahlen nur ein paar der hundert hellsten Himmelskörper. Über 70 Prozent der Finnen leben in Gegenden, in denen die Milch- straße mit bloßem Auge nicht erkennbar ist. Auch ich bin eine davon. Es ist verrückt, nicht einmal sagen zu können, ob mich das stört. Ich habe fast vergessen, dass dieser milchweiße Schleier am Nachthimmel existiert, weil er hinter künstlichem Licht schwer erkennbar ist.

Der Durchmesser der Milchstraße beträgt über 100 000 Lichtjahre. Das heißt, dass Licht über 100 000 Jahre brauchen würde, um von der einen Seite zur anderen zu gelangen. Wie ergreifend die Vorstellung ist, dass in diesem Streifen Milliarden Sterne existieren – und hier bin ich, ein winziger Punkt auf der nördlichen Erdhalbkugel.

Die Verbindung zu den Sternen tragen wir übrigens alle in uns.In seinem Buch Das Universum für Eilige beschreibt Astrophysiker Neil deGrasse Tyson, dass jedes Atom unseres Körpers auf den Urknall zurückzuführen ist und sich einst im Kern der Riesensterne befand, deren Explosion sich vor über fünf Milliarden Jahren ereignete. Ein spannender und tröstlicher Gedanke, dass wir aus Sternenstaub sind. Die eigenen Probleme fühlen sich unbedeutend an, wenn man sich den Sternen widmet.

Die historische Finnmark-Route führt uns zurück zum Sivakkaoja-Shelter, wo die Freiwilligen nun heißen Saft und Piroggen ausgeben. Die Flammen küssen den schwarzen Boden des Kaffeekessels über dem Feuer, das gegen den düsteren Himmel noch heller erstrahlt.

Es dauert ungefähr eine halbe Stunde, bis sich das menschliche Auge an Dämmerlicht gewöhnt hat. In der Finsternis sind wir manchmal ängstlich und vergessen dabei schnell, dass die Dunkelheit für Tiere und Insekten lebenswichtig sein kann. Schon ein kleines Licht kann Insekten verwirren. Sie wissen dann nicht mehr, wo oben und wo unten ist. Viele Zugvögel beginnen ihren Flug gen Süden nachts, um Raubtieren zu entgehen. Sie orientieren sich dabei an Mond und Sternen. Erleuchtete Gebäude und Masten stören den Orientierungssinn der Tiere. Vermutlich wird der innere Kompass der Vögel insbesondere durch rotes und weißes Licht manipuliert.

Mit dem Wissen, wie wichtig Dunkelheit für Tiere und Insekten ist, steigt auch ihr Stellenwert. Ungefähr die Hälfte aller Säugetiere auf der ganzen Welt ist im Dunkeln unterwegs. Über 80 Prozent aller Amphibien sind nachtaktiv, denn sie wollen weder im Maul der Raubtiere landen noch in der Sonne verbrutzeln. Aber nicht nur Tiere, sondern auch der Mensch braucht Dunkelheit – oder besser gesagt den Tag-Nacht-Rhythmus. Mit schwindendem Tageslicht läuft im menschlichen Körper die Hormonproduktion an. Melatonin wird ausgeschüttet, das uns dabei hilft, müde zu werden.

Gegen die Polarmüdigkeit hilft Bewegung, und sich bei Tag viel draußen aufzuhalten – wie bei unserer Skifahrt in Kiilopää. Nun neigt sie sich jedoch dem Ende entgegen. Als wir das Holztor passieren, sind wir viele Stunden in der Natur gewesen und haben sie mit allen Sinnen genossen, auch wenn sich die Sonne nicht hat blicken lassen. Wer würde das im polarnächtlichen Lappland auch erwarten? Wir haben Gleichgesinnte getroffen und die behagliche winterliche Dunkelheit am Lager- feuer auf uns wirken lassen.

Zum Abschluss gibt es noch eine heiße Suppe in der Hütte, dann begebe ich mich nach Saariselkä in meine Unterkunft für die Nacht. Es ist schon dunkel und das ist völlig in Ordnung. Die Jahreszeit, vor der mir früher immer gegraut hat, sehe ich heute dankbar als Gelegenheit, die Finsternis in ihrer Schönheit zu genießen.

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