Zurück zur alten Liebe
Für Laura und Constantin wurde ihr Nordic Dream wahr. NORR und Hannes Camper luden die beiden auf einen Roadtrip ein, um ihren Herzensgletscher in Norwegen wiederzusehen.

Eintausendneunhundertfünfundvierzig. Tage, die in etwa vergangen sind, seit unserer ersten Begegnung mit der Naturgewalt des Gletschers Nigardsbreen. Und gleichzeitig etwa die Meter, die zwischen seiner höchsten Stelle und dem Meeresspiegel liegen. Dieser Ort hat sich in unserer Erinnerung festgesetzt als Schnittmenge zwischen Vergänglich- und Unendlichkeit. Mehr als fünf Jahre später kehren wir endlich zurück und möchten dieses Mal auch das Eis des Nigardsbreen erklimmen.
Mit dem Campervan auf der Fjordline-Fähre von Hirtshals nach Langesund verabschieden wir den August. Strahlende Sonne, kühler Wind, glitzerndes Dunkelblau bis zum Horizont. Wolken begleiten unsere Einfahrt nach Norwegen und werfen ihre Schatten auf das Schärengestein. Vor uns liegen über 700 Kilometer mit einigen Zwischenstopps in norwegischer Weite und Wildheit. Und am Ende unserer Route: Der Nigardsbreen.


»Rechts abbiegen, um auf Auszeitwegen zu bleiben«, verkündet das Navi. Wir folgen der Ansage schmunzelnd und schlafen schon am ersten Tag zum Rauschen eines tosenden Flusses ein.
Schluchten und Mythen
Im Blaugrauen eines frühen Morgens schlagen wir die Augen auf. Dichter Nebel hängt in den Tannen und senkt sich bis auf den Fluss hinab. Über den fernen Bergkuppen begrüßt zartes Pastellorange den Tag. Die Sehnsucht nach weiten Horizonten treibt uns zum ersten fernen Ziel, zur beeindruckenden Landschaftsroute Valdresflye. Das Fjellplateau erglüht in goldenem Licht, die Ausläufer des Jotunheimen Nationalparks erheben sich im Hintergrund. Zum Abendessen ein Rundum-Panorama und diese Weite, die uns zuhause so fehlt.

Eine leichte Brise lässt kleine Wellen auf dem See Bygdin entstehen. Das Sonnenlicht tanzt in kurvigen Linien auf den Steinen am Grund. Wir wandern bergauf, kleine Rinnsale fließen gurgelnd und glucksend ins Tal. Wollgras, Schmetterlinge und grasende Schafe begleiten uns. Auf der Fahrt zum Campingplatz begegnen wir einer Rentierfamilie, genau am Wegweiser Sjodalen Hyttetun. Für uns das beste Willkommenskomitee.
Nach einem ausgiebigen Frühstück im Camper unternehmen wir eine kurze Wanderung zur Schlucht Ridderspranget. Wo Ritter Sigvard der Sage nach mit seiner geraubten Braut über den türkisfarbenen Fluss sprang, genießen wir einen zweiten Kaffee zur Symphonie der Natur: Zartgrünes Moos, kunstvolle Flechtenstickereien, massiver Schiefer und feine Gräser – Yin und Yang, Veränderung und Beständigkeit. Ich stehe und beobachte, wie das Wasser fließt, wie es floss, wie es fließen wird.


Erinnerungen an Vergangenes
Am nächsten Tag folgen wir dem einzigen geplanten Umweg unserer Reise: 2017 endete unsere Fahrt an einer Straßensperrung in Mysusæter. Dieses Mal können wir die Mautstraße passieren und der Rondane Nationalpark breitet sich vor uns aus wie ein lebensgroßes Bilderbuch. Bei jedem Schritt knirscht der Kies unter unseren Füßen und formt doch kein konstantes Geräusch – zu oft halten wir inne, fotografieren oder blicken ungläubig auf die Szenerie. Erst hier wird uns wirklich bewusst, dass wir zurück sind, in Norwegen, fünf Jahre später. Damals lag eine dicke Winterdecke auf der Landschaft, verlief am Horizont mit dem Himmel, verbarg Wege und Berge, hüllte alles in sanftes Watteweiß. Wir versuchen uns den visuellen Gegensatz aus den Augen zu reiben. Aufgebauschte Wolken ziehen nur knapp über uns vorbei, lassen schroffe Berge aufblitzen und wieder verschwinden.
Die Wattedecke ist einem Herbstkostüm gewichen, wie es nur die Natur schneidern kann. Senfgelb und Rostorange, Granatrot und Salbeigrün diesseits des Flusses, Aubergine, warmes Kastanienbraun und das Fernblau der Berge jenseits.


Auch hier begleiten uns Flüstern und Gurgeln, das Wasser reist mit uns durch dieses unfassbare Land. Nach etwas mehr als 6 Kilometern erreichen wir die Hütte Rondvassbu, stellen unsere Schuhe neben die der anderen Wanderer und sinken in bequeme Polstersofas. Behütet von eiszeitlich geformten, 2000 Meter hohen Bergen entdecken wir unsere Lieblingspeise dieses Trips: Warme Waffeln mit Butter und Gudbrandsdalsost, dem traditionellen Braunkäse aus Norwegen. Auf dem Rückweg formen die Gipfel schwarze Scherenschnitte, liegen düstere Regenwolken über goldgelbem Sonnengras.
Wir folgen den Orten, die wir vor fünf Jahren am liebsten gewonnen haben, wie Perlen an einer Schnur auf unseremWeg zum Eis. Am Bispen Campingplatz legen wir einen Ruhetag ein. Noch gibt es diese Plätze, an denen die Zeit sich nicht fortzubewegen scheint. Im Gegenlicht schwirren unzählige Insekten zwischen den Kiefern. Vom Bett aus gucke ich in den dunkler werdenden Himmel, während unsere Wäsche auf einer quer durch den Camper gespannten Leine trocknet. Bald werden wir auf dem Eis des Nigardsbreen stehen, noch fühlt es sich an wie ein ferner Traum.
Zimtschnecken und Nordlichter


Bevor wir in die Stichstraße zum Gletscher abbiegen können, liegt noch der höchste Gebirgspass Nordeuropas vor uns. Wir legen einen kurzen Halt bei der Bäckerei in Lom ein. Und als wir mit einem Gefrierfach voller Zimtschnecken auf die Landschaftsroute 55 einbiegen, ahnen wir nicht, welches Highlight uns auf dem Sognefjellet erwarten wird. Am höchsten Punkt der Route, auf 1.434 Meter Höhe, steht seit fast 100 Jahren die Sognefjellshytta, im Winter wird sie oft völlig vom Schnee verschluckt. Wir kommen mit dem Tagesmanager Øve ins Gespräch, der uns darin bestärkt die Nacht hier oben auf dem Fjell zu verbringen. Denn in der vergangenen Nacht tanzten hier die Polarlichter.

Am Mefjellsvatnet machen wir es uns mit Zimtschnecken gemütlich und genießen die Ruhe. „Stille kann auch Sprache sein“ sagte der Philosoph Byung-Chul Han. Während gleichmäßige Pinselstriche den Himmel erst in Pastellfarben, dann nach und nach in immer dunklere Blautöne tauchen, wandelt sich warm strahlender Herbsttag zu lautloser Nacht und erzählt vom ewigen Kreislauf. Das Himmelszelt legt eine Sternendecke über uns. Wir fühlen uns ewig weit weg von allem. Fröstelnd und gähnend erwägen wir den Rückzug in unseren warmen gemütlichen Camper, als es über der Bergsilhouette plötzlich blassgrün schimmert. Kälte und Müdigkeit sind vergessen, immer intensiveres Grün meandert über den Himmel. Das Nordlicht formt Kurven und Wellen, scheint wahrlich zu tanzen, dann weisen purpurne Strahlen in die Dunkelheit. Schließlich formt sich ein leuchtender Ring und spiegelt sich im See vor uns, bevor er langsam wieder verblasst.
Von den Felsen ins Eis
Mit Marte Meland, Naturguide im Besucherzentrum Breheimsenteret, wandern wir am nächsten Tag durch die Moränenlandschaft. Die Siedlung Nigard (dt. Neun Höfe) wurde einst vom Eis begraben, fast bis zum Besucherzentrum reichte die Gletscherzunge im Jahr 1748, der Zeit ihrer größten Ausdehnung. Das ganze Tal Eis, mehrere hundert Meter dick. Bis heute bewegt der Nigardsbreen sich – und damit fast 10 Prozent der gesamten Eismasse des Jostedalsbreen – knapp 1,50 Meter am Tag talabwärts. Durch den geringeren Zufluss vom Eisplateau zieht er sich dennoch weiter und weiter zurück. Knapp 200 Höhenmeter werden wir vom Ufer des Nigardsbrevatnet bis zum Eis wandern müssen, das seit damals insgesamt über 4,5 Kilometer zurückgewichen ist.

Das Klirren von Metall reißt mich aus den Gedanken. Mane, Tourguide von Jostedalen Breførarlag, drückt uns Steigeisen und Eispickel in die Hand. Doch zuerst eine kurze Bootsfahrt über den vom Moränenrücken gestauten See. Fährmann Sebastian stammt aus Nordschweden und ist wegen seiner Freundin, einer norwegischen Künstlerin, hierher gezogen. Er sei dankbar für den ruhigen Job und werde ihn wohl noch eine Weile machen, berichtet uns Sebastian, während er den Steg ansteuert. Ich blicke auf die flatternde Norwegenflagge am Bootsheck, dann auf die Akustikgitarre, die neben ihm liegt und nicke dem Captain wortlos zu.

Letzte Anstrengungen zum Ziel
Über Geröll und Felshügel, Planken und Leitern geht es bergauf; Gletscherwasser rauscht ins Tal und fließt weit unter uns in das eucalyptusgrüne Delta. Ein letztes steiles Stück, bevor wir das Basecamp des Nigardsbreen erreichen: Mane verteilt Klettergurte, Karabinerhaken und Seile und erklärt uns mit welchen Knoten wir die Steigeisen anlegen. In Landschaften wie diesen fühlt sich der Chilene zuhause. Seit 2015 ist der Nigardsbreen sein Büro; solange das Eis für Touren erreichbar bleibt, bleibt auch er.
Dicht hinter ihm erklimmen wir als Seilschaft schmale Grate und ins Eis gehauene Stufen, blicken in blauleuchtende Eistunnel, sehen Luftblasen in tiefblauen Gletscherspalten aufsteigen, wo der Druck das Eis weiter verdichtet. Aus einer Eiswand ein Rinnsal – kaltes, klares Gletscherwasser. Wir kosten davon, beschließen eine Flasche abzufüllen und werden damit den besten Kaffee der Reise brühen. Über 10.000 Schritte folgen wir Mane in wenigen Stunden, knapp 500 Meter wandern wir auf den Gletscher. Eine kleine Ebene tut sich vor uns auf. Zeit für eine Mittagspause. Mane quittiert unsere Erdnussbutter-Bananen-Stullen mit einem Grinsen, bevor er selbst ein paar Brote auspackt. Als ich ein Eisstück probieren will, stelle ich beeindruckt fest, dass selbst das Oberflächeneis zu hart zum Beißen ist.


Mit dem Gletscherbonbon beginnt der Abstieg. An steileren Partien müssen wir tief in die Knie gehen und uns dabei nach hinten lehnen. Was lustig aussieht, verspricht sicheren Halt. Ein letzter Adrenalinschub, als wir eine Gletscherspalte überspringen.Dieser Ort lässt physische Erinnerungen entstehen: Wie ich meinen Fuß ins Eis drücke, winzige Teilchen, die schimmernd durch die Luft fliegen, wie es gleichzeitig warm und kalt ist. Ich frage mich, was sich beständiger anfühlt: Das feste 12 Meter dicke Eis unter mir oder die unerbittliche Sonne, die mich meine Augen zusammenkneifen lässt? Wir blicken in das weite grüne Tal und begreifen, statt nur zu wissen: Alles hier wurde vom Eis geformt. Die gewaltigen Kräfte sind sichtbar. Die Endlichkeit von Allem. Die Unendlichkeit von Allem. Unfassbare Zeitspannen. Marte sagt, diese Zeitspannen seien das Abstrakte, das die Menschen so schwer verstünden. Dass gerade in Jahrzehnten geschieht, was eigentlich Jahrtausende dauert. Dass man den Gletscher erleben muss, um ihn zu verstehen. Was wir sehen, sei nur das letzte Bild.
Rückweg durch gewandelte Welten

Bis in die Dunkelheit sitzen wir am Lagerfeuer und lauschen dem Knistern ohne zu reden. Das Erlebte hallt nach und füllt den Abend. Als wir unseren langen Heimweg beginnen, schickt der Winter seine ersten Vorboten. Eisiger Wind empfängt uns auf der Valdresflye, Café und Sami- Hütte sind geschlossen. Nach 11 Tagen finden wir uns in einer völlig gewandelten Welt wieder. Der Sommer ist vergangen und hat die strahlenden, lauten Farben mit sich genommen. Ein gedimmter Herbst begrüßt uns; alles ist ruhig, erhaben, mit einem magischen Hauch von Abgeschiedenheit überzogen. Wir essen ein letztes Mal Waffeln. Es beginnt ein Regen, der erst morgen enden wird.

Laura Droße und Constantin Gerlach haben uns von ihrem nordischen Traum überzeugt und das von NORR und Hannes Camper verloste Abenteuer im Campervan mit selbst gewählter Route durch den Norden gewonnen. Auch 2023 wird NORR wieder euren Nordic Dream erfüllen. norrmagazin.de/nordicdream
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