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Der Tanz des Winters

Schnee berührt die Seele von Schlittenhunden und bringt sie zum Tanzen. Doch wie viel Zukunft hat dieser Sport? Ein Besuch im norwegischen Valdrestal bei Musherin Marit-Beate Kasin und ihren Vierbeinern.

Da fliegt sie. Winzig klein und kaum auszumachen am grauen Himmel. Es ist Ende Oktober und sie wurde lange herbeigesehnt. Die erste Schneeflocke ist ein kleines Versprechen, an dem so große Hoff- nungen hängen. Für die kleine Rim ist es das erste Mal, dass sie Schnee sieht. Sie weiß noch nicht, dass diese winzigen, nassen Flocken ihr ganzes Leben bestimmen werden; dass sie der Grund sind, warum sie hier ist.

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Valdres ist eine 5406 km² große Landschaft im zentralen südlichen Norwegen, die sich zwischen Gudbrandsdal und Hallingdal befindet. Valdres liegt im Südwesten der Provinz Innlandet oberhalb des Sees Sperillen.

Der Huskywelpe ist eines der jüngsten Mit- glieder im Team Vinterdans (dt. Wintertanz), der Schlittenhundefamilie von Marit-Beate Kasin. Zusammen mit ihrer Lebensgefährtin Susana hat sich die Norwegerin vor zehn Jahren für ein Leben als Schlittenhundeführerin, auch Musher genannt, entschieden und ist mit ihren ersten Alaskan Huskys nach Valdres gezogen, einer Region in Südnorwegen, die zwischen Oslo und Bergen liegt und für ihre schneereichen Winter bekannt ist.

Mose, die Mutter von Rim, zählt mit ihren sechs Jahren zu den erfahrenen Schlittenhunden. Sie weiß, wie es ist, Verantwortung für die anderen Hunde zu übernehmen. Sie kennt den Zustand, wenn Marit auf dem Schlitten an ihre Grenzen gerät und sich allein auf sie verlässt. Sie weiß auch, wie es sich anfühlt, so erschöpft zu sein, dass sie nicht mal mehr das kleinste Stück Rentierfleisch aufnehmen kann. Wenn sie nur schlafen möchte, aber Marit sie aufweckt, noch viel erschöpfter unschlaftrunkener als sie selbst, und sie flehend anschaut und darum bittet, noch ein wenig weiterzulaufen. Doch Mose weiß auch, dass jetzt die Zeit gekommen ist, in der sie viele kostbare Stunden mit Marit verbringen wird.

Wenn der Schnee die Landschaft in eine weiße Zuckergusswelt verwandelt, gibt es für das Schlittenhundegespann kein Halten mehr.

Schneeflocken als Verbündete

Schnee bedeutet eine Zeit voller Energie. Die Kälte erlaubt den Huskys, stundenlang zu laufen, ohne zu überhitzen. Sie lässt sie ihr ganzes körperliches Potenzial entfalten und bringt ihre Seelen zum Leuchten. Trinken müssen sie kaum. Ein paar Happen Schnee enthalten genug Wasser. Auch im Schlaf sind die Flocken, in die sie sich eingraben, ihre Verbündeten.

Kälte erlaubt den Huskys, stundenlang zu laufen, ohne zu überhitzen.

All das liegt für Rim noch in ferner Zukunft. Ob sie sich für den Schlittensport eignet, wird sich noch zeigen. Nicht jeder Alaskan Husky ist dafür geboren, Schlitten zu ziehen, und bereit, die mentale und physische Belastung zu ertragen. Die Hündin Piper zum Beispiel ist bereits seit 10 Jahren ein wichtiger Teil von Vinterdans, doch die Tage, die sie vor einem Schlitten verbracht hat, lassen sich an einer Hand abzählen. »Piper konnte wohl nie begreifen, warum andere Hunde sich freiwillig diesen Strapazen aussetzen«, schmunzelt Marit. Aber sie hat dennoch einen festen Platz in Marits Herz, so wie jeder neue Wurf, der hier das Licht der Welt erblickt. »Als Nanny ist Piper die beste Spielkameradin der Welpen und falls diese die Freude, die der Schnee mit sich bringt, noch nicht erkannt haben – Piper ist die erste, die es ihnen zeigt«, erzählt Marit.

Streicheleinheiten dürfen dabei niemals fehlen.

Wege durch die neue Welt

Es dauert etwas, bis der Schnee seine volle Kraft entfaltet und sich über der Heimat von Mose, Piper, Rim und dem ganzen Rudel aus- breitet. Doch im November ist das Valdrestal wie verwandelt. Wenn die vielen kleinen bewaldeten Berge und kargen Hochebenen gänzlich vom Schnee bedeckt sind und sich auch auf den vereisten Flüssen und Seen eine dünne Schicht aus Flocken legt, dann eröffnen sich für Hund und Mensch neue Wege. Dann ist es, als wäre eine andere Welt geboren – ihre Welt, in der sich Marit und ihre Hunde auf menschenleeren Spuren bewegen.

Doch die Saison beginnt lange vor dem ersten Schnee. Im Herbst startet das Team sein Training mit kleinen Distanzen. Schon bald steigert sich das Pensum. In den Hochphasen sind es weit über 100 Kilometer am Tag, die das Hundegespann zurücklegt. Für die großen Rennen müssen sie diese Etappenlängen über Tage hinweg laufen, mit nur wenigen Stunden dazwischen, um sich auszuruhen.

In den letzten fünf Jahren hat sich Marit vom Neuling zur Mitfavoritin im Langstreckenbereich etabliert. Das wichtigste Rennen für sie und viele andere Musher findet im März in Nordnorwegen statt. In Alta, im Herzen der Finnmark, startet der Finnmarksløpet. Die schnellsten legen die 1 200 Kilometer lange Distanz in sieben Tagen zurück. Nach dem Start sind die Musher auf sich allein gestellt. Nur in den Checkpoints können sie sich etwas ausruhen, während Tierärzte das Wohl der Hunde überprüfen. Vor ihnen liegen Strecken, die in ihrer Unberechenbarkeit nur von ihrer Schönheit übertroffen werden.

Menschen wie Marit zieht der Schnee derartig in den Bann, dass sie bereit sind, jeglichen Komfort aufzugeben, den Winter in all seinen Facetten zu spüren und in sich aufzunehmen, soweit der Körper es ertragen kann. Aber auch auf anderen Ebenen müssen viele Entbehrungen in Kauf genommen werden. Allein die Kosten, die das Halten der Hunde verursacht, sin immens. Marit hat zwar einige Sponsoren, die sie mit Futter unterstützen, dennoch ist die finanzielle Belastung enorm. »Allein die Teil- nahme am Finnmarksløpet kostet etwa 5 000 Euro«, erzählt Marit. Das beinhaltet Startgeld, Essen, Benzin, Übernachtung und Material, zum Beispiel für Kufen und Hundesocken. Viele Musher geben nach ein paar Jahren auf, verkaufen Hunde, Schlitten und manchmal gleich Haus und Hof. Alles nur, um etwas später wieder von vorne anzufangen.

Zu den vielen Widersprüchen des Sports zählt auch, dass der Lebensstil aus einer Sehnsucht nach Natur geboren wird, sein ökologischer Fußabdruck das aber nicht widerspiegelt. Bevor Marit auf Rennen wie dem Finnmarksløpet starten kann, muss ihr Team 1 800 Kilometer von Valdres nach Alta mit dem Auto und Anhänger fahren. Das ist noch kurz im Vergleich zu den norwegischen Mushern, die am Iditarod, dem längsten Schlittenhunderennen der Welt, in Alaska, teilnehmen. Und das obwohl der Sport wie kein anderer vom Klimawandel betroffen sein wird. In Alaska ist das bereits spürbar. Wegen Schneemangels musste der Start des Iditarods mehrmals ins nördlicher gelegene Fairbanks verlegt werden.

Die erste Schneeflocke ist ein kleines Versprechen, an dem so große Hoffnung hängt.

Heiße Sommer bedeuten, dass sich die Hunde schlechter erholen. Stürmische Winter sorgen für gefährliche Konditionen auf den Strecken.

Endlichkeit einer Ära

Oft verbringen die Hunde, die für die Kälte und zum Laufen gezüchtet wurden, in der Nebensaison viel Zeit in ihren Gehegen. Mit knapp 30 Hunden zählt Vinterdans noch zu den kleineren Zwingern. Es ist Marit und Susana ein großes Anliegen, alle Hunde jeden Tag ausreichend zu beschäftigen und mindes- tens einmal am Tag frei laufen zu lassen. Doch beide sind berufstätig und selbst mit einem Doghandler und ein paar Freunden ist das nicht immer einfach. An den trainingsfreien Tagen lässt Marit die Hunde über ihren Hof tollen, spielt mit ihnen und massiert sie. Manchmal passiert das erst im Mondschein, wenn sie nach einem harten Arbeitstag als Journalistin für die Lokalzeitung nach Hause kommt. Die Hunde danken es ihr trotzdem. Und wenn man die Freude auf ihren Gesichtern sieht und wie die Vierbeiner die Hügel rauf- und runterpreschen und sich immer wieder an Marit schmiegen, weiß man, wie wichtig diese Zeit für sie ist.

Die letzte Flocke des Winters findet eine warme Hundenase und schmilzt dahin.

Wie viele Winter lang es noch möglich sein wird, dass die Alaskan Huskies ihre Lieblings- menschen in Schlitten über die weißen Weiten ziehen können, und was der Klimawandel für das Leben von Rims Nachfolgerinnen bedeutet, wird die Zukunft zeigen. Rim hat in diesem Winter jedenfalls viel über den Schnee gelernt, in all seinen Formen. Auch, wie sie sich Socken am schnellsten wieder auszieht, Hundegeschirr präzise zerbeißt, so laut und verrückt wie möglich bellt, bevor sie endlich losrennen kann, und all den anderen Schabernack, den Junghunde so gerne treiben.

Dann ist sie plötzlich da. Es ist April und Marit und den Hunden kommt es vor, als hätte die Saison gerade erst begonnen. Doch sie ist nicht aufzuhalten: die letzte Schneeflocke des Winters gleitet über die Baumwipfel, findet eine feuchte Hundenase und schmilzt dahin.

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