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Logenplatz mit Blick aufs Eis

Das neu eröffnete Ilulissat Icefjord Centre in Grönland nimmt seine Besucher mit in die Welt der Eisberge und zeigt, wie der Klimawandel seine Spuren in der Region hinterlässt.

Scheinbar schwerelos schweben die gigantischen Riesen durch das arktische Meer. Manche von ihnen sind so hoch wie Wolkenkratzer, spitz nach oben zulaufend, rau und schroff. Andere wiederum sind flach und weit ausufernd – wie Inseln, die auf magische Weise ihren angestammten Platz verlassen haben und sich nun im Takt der Meeresströmung hinaus in die offene See bewegen. Nicht weniger beeindruckend ist das Farbspiel der Kolosse: Von grellweiß bis hin zu türkisblau schimmernd reicht das Spektrum der Eisberge, die durch den Fjord von Ilulissat schwimmen und im Schein der Mitternachtssonne einen eindrucksvollen Kontrast zum tiefblauen Ozean an der grönländischen Westküste bilden. Millionen Tonnen Eis sind es, die täglich ins offene Meer treiben. Einst löste sich hier auch jener Brocken, der die Titanic zum Sinken brachte.

Die Kultur der Inuit ist auf die rauen Bedingungen im engen Zusammenspiel mit dem Eis zugeschnitten

»Der Ilulissat-Eisfjord ist mit seinen riesigen Eisskulpturen einer der spektakulärsten Orte, um Eis zu beobachten. Es ist nicht nur seine Schönheit, die ihn so besonders macht, sondern auch die Tatsache, dass sein Eis eine Geschichte erzählt: Die Geschichte, wie der Klimawandel unsere Welt verändert«, sagt Elisabeth Momme. Sie ist Leiterin des in diesem Sommer eröffneten Ilulissat Icefjord Centres – einem Museum, das den Menschen die Geschichte des Eises näherbringen möchte. »Wir hoffen, dass diejenigen, die unser Museum und den Eisfjord besuchen, mit dem Bewusstsein nach Hause gehen, dass der Mensch sich nicht über die Natur stellen kann – dass Landschaft und Mensch eins sind, dass wir uns um die Natur kümmern müssen.« Die Dänin wuchs in Grönland auf und kehrte für ihre Tätigkeit als Museumsdirektorin nach fast 40 Jahren zurück. »In dieser Zeit hat sich viel verändert. In meiner Jugend gab es hier so gut wie keinen Tourismus. Heute wird Ilulissat förmlich überrannt. Deshalb ist es wichtig, dass die Menschen mehr über unsere sensible Natur lernen.«

Wie eine Schneeeule mit ausgebreiteten Flügeln mutet das Gebäude an, das sich sanft in die Natur einschmiegen soll.

In der Tat gehören das beschauliche Ilulissat und der Ilulissat-Eisfjord zu den touristischen Hotspots Grönlands. Über 40 Kilometer Länge und eine Breite von sieben Kilometern erstreckt sich der Fjord, der 2004 von der Unesco zum Weltnaturerbe erklärt wurde. 30 000 Besucher kommen jedes Jahr, um das Schauspiel der kalbenden Gletscher zu bewundern. »In Ilulissat leben aber gerade einmal 4 500 Menschen – entsprechend groß ist die Belastung, insbesondere, da sich die Besucher auf die kurzen Sommermonate konzentrieren. Mit dem Icefjord Centre wollen wir darüber aufklären, wie sensibel die Region ist«, sagt Elisabeth. Alleine zwischen 2016 und 2018 verzeichnete Grönland bei den Übernachtungen ausländischer Gäste einen Zuwachs von über zehn Prozent. Die Zahl der Kreuzfahrtpassagiere stieg sogar um 89 Prozent.

Schneeeule mit stählernen Flügeln

Die Idee, in Ilulissat ein Museum zu eröffnen, entstand bereits Anfang der 2000er Jahre. Um der mit der Ernennung zum Unesco-Weltnaturerbe einhergehenden Verpflichtung gerecht zu werden, gründeten die dänische Vereinigung Realdania, die grönländische Regierung und die lokale Gemeinde Avannaata 2015 eine Partnerschaft mit dem Ziel, ein Besucherzentrum mit Museum zu errichten. 2016 gewann die dänische Architektin Dorte Mandrup die Ausschreibung für das Projekt. Das Ergebnis ist ein 16 000 Quadratmeter großer Bau, der an eine Schneeeule mit ausgebreiteten Flügeln erinnert. Der Grund für die geschwungene Form: Aerodynamik. Das Architektenteam entwarf im Windkanal ein Gebäude, das verhindern soll, dass sich bei starkem Westwind Schneeverwehungen auftürmen. Zudem sollte sich der Bau so harmonisch wie möglich in die Natur einfügen.

Einst löste sich hier auch jener Brocken, der die Titanic zum Sinken brachte.

Im Inneren des Bumerang-förmigen Zentrums befinden sich ein Café, ein Museumsshop und eine 4 300 Quadratmeter große Ausstellungshalle. Diese ist das Herzstück des gesamten Ilulissat Icefjord Centres. In ihr wird »The Story of Ice« präsentiert, eine permanente Multimediainstallation, die die Geschichte des Eises über Hunderttausende von Jahren nachzeichnet. Die von den JAC-Studios in Kopenhagen entworfene Ausstellung umfasst alte Eisbohrkerne, eine Klanginstallation, die an einen Fluss erinnert, der sich durch eine arktische Landschaft bewegt, und eine beeindruckende Fotoausstellung des grönländischen Eisschildes. »Mit der Lage so nahe am Eis lernen die Besucher nicht nur, sondern sie haben auch einen Logenplatz mit Blick aufs Eisspektakel«, sagt Elisabeth.

Gletscher auf dem Rückmarsch

Welch drastische Einblicke dieses Eisspektakel im Hinblick auf den Klimawandel gibt, zeigt dabei der nahe gelegene Gletscher Sermeq Kujalleq. Der 80 Kilometer lange Eisriese kauert am Ende des Ilulissat-Eisfjords und gilt mit einer Fließgeschwindigkeit von 44 Metern pro Tag als das aktivste Eisband auf der gesamten Nordhalbkugel. Die Masse der Eisberge, die sich pro Jahr von seiner Gletscherzunge ablösen, summiert sich auf bis zu 35 Milliarden Tonnen. Einzelne Eisberge können dabei mehrere Kilometer lang und bis zu einem Kilometer hoch sein, während sie langsam durch den Fjord mäandern, ehe sie schließlich in die Diskobucht vor Ilulissat fließen.

Doch der Gletscher befindet sich seit Jahren auf dem Rückzug – und das mit immer schnellerer Geschwindigkeit: Alleine von 2002 bis 2012 hat sich der Sermeq Kujalleq um mehr als zehn Kilometer zurückgezogen – und sein Schmelzwasser trägt zum Anstieg der Weltmeere bei. Es kommt daher nicht überraschend, dass auch das Thema Nachhaltigkeit bei der Planung des Gebäudes eine große Rolle gespielt hat: Die beheizten Teile des Zentrums verwenden recycelte Energie aus dem Wasserkraftwerk der Stadt, um CO2-Emissionen zu vermeiden.

Das Icefjord Centre ist nicht nur als Besucherzentrum und als Museum geplant – in den kommenden Jahren soll es sich auch zu einem Zentrum für die globale Klimaforschung entwickeln. Jenseits der Ausstellungsräume befinden sich im Gebäude auch Forschungsbüros, in denen Wissenschaftler aus aller Welt forschen und Daten sammeln können. Zudem gibt es ein Klassenzimmer im Freien und Pläne für kollaboratives Lernen für Jugendliche und Studierende weltweit. Doch auch anderweitig gibt es viele Möglichkeiten zu lernen: Die Promenade auf dem Dach ist ein Ort, um Sonnenuntergänge und das Nordlicht zu beobachten. Wenn man die Stufen an einem Ende des Daches hinabsteigt, kann man eine Wanderung auf einem Pfad unternehmen, der zu Ruinen einer Inuit-Siedlung führt, um mehr über die Geschichte der lokalen Bevölkerung und ihr Leben mit dem Eis zu erfahren.

Dem Tanz der Nordlichter aus dem dem Icefjord Centre zuzusehen, ist ein besonders eindrucksvolles, spektakuläres Ereignis.

Im Takt mit dem Eis

»Die Kultur der Inuit ist auf die rauen Bedingungen im engen Zusammenspiel mit dem Eis zugeschnitten. Die Technologien, die die Inuit für Jagd, Fischfang, Herstellung von Kleidung und die Fortbewegung entwickelt haben, sind offensichtliche Beispiele dafür, dass Mensch und Natur schon immer untrennbar miteinander verbunden waren«, sagt Elisabeth. Das Ilulissat Icefjord Centre soll das erste von insgesamt sechs Besucherzentren im gesamten Land werden, die in den kommenden Jahren entstehen sollen, um nachhaltigen Tourismus in Grönland zu fördern. »Alle werden verschiedene Themen beleuchten: das Leben in Grönland, Jagd, Landwirtschaft oder Geologie«, sagt Elisabeth. »Und hier in Ilulissat eben das Eis. Es bildete schon immer die Grundlage sowohl der Natur als auch des menschlichen Lebens – das möchten wir bewahren«, sagt sie und verweist mit einer ausholenden Armbewegung auf die vor der Küste vorbei treibenden Eisberge – die gigantischen Riesen, die scheinbar schwerelos durch das tiefblaue arktische Meer schweben.


Ilulissat ist eine Küstenstadt in Westgrönland, die für den Ilulissat-Eisfjord und die riesigen Eisberge in der Diskobucht, die sich von den nahen Gletschern ablösen, bekannt ist. Mit rund 4 500 Einwohnern ist Ilulissat die drittgrößte Stadt des Landes.

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