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Symphonie des Dorfes

Mit ihrem Hof Nästegården haben sich Matilda Kamb und Paul Bothén den Traum von einem naturnahen Leben auf dem Land erfüllt – und dabei einen kleinen Ökokonzern mit mehreren Standbeinen geschaffen.

Man kann sich gut vorstellen, wie es war, als die Biologin und Gärtnerin Matilda Kamb damals ihr heutiges Zuhause das erste Mal erlebte. Wie sie nach ihrer Fahrt durch die hügelige Bilderbuchlandschaft von Skaraborg, Västergötland, in den kleinen Feldweg einbog, an dessen Ende, inmitten von Feldern und Weiden, der Nästegården lag. Wie sie durch das gusseiserne Tor zwischen alten Eichen in den Innenhof schlenderte und vor dem so wunderbar holzverzierten Eingang stand. Und wie in ihr der Traum heranwuchs, die kleine Zweizimmerwohnung im Göteborger Stadtteil Majorna gegen diesen kleinen Hof aus dem 19. Jahrhundert zu tauschen, die alten Gebäude und den verwilderten Garten aus dem Dornröschen- schlaf zu wecken und mit ihrer kleinen Familie hier ein neues naturnäheres Leben zu starten.

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Matilda nimmt sich viel Zeit für ihren grossen Garten, der zu jeder Jahreszeit gehegt und gepflegt werden möchte.

Matildas Partner Paul »Palle« Bothén brauchte auch nicht groß überzeugt zu werden. Zu attraktiv war die Vorstellung, der Enge der Stadt zu entfliehen, zu schön der Gedanke, sich auf dem Nästegården zu verwirklichen. Im nahe gelegenen Örtchen Vara hatte gerade das neue Konzerthaus eröffnet und suchte einen Produzenten – ein perfekter Halbtagsjob für den studierten Komponisten. »Es ging alles ganz schnell und auf einmal saßen wir da, mit unserem Kleinkind, zwischen Umzugskisten in einem alten Bauernhaus mitten auf dem Land, wo wir niemanden kannten, mit ziemlich vagen Vorstellungen, wie das Leben zukünftig wohl aussehen würde«, erzählt Palle.

Auf einmal saßen wir da, in dem alten Bauernhaus mitten auf dem Land.

Vierzehn Jahre ist das jetzt her. Das Klein- kind ist jetzt Teenager und verbringt die Wochenenden am liebsten bei Freunden in Göteborg. »Hannah-Lee ist die Einzige in unserer Familie, die sich wirklich nach der Stadt sehnt. Irgendwelche Spuren müssen ihre ersten Lebensmonate in Majorna offensichtlich hinterlassen haben«, lacht Palle, der wie Matilda und ihre jüngere Tochter Ester mit Leib und Seele hier auf dem Land zu Hause ist. Sie haben sich eingerichtet – in dem alten Hof, in der Umgebung, in der Gemeinschaft von Skaraborg.

Das Bed & Breakfasts hat zwei gemütliche Gästezimmer und einen schönen Frühstücksraum.

Liebe zum Detail

Alle drei Wohngebäude, die den Innenhof umschließen, sind inzwischen mit viel Zeit und Liebe restauriert. Die Familie wohnt im Haupthaus, Nord- und Südflügel werden an Gäste vermietet. Auf den Wiesen grasen Värmland- schafe, die Katzen Miles und Bessie schleichen zwischen Mauern, Büschen und Gartenstühlen umher, Windhündin Jade wartet auf Besucher. Neben dem Bed & Breakfast bietet Matilda im Garten und der umliegenden Natur »Green- Rehab«-Kurse für Menschen mit Burnout und Depression an, während Palle seit 2017 ein Unternehmen betreibt, das Solarzellen auf Stall- und Scheunendächern in der Umgebung installiert. Neues Leben auf dem alten Hof, wobei das Thema Nachhaltigkeit in allen Bereichen eine zentrale Rolle spielt.

Wir hatten den Anspruch, alles so originalgetreu wie möglich wiederherzustellen.

»Wir hatten von Anfang an den Anspruch, alles so originalgetreu wie möglich im Stil des 19. Jahrhunderts wiederherzustellen und einzurichten. Insofern kaufen wir selten Neues, sondern versuchen, passende gebrauchte Möbel und Materialen zu nden«, sagt Matilda, während sie in der alten Küche des Nordflügels – rund um die alte aus Stein gemauerte Feuerstelle mit dem eisernen Ofen – das Frühstück für die Gäste vorbereitet. »Die Türen hier haben wir auf einem verfallenen Hof in der Nachbarschaft gefunden und den Besitzer einfach gefragt, ob es okay ist, sie mitzunehmen. Zusammen mit ein paar alten Planken, die wir auch noch gut verwenden konnten.«

Es braucht Zeit, im Internet, auf Flohmärkten und in verlassenen Gebäuden nach Originalteilen zu jagen, sich in die Stilepoche einzulesen, zu recherchieren und praktisch zu lernen, wie man richtig restauriert. Doch sie ist es offensichtlich wert. Es scheint, als hätten sich die beiden ihre Arbeit mit dem Hof genauso vorgestellt – und als seien sie stolz darauf. Auf der Kommode im Esszimmer stapeln sich die Einrichtungsmagazine, die mit schönen Bildern und verzückten Worten über den Nästegården berichten – und in denen Palle gerne den Restaurierungsprozess mit seiner künstlerischen Tätigkeit als Komponist vergleicht: Auch hier gehe es ja darum, viele kleine Teile zu einem harmonischen Ganzen zusammenzufügen. Der Nästegården als Symphonie, die wohl nie ganz vollendet sein wird.

Rehabilitation im Grünen

Während in den ersten Jahren der Arbeitsschwerpunkt vor allem darauf lag, Gebäude bewohnbar zu machen, Solarzellen auf dem Scheunendach und eine moderne Biobrennstoffanlage im Keller zu installieren oder Weideflächen für die Schafe herzurichten, kann sich Matilda inzwischen mehr und mehr ihrem Herzensprojekt widmen: dem Garten. Neben dem Haus sind Kräuter- und Gemüsebeete entstanden, mittendrin ein geräumiges Gewächshaus mit offenem Kamin. Dieser Teil des Nästegårdens spielt auch in Matildas »Green-Rehab«-Kursen eine wichtige Rolle: »Das Programm heißt offiziell ›Natur-unter- stützte Rehabilitierung‹, kurz NUR, und wird von der Krankenkasse finanziert«, erklärt sie. »Ziel ist es, durch praktische Arbeit und andere Aktivitäten draußen in der Natur Gesundheit, Lebensqualität und Leistungsvermögen unter den Teilnehmern zu steigern.« 2018 hatte sich Matilda bei einer öffentlichen Ausschreibung als NUR-Kursanbieterin beworben und dafür ein Team mit verschiedenen Kompetenzen zusammengestellt: eine Arbeitstherapeutin, eine Physiotherapeutin, eine Sozialarbeiterin, eine Försterin, schließlich sich selbst als Gärtnerin und Biologin.

»Wir mischen ›grüne Aktivitäten‹ wie Naturwanderungen und Gartenarbeit mit ›weißen Aktivitäten‹ wie Mindfulness-Übungen und medizinischem Yoga. Alle Aktivitäten sind leicht zu bewältigen und jeder kann ganz nach eigenem Vermögen und eigener Kraft daran teilnehmen«, beschreibt Matilda ihre Rehab- Kurse, die über drei Monate an drei Vormittagen der Woche stattdfinden. Morgens sammeln sich die maximal acht Teilnehmenden zu Entspannungsübungen im Südflügel des Nästegårdens. Es folgen zwei Aktivitäten im Garten oder in der Umgebung des Hofes, dazwischen »Fika«-Pausen mit ökologischen Snacks, die man oft selbst angebaut und geerntet hat. »Auf diese Weise nutzen wir die positiven Effekte der Natur für das Wohlbefinden. Gleichzeitig richten wir den Fokus auf das Gesunde im Menschen, indem wir physische und psychische Stressfaktoren so weit wie möglich fernhalten«, so die Kursleiterin. »Und das fällt hier auf dem Land natürlich viel leichter als im urbanen Umfeld mit seiner Unruhe, der oft schlechteren Luft und den vielen Leuten.«

Naturbewusste Wanderungen durch die hügelige Kulturlandschaft von Skaraborg sind ein Teil von Matildas grünen Rehab-Kursen.

Dass nicht nur die Rehab-Teilnehmer, sondern auch Stadtmenschen wie Matilda und Palle selbst hier in Skaraborg so problemlos ankommen konnten, liegt sicher auch an der Gegend an sich. Es fällt leicht, sich hier wohlzufühlen, in dieser besonderen Kombination aus Natur- und Kulturlandschaft zwischen Vänern und Vättern mit ihren sanften Hügeln, über die sich ein Mosaik aus Feldern und Wäldern zieht, mit den gepflegten Landhäusern, Höfen und Dörfern, zu denen kurvige Alleen mit alten Bäumen am Wegesrand führen.

Der Mensch ist präsent – und das schon lange. Einen knappen Kilometer vom Nästegården entfernt liegt der Ekornavallen mit über 4 000 Jahre alten Gräbern aus der Jungsteinzeit und Bronzezeit. Am Hof vorbei führt der historische Pilgerpfad, auf dem schon seit Ewigkeiten Gläubige zwischen den Klöstern von Varnhem und Gudhem unterwegs sind. Er ist heute populärer denn je unter Wanderern, von denen viele auf dem Nästegården über Nacht Station machen oder ihre Tagesaus üge von hier aus starten.

Kreative Community

Ein weiterer wichtiger Anziehungspunkt ist der nahe gelegene Hornborgasjön, einer der bedeutendsten Vogelseen Europas. Im Frühling tanken hier Zugvögel aus ganz Nordeuropa Kraft für ihren Weg nach Süden. Insbesondere der »Trandansen«, der Tanz der Kraniche, lockt massenweise Ornithologen und Fotografen aus der ganzen Welt an.

Palle meint, dass der See auch die Bevölkerung in seiner Umgebung mitgeprägt hat: »Es gibt viele Naturfreunde, die sich rund um das Ufer niedergelassen haben. Oft gut ausgebildet und sehr engagiert.« In den neunziger Jahren wurden landwirtschaftliche Flächen in Ufernähe, die man einst durch Senkung des Wasserspiegels künstlich geschaffen hatte, renaturiert. »Da hat es hier eine richtige Bewegung gegeben aus Aktivisten und Wissenschaft- lern, die mithalfen, Feuchtgebiete wiederherzustellen. Die Gemeinschaft, die dabei entstanden ist, spürt man noch heute.«

Doch die Gegend lockt nicht nur Naturenthusiasten. Auch Künstler, Handwerker und andere Kreative finden hier die nötige Ruhe und Inspiration für ihre Arbeit. Wie zum Beispiel der Maler Göran Löfwing, der 1996 zusammen mit seiner Frau Linda einen kleinen Hof in Persberg, knapp drei Kilometer vom Nästegården entfernt, kaufte und dort sein Atelier einrichtete. Die Vernissagen wurden so populär, dass die gelernte Köchin Linda beschloss, ein Café in der alten Scheune zu eröffnen.

Inzwischen ist Löfwings Atelier sowohl ein beliebtes Restaurant und Bed & Breakfast für Skaraborg-Besucher als auch ein Ort für die Lokalbevölkerung, an dem man sich in der Bar sieht und bisweilen gemeinsame Projekte vorantreibt: »Vor ein paar Jahren haben wir uns regelmäßig getro en und geplant, wie wir unsere Häuser und Höfe am besten ans Trink- und Abwassersystem anschließen und dabei direkt Glasfaserverbindungen verlegen«, erzählt Palle. »Rund siebzig Eigentümer aus der Gegend waren schließlich in das Projekt involviert. Wenn man so etwas zusammen macht, wird es günstiger und einfacher für alle – und es stärkt die Gemeinschaft.« Orte wie Löfwings Atelier und kreative Unterneh- mertypen wie Linda und Göran seien enorm wichtig, weil sie die Voraussetzungen dafür schaffen, dass was passiert. »Das macht gerade den Unterschied zu vielen anderen ländlichen Regionen, wo alles einfach nur bleibt, wie es ist. Und wo die Menschen dann schließlich aus Unzufriedenheit wegziehen.«

Es fällt leicht, sich in dieser Natur- und Kulturlandschaft wohlzufühlen.

Kein Wunder, dass auch der Nästegården in dieser Nachbarschaft so gut gedeihen konnte. Die vier Zimmer des Bed & Breakfasts sind auch außerhalb der Kranichsaison gut gebucht und Matildas grüne Rehab-Kurse voll belegt. Palles Solaranlagen sind inzwischen auf fast hundert Dächern der Umgebung installiert und gerade wurde ein von ihm geplanter und ausgerüsteter Sonnenenergiepark eröffnet. Ester, die im fünf Kilometer entfernten Broddetorp in die Grundschule geht, und Hannah-Lee, die jeden Tag zehn Kilometer nach Stenstorp fährt, haben – auch geografisch – einen großen Freundeskreis. Und die Schafe schauen auch ganz gesund und glücklich in die Gegend. Vieles von dem, was sich die junge Familie damals zwischen den Umzugskisten erträumt hat, ist in Erfüllung gegangen, während manches ganz anders geworden ist als gedacht. Hat sich der Schritt gelohnt?

»Es ist schwer zu sagen, ob das Leben auf dem Land besser ist als in der Stadt. Manche Dinge muss man loslassen. Stattdessen kommen andere«, schreiben Matilda und Palle auf ihrer Website. »Die wohl wichtigste Einsicht, die das Dasein auf dem Land einem gibt, ist, dass sich der Mensch nicht loskoppeln kann von einem großen Kreislauf, in dem die Natur die Regeln bestimmt, auch wenn wir selbst eigentlich am liebsten die Hauptrolle spielen würden. Und dass es im Hausflur definitiv schmutziger ist.«

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