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Starthelfer für Schnäbel

Im Herbst landen Tausende junge Papageientaucher auf Heimaey. Jede Nacht begeben sich Einheimische auf die Suche nach ihnen – sie aufzusammeln und ins Meer zu entlassen, ist ein Volkssport auf der isländischen Insel.

Mit ihrer Taschenlampe durchforstet Sandra Sif Sigvardsdóttir die Hecken und Gebüsche und sucht die Terrasse des fremden Grundstücks ab. »Im September läuft hier niemand nackt in der Wohnung rum«, sagt sie schmunzelnd, während sie in der Dunkelheit in dem Garten steht. Gemeinsam mit ihrer Schwester Berglind ist sie auf Papageientaucherstreife, in Heimaey, dem einzigen Ort auf der gleichnamigen Insel des Archipels vor der Südküste Islands. Es ist kurz nach Mitternacht. Eine Stunde zuvor stand Berglind noch im Kittel im örtlichen Krankenhaus und kümmerte sich um Patienten. Nun ist ihr Augenmerk auf die hilfebedürftigen Jungvögel gerichtet.

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Die Westmännerinseln sind eine Inselgruppe vulkanischen Ursprungs 10 bis 30 Kilometer südlich der isländischen Küste, die aus 14 Inseln, 30 Schären und 30 Felsen bestehen.

Plötzlich raschelt es im Gebüsch. Sandra Sif eilt hinüber. Einen Augenblick lang ist sie verschwunden und nur das vom Licht ihrer Taschenlampe erhellte Geäst gibt zu erkennen, wo sie den Erdboden absucht. Wenig später tritt sie wieder hervor. Mit einem fest in den Händen umklammerten Papageientaucher verlässt sie sichtlich zufrieden das fremde Grundstück. In der Einfahrt begegnet ihr die Bewohnerin, die gerade heimkehrt und sie freundlich grüßt. »Die Leute wissen, dass auch in ihren Gärten nach den Vögeln gesucht wird und sehen es nicht so eng«, erzählt Sandra Sif.

Die Stadt hat etwas mehr als 4 000 Einwohner – die im Vergleich zu den Vögeln die Minderheit bilden: Während der Sommermonate beherbergt Heimaey 1,5 Millionen in den vulkanischen Klippen nistende »Lundis«, wie die Tiere auf Isländisch heißen. Die Insel hat damit die größte Papageientaucherkolonie der Welt.

Die Leute wissen, dass in ihren Gärten nach Vögeln gesucht wird.

Das restliche Jahr verbringen die Vögel auf dem Meer. Sie leben monogam und kehren jedes Jahr zum gleichen Nistloch zurück, wo das Weibchen nur ein Ei legt.

Gefahren und Klimawandel

Wer am Fuß der steil abfallenden Felswände steht und die unzähligen Papageientaucher in luftigen Höhen über sich betrachtet, kann sich nur schwer vorstellen, dass sie vom Aussterben bedroht sind. Doch seit 15 Jahren ist die Zahl der Eier und jungen Papageientaucher rückläufig. Während vier Wochen im August und September verlassen die Jungen in den Nachtstunden ihre Bruthöhlen, um sich hinaus auf den Nordatlantik zu begeben. Dabei orientieren sie sich am Mond. Tausende jedoch lassen sich von den Lichtern der Kleinstadt fehlleiten. Alleine würden sie den Weg auf das Meer nicht bewältigen und im Labyrinth zwischen den Häusern verenden. Einmal auf der Straße gelandet, kommen die Jungvögel mit ihren gedrungenen Körpern und kurzen Flügeln nicht aus eigener Kraft wieder in die Höhe. Zudem lauern am Boden allerhand Gefahren. Das gerade erst begonnene Leben nähme ein jähes Ende, wenn Heimaeys Einwohner in dieser Zeit nicht viele freiwillige Nachtschichten einlegen würden.

Es sind jedoch nicht die verwirrenden Lichter der Stadt, die für den Rückgang der Population verantwortlich sind. Der Biologe Erpur Snær Hansen erinnert sich an die Jahre nach der Jahrtausendwende mit vielen toten Küken. Er berichtet, dass die Lodde, ein kleiner arktischer Fisch, der früher die Hauptnahrung der jungen Papageientaucher bildete, seine Laichplätze um Nordisland verlassen hat und im Jahr 2003 weitgehend verschwand. Seitdem haben Sandaale als neue Nahrungsquelle für die Jungen gedient. Mit diesen kleinen Fischen in den Schnäbeln sah man die Elterntiere fieberhaft zu ihren Jungen fliegen.

Haltet sie hoch, zeigt ihnen das Wasser und werft sie in die Luft.

Zwei Jahre später begann es allerdings rund um die Westmännerinseln auch für den Sandaal düster auszusehen. Der Grund für den Zusammenbruch der beiden Fischbestände ist größtenteils auf die steigende Meerestemperatur im Zuge des Klimawandels sowie die um zwei Wochen verzögerte Phytoplanktonblüte zurückzuführen. Auch sind kleine Fischarten von kommerziellem Interesse, da sie zu Mehl gemahlen als Futtermittel dienen. Steht keine ausreichende Nahrung zur Verfügung, brüten Papageientaucher nicht, geben ihr Gelege auf oder die Jungen verhungern. »Während einer Saison vor zehn Jahren haben vier von fünf Vögeln ihre Eier zurückgelassen«, sagt Erpur Snær. Er ist besorgt, dass der Rückgang in Zukunft noch drastischer sein wird.

Neue Traditionen

Seit jeher ernähren sich die Menschen auf den Westmännerinseln von Fisch, Papageientauchern und deren Eiern. Früher war das Fangen, das eine lange Tradition hat, zwei Monate im Jahr erlaubt. Aufgrund des Rückgangs der Population dürfen die Tiere seit einigen Jahren nur noch während einer Woche im August gejagt werden. »Außerdem dürfen nur Vögel, die in der Nähe der Klippen kreisen, gefan- gen werden, weil diese keine Jungen haben. Papageientaucher mit Schnäbeln voller Fische sind auf dem Weg zur Nisthöhle«, erzählt Sandra Sif.

Plötzlich fliegt etwas über unsere Köpfe hinweg und landet mit einer Bauchlandung im hohen Gras. Es erinnert an einen schlaffen Handball, wenn ein junger »Lundi« plump in der Böschung landet. Sandra Sif nähert sich vorsichtig. Schon als Kind half sie beim Einsammeln der verirrten Jungvögel. Genug Zeit, um ihre eigene Technik zu verfeinern. Mit der Taschenlampe blendet sie den Vogel, um sich ihm vorsichtig nähern zu können. Dann packt sie mit festem Griff schnell zu, bevor er sie wahrnimmt und entkommen kann. Allerdings lässt er dies nicht ohne Protest über sich ergehen, sondern kratzt und beißt Sandra Sif auf der kurzen Strecke zum Auto kräftig in die Hand. Ihr Fahrzeug ist mit Kartons bestückt und aus einigen dringen dumpfe Geräusche. »Wir setzen höchstens vier in einen Karton, sodass jeder seine eigene Ecke hat und es für die kleinen Racker nicht zu eng und stressig ist«, sagt Sandra Sif. »Kartons sind harte Währung auf Heimaey und werden das ganze Jahr über gesammelt«, erzählt sie. »Auf Arbeit hört man Kollegen oft ›Halt, nicht wegwerfen!‹ rufen«, schmunzelt Berglind.

Mit der Taschenlampe blendet sie den Vogel, um sich ihm zu nähern.

Auf der Fahrt durch die Stadt verrät die langsame Geschwindigkeit anderer Autos, dass deren Fahrer der gleichen Beschäftigung nachgehen. »Eigentlich ist das Wetter heute zu gut. Am besten ist es, wenn es etwas windig ist und regnet. Dann werden die Jungen leichter vom Rand ihres Höhlenlochs geweht und sie sind in der Dunkelheit einfacher auszumachen, da die Regentropfen das Licht auf ihrem Federkleid reflektieren«, erklärt Berglind.

Wenn jede Nacht Hunderte von Jungen über den ganzen Ort verteilt eine Bruchlandung hinlegen, fällt es den Schwestern schwer, abends ins Bett zu gehen. »Schlafen können wir im Oktober«, sagt Berglind. »Selbst die Kinder sind so eifrig, dass wir sie manchmal in der Früh wecken sollen, damit wir noch vor Schulbeginn eine Runde fahren können«, berichtet Sandra Sif. Ihre Hingabe für die Vögel und ihre Beharrlichkeit bei der Suche haben den Schwestern den Rekord für die meisten gesammelten Papageientaucherjungen beschert: 261 haben Sandra Sif und Berglind im vergangenen Jahr gerettet, im Jahr zuvor waren es sogar noch einige mehr.

Neues Leben auf See

Das Leben der Papageientaucher, die die Nacht in Kartons in der Garage verbracht haben, beginnt vielleicht erst am nächsten Tag so richtig. Doch bevor es so weit ist, werden die Vögel gewogen, um festzustellen, ob sie für sich selbst sorgen können. Nachmittags finden sich dazu auch die Nachbarskinder im Garten ein, um mitzuhelfen. »Wenn sie weniger als 220 Gramm wiegen oder nach einer Landung im Hafenbecken mit Öl verschmutzt sind, bringen die Kinder sie ins Sea Life Center«, berichtet Sandra Sif. Die Vogelstation im meeresbiologischen Zentrum Sea Life Trust am Hafen kümmert sich um geschwächte Jungvögel, bis sie für ein Leben in Freiheit bereit sind.

Begleitet von zahlreichen Kindern mit Ziehwagen, auf denen sich Kartons stapeln, bewegen sich Sandra Sif und Berglind zur Küste. Ihr Ziel ist leicht auszumachen, denn viele der Einwohner von Heimaey stehen bereits am Steilufer, um ihre nächtlichen Funde auf das Meer zu entlassen. Die Vögel werden einzeln herausgenommen und erscheinen plötzlich riesig in den Kinderhänden. »Haltet sie hoch, zeigt ihnen das Wasser und werft sie dann in die Luft«, hört man Sandra Sif rufen. Sie lächelt, als die Jungvögel nach oben aufsteigen und sieht ihren Schützlingen noch lange nach.

Die Vögel erscheinen plötzlich riesig in den kleinen Kinderhänden.

Am Ende der Saison haben alle Freiwilligen zusammen – wie im Jahr zuvor – fast 8 000 Papageientaucher von den Straßen Heimaeys gerettet. Auch im nächsten Jahr wird die passionierte Patrouille von Heimaey wieder ausrücken, um den gefiederten Jungtieren in die Lüfte zu verhelfen.

Westmännerinseln

Die karge Inselgruppe erlebte im Jahr 1963 einen Vulkanausbruch, aus dem sich eine neue Insel, Surtsey, bildete, die seitdem Islands südlichster Punkt und die fünfzehnte Insel des Archipels ist. Bei den Bewohnern von Heimaey hat sich zehn Jahre später eine Serie von Vulkanausbrüchen in das kollektive Gedächtnis eingeprägt, während derer Hunderte von Häusern durch Asche und vulkanisches Material zerstört wurden. Gleichzeitig bildete sich neue Landmasse und die Insel vergrößerte sich um 20 Prozent auf 15 Quadratkilometer. Die meisten Bewohner zogen zurück und bauten die Stadt wieder auf. Heute setzen sich viele von ihnen für das Überleben der jungen Papageientaucher ein.

Umtriebige Taucher

Papageientaucher sind Zugvögel. Die isländische Population zieht im Herbst in die Labradorsee und hält sich im Winter südlich von Grönland auf, bevor sie zum Brüten nach Island zurückkehrt.

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