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Wenn die Raubtiere kommen

Die großen Raubtiere nehmen in Schweden zu und breiten sich gleichzeitig in neuen Gebieten aus. Das schafft beispielsweise im Ökotourismus Chancen, führt aber auch zu immer grösseren Herausforderungen.

Oben im Wäldchen weht ein leichter Wind, der die hartnäckigen Schwärme von Mücken, die in dieser Julinacht summen, einigermaßen fernhält. Der Wald bildet eine dunkle Mauer um die Lichtung. Der Schein des Vollmonds reicht nicht bis zu den Bäumen. Es ist nach Mitternacht und wir versuchen, so ruhig wie möglich zu sitzen. Naturführer Simon Green, der heute die Wolfstour des Veranstalters WildSweden leitet, hat in diesem Jahr bisher keine Wölfe in dem Gebiet gesichtet, das sich in der Nähe von Bergslagens Skinnskatteberg befindet, aber er glaubt, dass ein paar Wölfe mit Jungtieren ein Territorium in der Nähe bezogen haben. Die Lizenzjagd im Winter, bei der sechs Wölfe im nahe gelegenen Haraldsjör-Territorium geschossen wurden spaltete das Wolfsrudel, aber frühere Reviere werden normalerweise schnell durch junge Wölfe ersetzt, die neue Territorien bilden.

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Simon bereitet sich vor, bevor er ein langgezogenes Heulen von sich gibt. Der Wald ist totenstill und nichts ist zu hören. Ein paar Minuten vergehen, bevor die Antwort von einem Wolfspaar kommt; ein Heulen wenige hundert Meter entfernt – gefolgt von dem kleinen, fast gähnenden Heulen von Wolfsjungen.

Hart getroffene Wildnis

Die Wölfe zeigen sich nie, aber das Heulen selbst vermittelt ein pures Wildnisgefühl, das kaum zu übertreffen ist. Für Simon, der seit vielen Jahren ausgebildeter Naturführer ist, bedeutet der Wolf etwas Besonderes, auch wenn er Wölfe bislang nur ein einziges Mal in freier Wildbahn gesehen hat. »Es steht für die Unberührtheit und ist das Herzstück der skandinavischen Natur«, sagt er.

Simon beschreibt den Wolf als Top-Raubtier, das andere Arten wie Elche und Füchse in Schach hält, denn Schwedens Wölfe benötigen etwa 120 Elche in jedem Gebiet – das rund tausend Quadratkilometer umfasst –, was für Forstunternehmen eine positive Nachricht ist. Waldbesitzer im Allgemeinen, sehen die Elche oft als großes Problem für ihre Baumsetzlinge an.

Steigende Zahlen

Der Wolfsstamm nimmt in Schweden zu und besteht mittlerweile aus rund 500 Tieren, wobei sich die Art nach Süden ausbreitet, gleichzeitig aber bekanntlich auf neue Genetik aus Russland und Finnland angewiesen ist. Mittlerweile sieht es auch für die anderen großen Raubtiere gut aus, Anfang des 19. Jahrhunderts gab es kaum noch Bären, Luchse und Vielfraße in Schweden. Neben ihnen breitet sich nun auch der Steinadler wieder im Land aus. In nur wenigen Jahrzehnten sind die Raubtiere von der Liste der bedrohten Tierarten verschwunden und haben sich nach Süden ausgebreitet, wo es jetzt Vielfraße auch südlich der Rentierzuchtgebiete gibt und sich einige Wolfsgebiete in Skåne etabliert haben. Während neue Erhebungen zeigen, dass immer mehr Schweden großen Raubtieren gegenüber positiv eingestellt sind und sich eine Mehrheit vorstellen kann, in ihrer Nähe zu leben, bedeutet die zunehmende Zahl von Wölfen und großen Raubtieren in den schwedischen Wäldern aber auch Probleme für beispielsweise die Nutztierhaltung oder die Jagd mit Hund.

»Wir verstehen alle Seiten des Problems, aber Wölfe sind auch ein wichtiger Bestandteil, um Besucher in die schwedische Natur zu locken«, sagt Simon und erklärt, dass die Stimmen der Wolfsgegner immer noch stark sind. Gleichzeitig tragen die Wolfstouren aber zu einer physischen Präsenz in den Wäldern bei, die das Wildern von Wölfen potenziell erschwert, da mehr Augen auf den Feldern und in den Wäldern illegale Aktivitäten automatisch erschweren.

Magnet für Ferntouristen

Touristen kommen aus aller Welt, um Wölfe und andere Raubtiere in Schweden hautnah zu erleben, auch aus Ländern wie den USA, wo es schon viele Wölfe gibt, und wo die Gäste nicht verstehen können, dass nur 500 Wölfe in Schweden leben. »Sie sagen, wir haben ein so großes Land«, berichtet Simon. Dass die Wolfsjagd die Naturführer berührt, steht außer Frage, denn die Tiere bilden so starke Erlebnisse für die Gäste. »Es ist traurig zu wissen, dass ein ganzes Revier einfach so ausgelöscht werden kann«, sagt Simon.

Doch trotz Lizenzjagd und Wilderei auf Wölfe nimmt die schwedische Wolfspopulation kontinuierlich zu, und auf dem Kontinent breiten sich die Wolfsrudel schnell in neue Länder und Gebiete aus, beispielsweise in Deutschland, Frankreich und auch in Dänemark. In Västra Götaland nimmt die Wolfspopulation im östlichen Teil der Provinz zu, während die Luchspopulation stabil ist (die meisten Tiere leben in Sjuhärad) und seit einigen Jahren Steinadler in der Provinz nisten. 

Nelly Grönberg, Bestandsverwalterin für Großraubtiere bei der Jagdabteilung in Vänersborg, ist seit zwanzig Jahren mit dem Raubtierthema beschäftigt. »Es ist ein hartnäckiges Problem mit einer großen Bandbreite zwischen den Extremen der Meinungsskala. Es wurde viel getan, um das Verständnis füreinander zu erhöhen, es fällt mir schwer, mehr Lösungsoptionen zu sehen«, antwortet sie auf die Frage, wie der Konflikt mit großen Raubtieren verbessert werden kann.

Aber wie viele Wölfe und andere grosse Rautiere kann Schweden und spezielle Västra Götaland eigentlich vertragen? »Das hängt von der Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln und der Haltung von Haustieren in den einzelnen Teilgebieten des Landkreises ab«, sagt Nelly Grönberg und fährt fort: »In Gebieten mit wenigen Herden domestizierter Tiere sind die Probleme geringer, Jagdhunde können jedoch immer noch von Wölfen und Luchsen angegriffen werden.«

 In letzter Zeit kam es unter anderem in Orust und Tjörn zu Wolfsangriffen, wo im vergangenen Sommer eine Reihe von Schafen getötet wurden, und Anfang des Sommers 2022 wurden Schafe von Wölfen außerhalb von Falköping gerissen und Luchse nahmen Lämmer mit. Um den Schaden für Tierbesitzer zu begrenzen, verleiht die Bezirksverwaltung in Västra Götaland Materialien zur Wolfsabwehr wie Ton- und Lichtsysteme, die kostenlos aufgestellt werden können. Es gibt auch weitere Untersuchungen darüber, wie das Risiko von Raubtierangriffen verringert werden kann, wo es auch einen regionalen Managementplan gibt, der von der Wildtiermanagementdelegation des Landkreises beschlossen wurde. »Er muss aktualisiert werden, und dies wird geschehen, sobald der nationale Bewirtschaftungsplan fertig ist«, schließt Nelly Grönberg.

Bär aus nächster Nähe

Für diejenigen, die Schwedens größtem Raubtier nahe kommen möchten, organisiert WildSweden auch Bärenbeobachtungen in den Wäldern des nordwestlichen Gästrikland. Außerhalb des Bärenverstecks ​​hält der Nadelwald den Atem an. Ein Specht, der auf einer Kiefer neben dem Versteck landet, beginnt nach Insekten zu picken und bricht die Stille. Im Gegensatz zu Wölfen, die nur selten am Versteck gesichtet oder in der Nähe heulen gehört werden, liegt die Wahrscheinlichkeit, einen Bären zu sehen, bei nahezu hundert Prozent. Im Versteck befindet sich die deutsche Naturforscherin Vanessa Vogel, die den weiten Weg hierher gekommen ist, um Teil des schwedischen Braunbärstammes zu werden.

»Sie tauchen auf, wenn du es am wenigsten erwartest«, flüstert sie. Bald darauf erscheint eine Bärin mit zwei Jungen auf einem Weg, der am Versteck vorbeiführt. Kurz nachdem die Bärenfamilie verschwunden ist, tauchen zwei weitere Bären auf. Einer, ein junger Bärenmann, steht auf und kratzt sich mit dem Rücken an einem Kiefernstamm. »Genau wie Baloo«, kichert Vanessa.

In einem Bärenversteck, in diesem Fall einer kleinen Holzhütte, mitten im Wald zu sein, macht die Nähe zu den Bären echt und ungekünstelt, ein Wildniserlebnis, das auch Besucher aus aller Welt anzieht. »Und auf die wilden Tiere sollte Schweden stolz sein«, sagt Simon Green. »Wir haben eine unglaubliche Natur und Biodiversität mit mehr Arten von Säugetieren und Vögeln, als viele in Schweden kennen«, sagt er. Simons eigenes Lieblingstier, den Luchs, hat er zweimal in den Wäldern von Bergslagen gesehen, einmal für vierzig Minuten.

Sich selbst auswildern

Zurück im Wolfsrevier am Skinnskatteberg geht er auf einem Forstweg, der manchmal von Wölfen geteilt wird, weil Tiere, genau wie Menschen, sich leichter auf Straßen zurechtfinden und so Energie sparen. Plötzlich hält er an und zeigt auf Wolfskot auf der Straße, der Knochenreste enthält und in der Sonne weiß und ausgebleicht ist. Er biegt auf einen kleinen Pfad ab, der in den Mischwald führt, wo ein nackter Stock im Reis steckt, der mit einer Mischung aus Bibergel und Lammolin getränkt ist. Der starke Duft des Stäbchens soll Wölfe zur Fotofalle locken, die um einen gegenüberliegenden Birkenstamm gebunden ist. Simon steckt eine neue Speicherkarte in die Kamerafalle, die die Wölfe der Gegend hoffentlich bald auf einem Foto festhalten wird.

»Aber es sind nicht nur die Wölfe, die die Menschen hierherlocken«, erklärt Simon. Ihm zufolge geht es im Grunde darum, sich selbst zu auszuwildern. Mehr in der Natur zu sein, abzuschalten. »Menschen reisen um die ganze Welt an Orte wie die Serengeti, die Galapagosinseln und den Amazonas, doch einige sagen, dass die Reisen hierher die denkwürdigsten sind, die sie je gemacht haben.«

Als er ins Auto steigt und zurück nach Skinnskatteberg fährt, sieht er, wie ein Tier schnell über den Feldweg in den Busch springt. Es vergeht so schnell, dass Simon kaum erkennen kann, was es ist, aber trotzdem ist er sich seiner Sache sicher. »Habt ihr das gesehen? Vor uns ist gerade ein Luchs, über die Straße gesprungen!«

Schwedens Raubtiere

In Schweden zählen Bär, Vielfraß, Luchs, Wolf und Steinadler zu den fünf großen Raubtieren, die alle unter Schutz stehen. Der Wolf kommt hauptsächlich in den mittleren Teilen Schwedens vor, manchmal aber auch in den nördlichen Teilen und breitet sich vermehrt nach Süden aus. In den 1960er Jahren galt die Art im Land als ausgestorben. Derzeit gibt es schätzungsweise etwa 500 Wölfe und sie sind die Raubtiere, die den größten prozentualen Anstieg verzeichnen. Die Regierung hat entschieden, dass es in Schweden mindestens 300 Wölfe geben muss, damit die Art einen günstigen Erhaltungszustand erreicht. Die Luchspopulation nimmt ebenfalls zu und es wird geschätzt, dass es etwa 1.500 Luchse gibt, die sich in neue Gebiete ausbreiten. Der Vielfraß hat in den letzten Jahren an Zahl zugenommen und breitet sich von den Rentierzuchtgebiet nach Süden und Osten in die Waldgebiete in Värmland und Dalarna aus. Auch Schwedens Braunbären haben trotz eines beträchtlichen Abschusses ein stetiges Wachstum gezeigt, und die Population liegt bei etwa 3.000 Bären. Letztes Jahr wurden in Schweden über 500 Steinadlerreviere gemeldet und die Art breitet sich aus, besonders in den südlichen Teilen des Landes.

Wolfstouren und Bärenbeobachtung gibt es bei wildsweden.com.

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